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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 16.04.2003
Aktenzeichen: 8 A 11903/02.OVG
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, LBauO, GastG


Vorschriften:

BauGB § 34
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 15
BauNVO § 15 Abs. 1
BauNVO § 15 Abs. 1 S 2
BauNVO § 4 Abs. 2
BauNVO § 4 Abs. 2 Nr. 3
BauNVO § 5
BauNVO § 5 Abs. 2
BauNVO § 5 Abs. 2 Nr. 7
BauNVO § 6
BauNVO § 6 Abs. 2
BauNVO § 6 Abs. 2 Nr. 5
LBauO § 81
LBauO § 81 S. 1
GastG § 3
GastG § 3 Abs. 1
Vereinsheime von Gesangvereinen, die als Anlagen für kulturelle Zwecke in allgemeinen Wohngebieten zur Regelbebauung gehören, gewinnen auch dann nicht den Charakter gebietsfremder Vergnügungsstätten, wenn sie vereinzelt zur Durchführung öffentlich zugänglicher Live-Musik-Veranstaltungen genutzt werden.

Zur Frage, wann Lärmimmissionen derartiger Veranstaltungen die nach den einschlägigen technischen Regelwerken vorgesehenen Orientierungswerte für seltene Ereignisse überschreiten dürfen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

8 A 11903/02.OVG

Verkündet am: 16.04.2003

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Nutzungsuntersagung

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2003, an der teilgenommen haben

Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bier Richterin am Oberverwaltungsgericht Spelberg Richter am Oberverwaltungsgericht Utsch ehrenamtliche Richterin Architektin Spieß ehrenamtlicher Richter Oberstabsfeldwebel a.D. Stöß für Recht erkannt:

Tenor:

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Mainz vom 25. Juni 2002 wird der Bescheid des Beklagten vom 19. März 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. September 2001 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, gegen die Nutzung der Sängerhalle des Beigeladenen zu Live-Musik-Veranstaltungen insoweit einzuschreiten, als bei deren Durchführung an dem nach Ziff. 3 der Freizeitlärm-Richtlinie (NVwZ 1997, 469) für das Anwesen des Klägers maßgeblichen Messort die nach Ziff. 4.4 der Freizeitlärmrichtlinie für seltene Ereignisse geltenden Immissionsrichtwerte überschritten werden.

Der Beklagte und der Beigeladene haben die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Verfahren beider Rechtszüge jeweils zur Hälfte zu tragen. Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie in beiden Rechtszügen selbst.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte und der Beigeladene können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckungsfähigen Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten zum bauaufsichtlichen Einschreiten gegen die Nutzung einer vom Beigeladenen betriebenen Sängerhalle zu Live-Musik-Veranstaltungen.

Der Beigeladene ist Eigentümer des im unbeplanten Innenbereich gelegenen Grundstücks Gemarkung S. Parzelle Nr. .... Auf diesem Grundstück betreibt er eine Sängerhalle. Für die Bewirtschaftung derselben ist ihm unter dem 14. September 1904 eine Gaststättenkonzession erteilt worden. Eine Baugenehmigung für die Halle ist nicht nachweisbar. Neben seinen regulären Vereinsaktivitäten nutzt der Beigeladene die Sängerhalle mindestens seit 1974 zu Karnevals- , Disco- und Tanzveranstaltungen, bei denen teilweise auch Livebands auftreten. Die Zahl derartiger Veranstaltungen betrug von 1974 bis 1994 zwischen 11 und 16 pro Jahr; seit 1995 hat sie sich auf zwischen 2 und 6 Veranstaltungen pro Jahr reduziert.

Der Kläger ist Eigentümer des der Sängerhalle gegenüber liegenden, mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks Parzelle Nr. ... Schon 1991 wandte sich der Vater des Klägers im Rahmen eine Anwohnerbeschwerde an die Verbandsgemeindeverwaltung Wörrstadt und beklagte die von einer Discoveranstaltung in der Sängerhalle am 16. November 1991 ausgegangenen unzumutbaren Belästigungen durch Lärm und Vandalismus der Discobesucher. Nachdem der Kläger im Frühjahr 1993 das Haus bezogen hatte, bemühte er sich unablässig, die Verbandsgemeinde und den Beigeladenen zu einer aus seiner Sicht verträglichen Gestaltung von Großveranstaltungen in der Sängerhalle zu bewegen.

