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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 22.03.2005
Aktenzeichen: 12 A 11342/04.OVG
Rechtsgebiete: LBKG, BGB


Vorschriften:

LBKG § 37
LBKG § 37 Abs. 1
LBKG § 37 Abs. 1 Nr. 1
BGB § 276
BGB § 276 Abs. 2
Zur groben Fahrlässigkeit bei der Verursachung eines Scheunenbrandes durch einen neunjährigen Jungen.
OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

12 A 11342/04.OVG

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Feuerwehrkosten

hat der 12. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 22. März 2005, an der teilgenommen haben

Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Wünsch Richter am Oberverwaltungsgericht Geis Richterin am Verwaltungsgericht Bröcheler-Liell ehrenamtliche Richterin Hausfrau Köber ehrenamtliche Richterin Hausfrau Nickel

für Recht erkannt:

Tenor:

Unter teilweiser Abänderung des aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. März 2004 ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz - 2 K 2208/03.KO - wird der Bescheid der Beklagten vom 4. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Kreisrechtsausschusses bei der Kreisverwaltung B. vom 22. Juli 2003 in vollem Umfang aufgehoben.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die ihm auferlegten Kosten für einen Feuerwehreinsatz.

Der am 29. April 1993 geborene Kläger begab sich am Samstag, dem 17. August 2002, einem heißen Sommertag, zum Bauernhof des Landwirts B. in G., wo er sich öfter aufhielt. Dort half er zunächst beim Stroheinfahren und aß auf dem Hof zu Mittag. Im Anschluss spielte er mit anderen Kindern. Bei einer Wasserschlacht wurde der Kläger nass. Zusammen mit einem Freund wollte er sich anschließend zunächst einen neuen Traktor anschauen, den der Sohn des Landwirts einem Gast zeigte. Auf dem Weg dorthin griff der Kläger in seine Hosentasche, in der sich ein Feuerzeug befand, das er auf einer Kirmes gewonnen hatte. Er führte das Feuerzeug mit sich, obwohl seine Mutter ihm schon einmal ein solches abgenommen hatte. Der Kläger wollte ausprobieren, ob das Feuerzeug nach der Wasserschlacht noch funktionierte. In diesem Moment befand er sich etwa 5 m von den Toren der Scheune entfernt, die mit Stroh gefüllt war. Von dem auf dem Boden befindlichen Stroh hob er einen etwa 10 cm langen Strohhalm auf und zündete ihn mit dem Feuerzeug an. Weil der Strohhalm sehr trocken war, brannte dieser so schnell ab, dass sich der Kläger die Finger verbrannte und den Halm vor Schreck sofort los ließ. Der Strohhalm fiel zu Boden, wodurch das vor der Scheune liegende Stroh Feuer fing. Dem Kläger gelang es nicht mehr, das Feuer mit den Füßen auszutreten. Er rief sofort um Hilfe. Das Feuer gelangte in Sekundenschnelle in die Scheune und setzte diese vollständig in Brand. Zur Brandbekämpfung wurden insgesamt 83 Feuerwehrleute mit Fahrzeugen eingesetzt. Der Gesamtschaden belief sich auf etwa 500.000,00 €.

Mit Bescheid vom 4. März 2003 forderte die Beklagte von dem Kläger Kostenersatz in Höhe von 20.488,20 € für den Einsatz der Feuerwehr. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger sei für den Schaden verantwortlich. Als Neunjähriger habe er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen. Der Kläger habe auch grob fahrlässig gehandelt. Die Gefährlichkeit seines Handelns sei für ihn leicht vorhersehbar gewesen. Da für den Kläger eine Haftpflichtversicherung bestehe, sei er wirtschaftlich leistungsfähig und könne deshalb auch zum Kostenersatz herangezogen werden.

Den Widerspruch wies der Kreisrechtsausschuss bei der Kreisverwaltung B. mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2003 zurück.

Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, er habe nicht grob fahrlässig gehandelt. Für die maßgebliche Altersgruppe der Neunjährigen sei der konkrete Geschehensablauf, der zu dem Brandereignis geführt habe, nicht abzusehen gewesen. Unabhängig davon sei auch die Höhe des geltend gemachten Kostenersatzes zu beanstanden.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage lediglich insoweit stattgegeben, als für das eingesetzte Feuerwehrfahrzeug LF 24 ein Sachkostenbetrag von mehr als 75,00 € pro Stunde festgesetzt worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe den Schaden grob fahrlässig herbeigeführt. Die Gefahr sei für ihn vorhersehbar gewesen. Bei dem vorliegenden Geschehensablauf "Junge spielt mit Feuerzeug in unmittelbarer Nähe eines Strohlagers" handele es sich geradezu um einen Standardfall, mit dem Minderjährigen die Gefahr des Umgangs mit offenem Feuer verdeutlicht werde. Es bestünden keine Zweifel an der Fähigkeit eines neunjährigen Kindes, entsprechend dieser Einsicht zu handeln und demgemäß das Feuerzeug entweder ohne das Anzünden eines Strohhalms oder in erheblicher Entfernung von der Scheune und dem Stroh auszuprobieren. Dies werde aus der thematisch eng verwandten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. Februar 1984 (NJW 1984, 1958 f.) deutlich; dort hätten zwei Minderjährige einen Scheunenbrand verursacht, weil eine von diesen angezündete Kerze umgefallen sei und das Stroh entzündet habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und betont im Wesentlichen, dass ihm der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht gemacht werden könne.

Der Kläger beantragt,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 24. März 2004 den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2003 und den hierzu ergangenen Widerspruchsbescheid des Kreisrechtsausschusses der Kreisverwaltung B. vom 22. Juli 2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

Sie tritt der Berufung unter Hinweis auf das verwaltungsgerichtliche Urteil und ihr erstinstanzliches Vorbringen entgegen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den "Bericht" des Diplom-Psychologen K., H., vom 14. Januar 2005 Bezug genommen.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus den Schriftsätzen der Beteiligten, den Verwaltungs- und Widerspruchsvorgängen sowie den Akten der Staatsanwaltschaft K. 1042 Js 12399/02. Sämtliche Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Die Klage hat in vollem Umfang Erfolg, da der Kostenersatzbescheid der Beklagten vom 4. März 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Kreisrechtsausschusses bei der Kreisverwaltung B. vom 22. Juli 2003 insgesamt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 des Brand- und Katastrophenschutzgesetzes - LBKG - vom 2. November 1981 (GVBl. S. 247) können die Aufgabenträger Ersatz der ihnen durch die Einsatzmaßnahmen entstandenen Kosten von dem Verursacher verlangen, wenn dieser die Gefahr oder den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier schon deshalb nicht vor, weil dem zum Zeitpunkt des Brandereignisses neunjährigen Kläger unter Berücksichtigung des konkreten Geschehensablaufes keine grobe Fahrlässigkeit bei der Herbeiführung der Gefahr oder des Schadens vorgeworfen werden kann.

Grob fahrlässig handelt nämlich nur derjenige, der die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem, ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Dies ist dann der Fall, wenn einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden und dasjenige unbeachtet bleibt, was unter den gegebenen Umständen des konkreten Einzelfalles jedem einleuchten müsste. Dabei bestimmt sich der Begriff der Fahrlässigkeit allerdings nach objektiven und nicht nach personalen individuellen Merkmalen. Bei Kindern ist auf die Verstandesreife abzustellen, die allgemein in der entsprechenden Altersgruppe zu erwarten ist (u.a. BGH, Urteil vom 28. Februar 1984, NJW 1984, 1985 f.; Urteil des Senats vom 28. November 1996 - 12 A 11547/96.OVG -, veröffentlicht in ESOVGRP). Im Sinne dieser so genannten Gruppenfahrlässigkeit kommt es deshalb darauf an, ob ein normal entwickelter Junge im Alter des Klägers (zum Zeitpunkt des Brandereignisses: neun Jahre) hätte voraussehen müssen und können, dass seine Verhaltensweise zu dem Brandereignis führen konnte und er dieser Einsicht gemäß hätte handeln können und müssen. Dies ist nach dem Ergebnis des psychologischen Gutachtens des Diplom-Psychologen K. vom 14. Januar 2005 nicht der Fall.

