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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 12.08.2008
Aktenzeichen: 6 A 10751/07.OVG
Rechtsgebiete: AufenthG, EGRL 2004/83


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
AufenthG § 60 Abs. 7
AufenthG § 60
EGRL 2004/83 Art. 2 Buchst. e
EGRL 2004/83 Art. 15 Buchst. c
Zur extremen allgemeinen Gefahrenlage bei der Rückkehr eines arbeitsfähigen, männlichen afghanischen Staatsangehörigen zu seinen in der Provinz Paktia lebenden Familienangehörigen.

Subsidiären Schutz gemäß Art. 2 Buchst. e, 15 Buchst. c EGRL 2004/83 kann grundsätzlich derjenige nicht beanspruchen, der keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, im Rückkehrfall beispielsweise in eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu geraten oder einen anderen ernsthaften Schaden zu erleiden.


OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

6 A 10751/07.OVG

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Asylrechts (Afghanistan)

hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. August 2008, an der teilgenommen haben

Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht Hehner Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Frey Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Beuscher ehrenamtlicher Richter wissenschaftlicher Mitarbeiter Biebricher ehrenamtliche Richterin Verkäuferin Büchler

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2006 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße teilweise abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, ein im Jahre 1986 geborener afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit aus der Provinz Paktia, die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - beanspruchen kann.

Der Kläger reiste am 15. Januar 2004 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 8. November 2005 unter Androhung der Abschiebung ablehnte.

Hinsichtlich des seinem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts im Übrigen nimmt der Senat gemäß § 130 b Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug, dessen tatsächliche Feststellungen er sich in vollem Umfang zu Eigen macht.

Der vom Kläger zur Weiterverfolgung seines Begehrens erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG stattgegeben. Zur Begründung des Urteils wurde im Wesentlichen ausgeführt, wegen der in Afghanistan bestehenden unzureichenden Versorgungslage bestehe für den Kläger eine extreme Gefahrenlage; Rückkehrer wie der Kläger gerieten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine nahezu aussichtslose Lage.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, eine extreme Gefahrenlage könne für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Rückkehrer nicht angenommen werden.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Hinweis auf gutachterliche Äußerungen zur Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan. Insbesondere den Gutachten Dr. D... sei zu entnehmen, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan erheblich verschlechtert habe. Das gelte auch für Kabul und dessen Umgebung, in der die Taliban zunehmend Einfluss gewönnen, die Menschen drangsalierten und Mitkämpfer rekrutierten.

Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus der Gerichtsakte in diesem sowie im Verfahren des Bruders des Klägers (A 6 K 11188/04) und der Verfahrensakte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Sie waren ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung wie die Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten übersandten Unterlagenliste aufgeführt sind, und wie die ergänzend in das Verfahren eingeführten Unterlagen über die Situation in Afghanistan.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Anders als das Verwaltungsgericht kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 nicht beanspruchen kann (1.). Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor (2.). Dem Kläger steht auch kein subsidiärer Schutz unmittelbar aufgrund des Gemeinschaftsrechts zu (3.).

1.

Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG -) besteht zu Gunsten des Klägers kein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dass für den Kläger im Rückkehrfall eine solche Gefahr nicht aus individuellen Gründen, die in seiner Person begründet sind, droht, hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt, ohne dass dagegen im zweitinstanzlichen Verfahren Einwände erhoben wurden.