Im Verfahren 6 K 32/97.MZ gegen die Verbandsgemeinde Wörrstadt als Gaststättenbehörde legte der Kläger eine Schallmessung des Gutachters M. vom 07. April 1997 vor, wonach bei einer Musikveranstaltung in der Sängerhalle nach Maßgabe der TA Lärm und der VDI-Richtlinie 2058 in der Nachtzeit Maximalpegel von 78 dB(A) und Beurteilungspegel für die lauteste Nachstunde von 72 dB(A) entstanden waren. In der mündlichen Verhandlung am 28. September 1998 erklärte sich die Verbandsgemeinde bereit, durch Auflagen zur Gaststättenkonzession Discoveranstaltungen in der Sängerhalle zu verbieten und Live-Musik-Veranstaltungen auf maximal fünf pro Jahr bei einer Lärmgrenze von 55 dB(A) nachts und maximalen Lärmspitzen von 65 dB(A) nachts zu beschränken. Hierauf erklärte der Kläger den Rechtstreit für erledigt; die Verbandsgemeinde setzte ihre Verpflichtung durch Bescheid vom 12. Oktober 1998 um.

Nachdem Lärmgutachter auf Veranlassung des Klägers bei Veranstaltungen am 13./14. November 1999 und 11./12. Dezember 2000 erneut Maximalpegel von 84 bzw. 96 dB(A) gemessen hatten, untersagte das Landgericht Mainz auf eine Klage des Klägers hin dem Beigeladenen mit Urteil vom 13. Februar 2001, in der Sängerhalle Veranstaltungen durchzuführen, die in der Zeit von 22.00 Uhr bis 2.00 Uhr einen Beurteilungspegel von 55 dB(A) und einen Maximalpegel von 65 dB (A) vor dem Anwesen des Klägers verursachten. Diese Entscheidung ist durch rechtskräftiges Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 15. Februar 2002 aufgehoben worden.

Unter dem 13. März 2001 forderte der Kläger den Beklagten auf, gegen die Nutzung der Sängerhalle zu Disco- und Livemusikveranstaltungen bauaufsichtlich einzuschreiten. Diesem Ansinnen verschloss sich der Beklagte in Ausgangs- und Widerspruchsverfahren im wesentlichen mit der Begründung, der Kläger sei gegen unzumutbare Lärmbelästigungen sowohl durch die gaststättenrechtliche Auflage als auch durch das landgerichtliche Urteil ausreichend geschützt.

Die daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Der Beklagte sei mangels Verletzung nachbarschützender Vorschriften nicht zum Einschreiten verpflichtet. Der planungsrechtliche Gebietserhaltungsanspruch des Klägers werde auch dann nicht verletzt, wenn die nähere Umgebung als allgemeines Wohngebiet anzusehen sei. In einem solchen sei die Sängerhalle als Anlage für kulturelle Zwecke gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO allgemein zulässig. Die seltene Durchführung kommerzieller Tanzveranstaltungen ändere an dieser planungsrechtlichen Einordnung nichts und mache die Halle insbesondere nicht zu einer Vergnügungsstätte. Die vom Kläger beanstandete Nutzung verstoße bei gebotener Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Die Halle sei seit vielen Jahrzehnten gaststättenrechtlich konzessioniert und nach allgemeiner Erfahrung wohl von Anfang an auch für Musikdarbietungen und Tanzveranstaltungen bei ortsüblichen Anlässen genutzt worden. Sie präge daher im Sinne einer Vorbelastung die Eigenart des Baugebiets. Zudem handele es sich bei der beanstandeten Nutzung um eine Anzahl von Veranstaltungen, die deutlich hinter der nach der TA Lärm als selten eingestuften Anzahl zurückbleibe und von der großen Mehrheit der Bevölkerung mit Verständnis aufgenommen werde, zumal sie teilweise in der Karnevalszeit stattfänden. Die davon ausgehende Lärmbelästigung sei daher auch vom Kläger hinzunehmen.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Berufung begehrt der Kläger nur noch ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen Live-Musik-Veranstaltungen in der Sängerhalle. Er macht geltend, die Sängerhalle gewinne durch die Live-Musik-Veranstaltungen den Charakter einer Vergnügungsstätte, die im allgemeinen Wohngebiet unzulässig sei. Dies gelte ungeachtet der relativ geringen Anzahl solcher Veranstaltungen, da es sich um die wesentliche Nutzung der Halle handele. Ungeachtet dessen sei die beanstandete Nutzung auch rücksichtslos, weil sie selbst die nur für seltene Ereignisse zumutbaren Lärmpegel überschreite.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Mainz vom 25. Juni 2002 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 19. März 2001 und des Widerspruchsbescheides vom 24. September 2001 zu verpflichten, gegen die Nutzung der Sängerhalle des Beigeladenen zu Live-Musik-Veranstaltungen bauaufsichtlich einzuschreiten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und weist ergänzend daraufhin, dass es sich bei der erstinstanzlichen Einstufung der näheren Umgebung der Sängerhalle als allgemeines Wohngebiet lediglich um eine "worst case-Betrachtung" gehandelt habe.