Der Sachverständige hat im wesentlichen ausgeführt, dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht als erwiesen betrachtet werden könne, der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vollständig auszuschließen sei. Insofern könne zwar wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden, ob ein neunjähriges Kind über das Wissen verfüge, dass die von dem Kläger an den Tag gelegte Handlungsweise gefährlich sei und hieraus leicht ein Brand entstehen könne. Dies unterstellt, sei aber weiter erforderlich, dass ein Neunjähriger in der Situation des Klägers, die zudem durch eine logische Verknüpfung mehrerer verbundener Ereignisse gekennzeichnet sei, dieser Einsicht gemäß hätte handeln können und müssen. Dies jedoch sei eindeutig zu verneinen. Für Kinder mit neun Jahren sei es noch vollkommen typisch, dass sich ihre Aufmerksamkeit absolut und vollständig auf nur einen "Inputkanal" konzentriere. Rücke ein Gegenstand starken Interesses in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, müsse bei einem Neunjährigen erwartet werden, dass er "den Rest der Welt" ausblende. Je stärker das Interesse an dem Gegenstand sei, desto absoluter würden andere Wahrnehmungen selektiert und ausgeblendet. Dies entspreche einem alterstypischen Egozentrismus und der daraus folgenden Selbstüberschätzung. Auf den hier vorliegenden Sachverhalt bezogen hat der Sachverständige erläutert, angesichts der starken Konzentration des Klägers auf die Funktionsfähigkeit des nassen Feuerzeuges sei es jedenfalls äußerst unwahrscheinlich, dass er sich der Gefahr bewusst gewesen sei. Die einzelnen an der Handlung beteiligten Prozesse des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens müssten als durchschnittliche, alterstypische Leistungen angesehen werden. Dies belegt der Sachverständige in tatsächlicher Hinsicht mit dem Hinweis darauf, dass die Mutter des Klägers diesem bereits schon einmal das Feuerzeug weggenommen habe. Wenn der Kläger es dennoch - gewissermaßen verbotenerweise - bei sich getragen habe, müsse es für ihn ein Gegenstand von so großer Bedeutung gewesen sein, für den er der Mutter gegenüber sogar illoyales Handeln in Kauf genommen habe. Dies deute darauf hin, dass das Feuerzeug, nachdem es nass geworden sei, die Aufmerksamkeit des Klägers so sehr auf dessen Funktionstüchtigkeit richtete, dass alle anderen relevanten Gesichtspunkte, also auch die mögliche Gefahr, völlig ausgeblendet blieben. Darüber hinaus weist der Sachverständige darauf hin, dass sich der Kläger häufig und gerne auf dem Bauernhof aufgehalten habe. Es finde sich kein plausibles Motiv, warum der Kläger sowohl seine Beziehung zu dem Bauern und dessen Angehörigen belasten als auch Sanktionen der Eltern auslösen sollte. Bei einem neunjährigen Jungen könne insgesamt erwartet werden, dass er ein solches Risiko nicht durch eine Handlung herbeiführe, die ihm subjektiv als leichtfertig oder fahrlässig erscheine.

Diese Ausführungen des Sachverständigen sind nachvollziehbar und in sich frei von Widersprüchen. Sie gelangen anhand der kinderpsychologischen Bewertung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu einem einleuchtenden Ergebnis. Danach ist es einem neunjährigen Kind in der konkreten Situation, in der sich der Kläger befunden hat, aufgrund seiner altersmäßigen Entwicklung bei unterstelltem Wissen um die Gefährlichkeit seines Handelns nicht möglich, sein Verhalten hieran gefahr- und schadenvermeidend auszurichten. Hieraus folgt zur Überzeugung des Senats, dass dem Kläger der Vorwurf eines grob fahrlässigen Herbeiführens der Gefahr oder des Schadens, für den die Beklagte zudem nachweispflichtig ist, nicht gemacht werden kann. Die gegen das Ergebnis des psychologischen Gutachtens erhobenen Einwände der Beklagten berücksichtigen nicht, dass der vorliegende Fall sowohl durch die Besonderheit einer kausalen Verkettung mehrerer Ereignisse als auch den Umstand gekennzeichnet ist, dass der Geschehensablauf insgesamt mit Blick auf die Bedeutung das von dem Kläger verwendete Feuerzeug mit einem alterstypischen Egozentrismus einherging. Das unterscheidet diesen Fall maßgeblich von dem Sachverhalt, welcher dem von dem Verwaltungsgericht herangezogenen Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28. Februar 1984 (NJW 1984, 1958 f.) zugrunde lag.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 20.225,70 € festgesetzt.

Gründe

Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwertes ergeht gemäß § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes i.V.m. §§ 13, 14 GKG a.F. und berücksichtigt die teilweise Stattgabe der Klage im erstinstanzlichen Verfahren.

Ende der Entscheidung

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