Die Feststellung eines Abschiebungsverbots i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann der Kläger auch nicht wegen allgemeiner Gefahren beanspruchen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine solche Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr), seit mit Erlass des Ministeriums des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2005, der dementsprechende Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder umsetzt, "volljährige, allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Beschlussfassung (24. Juni 2005) noch keine sechs Jahre im Bundesgebiet aufhalten", "mit Vorrang zurückzuführen sind". Diese Sperrwirkung des 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG greift hier ein, ohne dass sie aus verfassungsrechtlichen Gründen einzuschränken ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den früheren Regelungen der §§ 53 Abs. 6, 54 des Ausländergesetzes - AuslG - über den Abschiebungsschutz bei sogenannten allgemeinen Gefahren (vgl. BVerwG, 1 C 2.01, BVerwGE 114, 349), an der das Bundesverwaltungsgericht festhält (BVerwG, 10 B 47.07, juris), ist die verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 AufenthG nur gerechtfertigt, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit (BVerwG, 1 B 291.03, juris) mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen allgemeinen Gefahr dergestalt begegnen würde, dass er gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG zur Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, vgl. etwa 1 B 132.04, juris). In dieser Formulierung ist der hohe Wahrscheinlichkeitsgrad des Eintritts der allgemeinen Gefahr für den jeweiligen Ausländer mit umschrieben, der dessen Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheinen lässt (BVerwG, 1 C 5.01, BVerwGE 115, 1 <9 f.>; 10 B 47.07, juris). Das ist bei einer allgemein schlechten Sicherheits- und Versorgungslage der Fall, wenn der Ausländer alsbald nach seiner Rückkehr in eine lebensbedrohliche Bedrängnis geraten würde, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (OVG B-B, 12 B 9.05, juris). Eine nur "unberechenbare" Sicherheitslage genügt ebenso wenig wie eine "hohe Zahl von Opfern" unter der Zivilbevölkerung oder eine nur "erhebliche Gefahr" (BVerwG, 1 B 121.04, juris). Mit dem Begriff "alsbald" ist kein in unbestimmter zeitlicher Ferne liegender Termin gemeint (BVerwG, 9 C 13/97, NVwZ 1998, 973). Eine extreme allgemeine Gefahrenlage setzt aber nicht voraus, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Nach diesem Maßstab würde der Kläger weder mit Rücksicht auf die Sicherheitslage in eine lebensbedrohliche Bedrängnis geraten (a) noch mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein (BVerwG, 9 B 617/98, NVwZ 1999, 668) oder in hinreichender zeitlicher Nähe zu seiner Rückkehr in einen unausweichlichen lebensbedrohlichen pathologischen Zustand geraten (b).

a)

Der Kläger wäre im Falle einer erzwungenen Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort herrschenden Sicherheitslage zwar Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Diese Bedrohung erreicht aber nicht den hohen Wahrscheinlichkeitsgrad einer extremen allgemeinen Gefahr.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist einmal durch militärische Auseinandersetzungen zwischen regierungsfeindlichen Kräften einerseits sowie afghanischen und internationalen Truppen andererseits beeinträchtigt, aber auch durch politisch motivierte und/oder kriminelle Gewaltanwendung. Während im Süden und Osten des Landes Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind es in anderen Teilen Afghanistans Rivalitäten lokaler Machthaber oder Milizenführer sowie die zunehmende Kriminalität, die die Sicherheit der Bewohner bedrohen.

Der Kläger ist im Rückkehrfall weder in Kabul noch in seiner Heimatregion Said Karam in der Provinz Paktia einer extremen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt. Nach seiner Einreise über den Flughafen Kabul kann er sich über die Straße von Kabul nach Gardez in seinen Heimatdistrikt Said Karam begeben, wo - nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - seine Mutter, ein Onkel mütterlicherseits, zwei verheiratete Schwestern und weitere Geschwister leben.

Der UNHCR stuft in seinem Bericht "Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes" vom 25. Februar 2008 von den insgesamt 15 Bezirken Kabuls nur die Distrikte Sarobi, Paghman, Khak-e-Jabar, Musahi und Charasyab als unsicher ein. In diesem Bericht wird die Straße von Kabul nach Gardez ebenso wenig als unsicher bezeichnet wie die Stadt Gardez selbst und der Distrikt Said Karam, die Heimatregion des Klägers.