Der Beigeladene hält ebenfalls das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Beteiligten zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Verwaltungs- und Widerspruchsakten des Beklagten sowie die Gaststättenakte der Verbandsgemeinde Wörrstadt lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Auf ihren Inhalt wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hätte der Klage, soweit sie noch Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (I), stattgeben müssen. Der Kläger hat ein Sachbescheidungsinteresse für seinen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Nutzung der Sängerhalle zu Live-Musik-Veranstaltungen (II). Ihm steht auch ein - nicht verwirkter (III) - Anspruch hierauf wegen Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften (IV) zu. Dieser Anspruch lässt indessen das Auswahlermessen des Beklagten unberührt (V).

I. Ausweislich des in der Berufungsbegründung (Bl. 342 GA) formulierten und in der mündlichen Verhandlung am 13. März 2003 (Bl. 428 GA) gestellten Antrages begehrt der Kläger im Berufungsverfahren nicht mehr ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen - dem Beigeladenen bereits durch Ziffer 1 der gaststättenrechtliche Verfügung vom 12. Oktober 1998 untersagte - Discoveranstaltungen, sondern nur noch gegen "Live-Musik-Veranstaltungen". Dieser Begriff bedarf der Auslegung anhand des bisherigen Verfahrensverlaufs und der Äußerungen des Klägers. Hieraus wird deutlich, dass nur solche öffentlich zugänglichen Veranstaltungen in der Sängerhalle gemeint sind, bei denen Instrumental- und/oder Vokalmusik elektronisch verstärkt und nicht ausschließlich tonträgergestützt dargeboten wird, die den Rahmen klassischer Vereinsaktivitäten eines Männergesangvereins (Aufführung von Chormusik mit oder ohne Instrumentalbegleitung) überschreitet. Nur derartige Ereignisse waren - außer Discoveranstaltungen - Gegenstand der Beschwerden des Klägers und Anlass für die von ihm veranlassten Lärmmessungen.

II. Entgegen der im Widerspruchsbescheid vertretenen Auffassung hat der Kläger hinsichtlich seines Antrages auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die strittige Nutzung der Sängerhalle ein Sachbescheidungsinteresse.

Seine rechtlichen Interessen sind nicht bereits anderweitig in einer Weise geschützt, die das Verlangen nach zusätzlichem Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde als unnütz und mutwillig erscheinen lässt. Dies gilt zunächst, soweit das im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung gültige Urteil des Landgerichts Mainz vom 13. Februar 2001 mittlerweile rechtskräftig aufgehoben worden ist. Auch der gaststättenrechtliche Auflagenbescheid vom 12. Oktober 1998 ist nicht geeignet, dem Kläger effektiven Schutz gegen Lärmimmissionen zu bieten, die von Live-Musik-Veranstaltungen in der Sängerhalle ausgehen. Denn die unter Ziffer 2 dieses Bescheides enthaltene Begrenzung der zulässigen Immissionswerte ist wegen mangelnder Bestimmtheit nicht vollstreckbar.

III. Der geltend gemachte Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen bei Live-Musik-Veranstaltungen auftretende Lärmimmissionen ist auch nicht durch langandauernde Duldung derselben seitens des Klägers (1) oder seiner Rechtsvorgänger (2) verwirkt.