Dass eine extreme Gefahr für Leib oder Leben bei einer Rückkehr des Klägers nicht besteht, ergibt sich im Einzelnen aus den folgenden Erkenntnismitteln:

Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008 zufolge ist in Kabul die Sicherheitslage weiter fragil, auch wenn sie auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich als zufriedenstellend eingeschätzt werde. Gelegentlich komme es in Kabul zu Raketenbeschuss. Auch in Kabul habe die Zahl der Selbstmordanschläge stark zugenommen, wobei neben den afghanischen Sicherheitskräften auch ausländische Truppen die Hauptanschlagsziele gewesen seien. Eine deutliche Zunahme von Entführungen hauptsächlich afghanischer Staatsangehöriger zwecks Erpressung von Lösegeld sei ebenso zu verzeichnen wie Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellten sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen oder Diebstählen heraus (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7. März 2008).

Im Süden und Osten Afghanistans sei im Jahr 2007 ein deutlicher Anstieg von Anschlägen auf Einrichtungen der Provinzregierungen und Hilfsorganisationen verzeichnet worden; gleichzeitig hielten die Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen weiter an, zu denen auch Stammesfehden rechneten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7. März 2008).

Dies bestätigt Amnesty international (Auskunft vom 17. Januar 2007 an HessVGH) und weist darauf hin, dass es in einigen Gegenden Kabuls vor allem nachts, aber auch tagsüber immer öfter zu Schießereien und Überfällen komme. Die Polizei sei in diesen Fällen nicht in der Lage oder willens, Schutz zu bieten. Rückkehrer aus westlichen Ländern seien besonders gefährdet, Opfer von Diebstählen, Raubüberfällen und Entführungen zu werden, da man bei ihnen Geld vermute.

In dieser Auskunft vom 17. Januar 2007 bezeichnet amnesty international die Sicherheitslage in Afghanistan, die sich in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert habe, insgesamt als prekär. Die zunehmende Gewalt beschränke sich nicht nur auf den Süden und Osten Afghanistans, die Berichte von Unruhen im Norden und Westen mehrten sich. Die kämpferischen Auseinandersetzungen spielten sich nicht nur in abgelegenen Regionen ab, sondern zum Beispiel im Distrikt Ghazni, ganze zwei Stunden von Kabul entfernt. Diese Gegend entwickle sich zur Zeit immer mehr zu einer "no-go-Area", und internationale Hilfsorganisationen hätten sich selbst aus der Provinzhauptstadt zurückgezogen. Bombenanschläge und Selbstmordattentate mit Personenschaden hätten in der Zeit von Mai bis Dezember 2006 ganz überwiegend afghanischen Sicherheitskräften und ausländischen Soldaten, Beratern sowie Aufbauhelfern gegolten.

Dr. D... hält in seinen Gutachten vom 18. Mai 2007 (an VG Koblenz) und vom 24. August 2007 die Sicherheitslage in den Großstädten Afghanistans, insbesondere in Kabul, für katastrophal. Im ganzen Land herrschten praktisch die Drogenmafia und die großen Kriegsfürsten. Weder die Regierung noch die ausländischen Truppen seien in der Lage, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Gefahr, durch Kriminalität, bei politisch motivierten Attentaten, als ziviles Opfer militärischer Auseinandersetzungen oder durch unterlassene Hilfeleistung und Machtmissbrauch seitens der Staatsorgane zu Schaden zu kommen, bestehe für jeden Afghanen, besonders jedoch für mittellose Rückkehrer. Staatliche Organe, beispielsweise Justiz oder Polizei, seien weder in der Lage noch bereit, jemanden zu schützen, der solchen Missständen zum Opfer falle. Die Ordnungskräfte seien vollständig korrupt. In den Wohngebieten, die für die ausländischen Truppen "no-go"-Gebiete seien, müsse sich ein abgeschobener Asylbewerber zwangsläufig niederlassen. Es gebe dort keine neutrale Instanz, die ihn vor Gefahren schützen könne. Nacht für Nacht kämen in Kabul Menschen ums Leben, ohne dass diese Fälle je aufgeklärt würden. Auch die in Afghanistan stationierte internationale Schutztruppe (International Security Assistance Force, ISAF) sei nicht in der Lage, ein gewisses Maß an Sicherheit und Schutz für die Bevölkerung zu gewährleisten. Bei seinem letzten Besuch in Afghanistan im Dezember 2005 habe er feststellen müssen, dass die ausländischen Schutztruppen und die Hilfsorganisationen sich hinter Betonabsperrungen verschanzt hätten, die oft die Gehwege und Teile der Straße einnähmen. Das Personal der europäischen Botschaften gehe aus Angst praktisch nie vor die Tür. Die ISAF-Präsenz sei relativ gering, selbst in der Kabuler Innenstadt. Er selbst habe während seines Aufenthalts im Dezember 2005 dort nur einmal zwei gepanzerte Bundeswehr-Fahrzeuge auf Patrouille und ein US-amerikanisches Fahrzeug gesehen.

Dr. D... hat diese Ausführungen gegenüber dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof unter dem 29. Mai 2008 aktualisiert. Danach habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert. Den Taliban sei es mittlerweile gelungen, bis in die Außenbezirke von Kabul vorzudringen und von dort aus zu operieren. Sie hätten gewissermaßen einen Ring um Kabul gezogen. Dort rekrutierten sie junge Männer wie jene, die das Hotel Serena in Kabul am 14. Januar 2008 angegriffen hätten. In der Zeit vom 20. März bis zum 22. April hätten in Kabul 169 Entführungen stattgefunden, und zwar sowohl aus politischen Gründen als auch zur Erpressung von Geld durch Kriminelle. Gerade für Rückkehrer sei die Gefahr, durch Entführung oder Erpressung zu Schaden zu kommen, besonders groß.

Die südlichen Provinzen, insbesondere Kandahar, Helmand, Uruzgan und Ghazni, befänden sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Händen der Taliban. In den Provinzen Wardak und Logar, die unmittelbar westlich bzw. südlich von Kabul gelegen seien, beherrschten die Taliban sogar über Tag die Straßen und drangsalierten die Menschen.

Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass die militärisch, politisch und/oder kriminell motivierte Gewaltanwendung in Afghanistan in den letzten Jahren zugenommen hat und die Sicherheitslage insgesamt stark beeinträchtigt. Der Anstieg von Anschlägen auf Einrichtungen der Provinzregierungen, der Hilfsorganisationen und der ausländischen Truppen betrifft Rückkehrer aus westlichen Ländern aber weder gezielt, sondern eher zufällig, noch mit einer Häufigkeit, die eine erhebliche oder gar eine extreme Gefahr für Leib oder Leben dieser Personengruppe bedeutet. Die Einschätzung Dr. D..., die Gefahr, durch Kriminalität, bei politisch motivierten Attentaten, als ziviles Opfer militärischer Auseinandersetzungen oder durch unterlassene Hilfeleistung und Machtmissbrauch seitens der Staatsorgane zu Schaden zu kommen, bestehe für jeden Afghanen, besonders jedoch für mittellose Rückkehrer, lässt nicht erkennen, mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit diese Gefahr nach Ansicht Dr. D... droht. Auch wenn man Rückkehrer aus westlichen Ländern, bei denen Geld vermutet wird, generell als besonders gefährdet ansieht, Opfer von Diebstählen, Raubüberfällen und Entführungen zu werden, erlaubt dies nicht den Schluss, dass für diese Personengruppe eine erhebliche oder gar eine extreme Gefahr für Leib oder Leben besteht, zumal es möglich ist, den Eindruck von Wohlhabenheit zu vermeiden. Dass bestimmte Wohngebiete für die ausländischen Truppen "no-go"-Gebiete sind, heißt nicht ohne Weiteres, dass auch afghanische Staatsangehörige dort erheblich oder gar extrem gefährdet sind. Das gilt in besonderem Maß für den Kläger, der sich im Rückkehrfall zudem nicht länger als notwendig in Kabul aufhalten muss, sondern sich in seine Heimatregion und dort unter den Schutz seiner Großfamilie, insbesondere den seines Onkels und seiner Schwäger begeben kann.

Damit übereinstimmend beurteilen auch andere Obergerichte die Sicherheitslage in Afghanistan nicht als so kritisch, dass jeder in sein Heimatland zurückkehrende und nach Kabul gelangende Afghane berechtigter Weise die Sorge haben muss, Opfer eines Übergriffs oder Anschlags zu werden oder in sonstiger Weise von rivalisierenden ethnischen, religiösen oder sonst motivierten Gruppen oder Banden in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit geschädigt zu werden (vgl. HessVGH, 8 UE 1913/06.A, juris; OVG N-W, 20 A 5164/04.A, juris; 20 A 4676/06.A, juris; SächsOVG, A 1 B 58/06, AuAS 2007, 5, juris; OVG B-B, 12 B 9.05, juris; 12 B 11.05, juris).

b)

Der Kläger würde durch eine Abschiebung nach Afghanistan auch nicht mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert (BVerwG, 9 B 617/98, NVwZ 1999, 668) oder in einen unausweichlichen lebensbedrohlichen pathologischen Zustand geraten. Vielmehr könnte er im Rückkehrfall das zum Leben Notwendige durch die Unterstützung seiner dort lebenden Familienangehörigen sowie durch seine Mitarbeit in der Landwirtschaft erlangen und eine Unterkunft finden. Denn er kann sich in seinen - wie bereits ausgeführt - hinreichend sicheren Heimatdistrikt Said Karam begeben, wo - nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - insbesondere seine Mutter, ein Onkel mütterlicherseits und zwei verheiratete Schwestern leben. Denn in Afghanistan übernehmen Familien und Stammesverbände die soziale Absicherung ihrer Mitglieder (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 01/2008, B 4). Extreme allgemeine Gefahren wegen der schlechten Versorgungssituation in Afghanistan drohen dem afghanischen Staatsangehörigen nicht, der in ein (groß-)familiäres Umfeld zurückkehren kann (vgl. OVG S-H, 2 LB 38/07, juris; OVG B-B, 12 B 11.05, juris).

2.

Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, 10 C 42.07) entschieden, dass der subsidiäre Abschiebungsschutz keinen landesweiten (innerstaatlichen) bewaffneten Konflikt voraussetzt. Dennoch kann der Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG selbst dann nicht beanspruchen, wenn man die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und ISAF-Truppen einerseits sowie Talibangruppen und anderen regierungsfeindlichen Kräften andererseits als innerstaatlichen bewaffneten Konflikt versteht (vgl. OVG S-H, 2 LB 38/07, juris). Denn die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG führt dazu, dass nur im Falle extremer Gefahr Abschiebungsschutz eingreift (vgl. HessVGH, 8 UE 1913/06.A, juris). Dass davon auch hinsichtlich der in Afghanistan herrschenden Sicherheitssituation nicht gesprochen werden kann, ist bereits unter 1. a) ausgeführt worden. Die dort dargestellten Beeinträchtigungen der Sicherheit für die Zivilbevölkerung beruhen in den Gebieten insbesondere des Südens und Ostens des Landes zu einem beträchtlichen Teil auf den erwähnten bewaffneten Auseinandersetzungen.

3.

Dem Kläger kann auch kein subsidiärer Schutz unmittelbar aufgrund des Gemeinschaftsrechts zustehen, selbst wenn man annimmt, die Vorschriften der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004 - EGRL 2004/83 - seien hinsichtlich des subsidiären Schutzes nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden. Auch eine unmittelbare Anwendung der Art. 2 Buchst. e, 15 Buchst. c EGRL 2004/83 vermittelt dem Kläger keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz setzt nach diesen Bestimmungen u.a. voraus, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht werden, dass bei einer Rückkehr die tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, beispielsweise in eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu geraten. Zwar muss dieser bewaffnete Konflikt nicht landesweit bestehen (BVerwG, 10 C 42.07). Art. 15 Buchst. c EGRL 2004/83 lässt aber grundsätzlich keine allgemeine Bedrohung für den subsidiären Flüchtlingsschutz genügen, sondern verlangt eine individuelle Bedrohung (vgl. hierzu auch BVerwG, 1 B 217/06, juris), die die Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ist. Gefahren, die auf unterschiedslos wirkender, nicht auf eine bestimmte Person gerichteter Waffengewalt beruhen, sind jedoch typischerweise allgemeine Bedrohungen (so auch Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90 [93]). Ob sie deshalb mit Rücksicht auf den 26. Erwägungsgrund der EGRL 2004/83 keine individuelle Bedrohung sind, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre (vgl. hierzu VGH B-W, A 2 S 229/07, NVwZ 2008, 447, juris; OVG S-H, 1 LA 125/06, juris), bedarf keiner weiteren Erörterung. Denn eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit können allgemeine Gefahren nur darstellen, wenn stichhaltige Gründe im Sinne des Art. 2 Buchst. e EGRL 2004/83 für die Annahme vorgebracht werden, dass bei einer Rückkehr die tatsächliche Gefahr besteht, von dieser willkürlichen Gewalt betroffen zu werden. Der Betroffene muss darlegen, "dass er eine begründete Angst um sein Leben hat, wenngleich die Gründe für diese Angst nicht personenspezifisch sind" (Müller, ASYLMAGAZIN 2008, 4 (8) unter Hinweis auf die Begründung der Kommission zum Richtlinien-Entwurf KOM (2001) 510). Hailbronner (ZAR 2008, 209 [214 f.]) hält besondere Merkmale, die die einzelne Zivilperson als potentielles Opfer willkürlicher Gewalt kennzeichnen, sowie das Ausmaß des generellen Verlustes an Schutz für die Gruppe, der der Betroffene angehört, für entscheidend.

An einer solchen Darlegung individueller Gründe fehlt es hier jedoch. Dass der Vater des Klägers kommunistischer Offizier war und nach den Angaben des Klägers im Anschluss an Auseinandersetzungen mit Mullah Jilani umgebracht wurde, ist kein Vorbringen, aus dem sich eine ernsthafte individuelle Gefahr für den Kläger ergibt, im Rückkehrfall Opfer der willkürlichen Waffenwirkung im Rahmen des kriegerischen Konflikts in seinem Heimatland zu werden. Abgesehen davon hat das Bundesamt die Schilderungen des Klägers als nicht glaubhaft angesehen. Die Ungereimtheiten bezüglich des Zeitpunkts der vom Kläger angegebenen Bombadierung der Festung Jilanis vermochte auch das Verwaltungsgericht nicht aufzuklären. Der Kläger hat im zweitinstanzlichen Verfahren diese im angefochtenen Urteil angesprochenen Zweifel nicht ausgeräumt.

Auch den vom Kläger vorgelegten Ausführungen Dr. D... vom 29. Mai 2008 gegenüber dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof kann nicht entnommen werden, inwiefern für den Kläger selbst eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge kriegerischer Gewalt in Kabul, auf dem Weg nach Paktia und/oder in der Heimatregion Said Kamal besteht. Dr. D... erwähnt die Provinz Paktia und die Region Said Kamal nicht im Einzelnen, sondern nur im Rahmen seiner Betrachtung der Gebiete im Süden und Osten Afghanistans. Da zudem der UNHCR - wie bereits erwähnt - in seinem Bericht "Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes" vom 25. Februar 2008 die Straße von Kabul nach Gardez ebenso wenig als unsicher einstuft wie die Stadt Gardez selbst und den Distrikt Said Karam, kann nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Klägers i.S.d. Art. 2 Buchst. e, 15 Buchst. c EGRL 2004/83 ausgegangen werden.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO.

Gründe i. S. d. § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.

Beschluss

Der Gegenstandswert wird für das Verfahren im zweiten Rechtszug auf 1.500,- € festgesetzt (§§ 30, 33 RVG).

Ende der Entscheidung

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