1. Ein persönliches Verhalten des Klägers, aus dem der Beigeladene entnehmen durfte, dass dieser nicht gegen Live-Musik-Veranstaltungen vorgehen werde, ist nach Aktenlage nicht erkennbar. Vielmehr beweist die umfangreiche Korrespondenz in der Gaststättenakte, die verwaltungsgerichtliche Klage auf gaststättenrechtliches Einschreiten sowie der zivilrechtliche Prozess, dass der Kläger seit seinem Einzug im Jahre 1993 bemüht war, die strittigen Veranstaltungen zu unterbinden.

2. Auch das Verhalten seiner Rechtsvorgänger, das sich der Kläger wegen der Grundstücksbezogenheit nachbarlicher Abwehrrechte zurechnen lassen müsste (Bad.-Württemb. VGH, VBlBW 1992, 103), erfüllt vorliegend nicht den Tatbestand einer Verwirkung. Dieser erfordert, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, welche die Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist der Fall, wenn erstens der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), zweitens der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt würde (Vertrauenstatbestand) und drittens er sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (Vertrauensbetätigung).

Ungeachtet der Frage, ob die Rechtsvorgänger des Klägers durch langjährige, widerspruchslose Duldung mindestens seit 1974 stattfindender, vergleichbarer Veranstaltungen überhaupt eine Vertrauensgrundlage geschaffen haben, fehlt es hier an einer Vertrauensbetätigung des Beigeladenen, die unzumutbare Nachteile bei Durchsetzung der Ansprüche des Klägers nach sich ziehen würde. Zum einen ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Sängerhalle in der Vergangenheit speziell zur Durchführung von Live-Musik-Veranstaltungen ausgebaut oder mit besonderen technischen Einrichtungen versehen worden ist; zum anderen spricht nichts dafür, dass der Anspruch des Klägers nur durch eine bauaufsichtliche Untersagung dieser Veranstaltungen erfüllt werden könnte, die eine etwaige Vertrauensbetätigung entwerten machen könnte.

IV. Die im Rahmen des Berufungsverfahrens beanstandete Nutzung der Sängerhalle genießt weder baurechtlichen Bestandsschutz (1), noch steht sie im Einklang mit nachbarschützenden Vorschriften (2). Dies führt dazu, dass sich das dem Beklagten durch § 81 Satz 1 LBauO eingeräumte Recht, in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens gegen rechtswidrige Nutzungen einer baulichen Anlage einzuschreiten, nach ständiger Rechtsprechung des Senats gegenüber dem Kläger zu einer Pflicht verdichtet.

1. Der Beigeladene kann sich hinsichtlich der vom Kläger beanstandeten Nutzung zunächst nicht auf baurechtlichen Bestandsschutz berufen. Der ihm obliegende (s. BVerwG, Beschluss vom 19. Februar 1988 - 4 B 33.88 -) Nachweis für die Erteilung einer Baugenehmigung, die auch die strittige Nutzung legalisiert, ist nicht geführt worden.

2. Die Nutzung der Sängerhalle zu Live-Musik-Veranstaltungen verstößt gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts.

a. Nach zutreffender Ansicht des Verwaltungsgerichts kann sich der Kläger allerdings nicht auf Nachbarschutz in Gestalt eines sogen. Gebietswahrungsanspruchs (s. z.B. BVerwG, BRS 58 Nr. 82) berufen. Selbst wenn die Sängerhalle und das Haus des Klägers - was Beklagter und Beigeladener bestreiten - Bestandteile eines faktischen allgemeinen Wohngebietes gemäß §§ 34 Abs. 2 BauGB, 4 BauNVO wären, würden die hier in Rede stehenden Live-Musik-Veranstaltungen der Sängerhalle nicht den Charakter einer kerngebietstypischen Vergnügungsstätte und damit einer gebietsfremden Bebauung verleihen. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die an sich als Vereinsheim des Beigeladenen dienende Sängerhalle eine Anlage für kulturelle Zwecke gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO ist und daher zur gebietstypischen Regelbebauung eines allgemeinen Wohngebietes (und gemäß §§ 5 Abs. 2 Nr. 7, 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO auch eines Dorf- oder Mischgebietes) gehört. Der Einwand des Klägers, die Halle werde durch - gaststättenrechtlich maximal mögliche - fünf Live-Musik-Veranstaltungen im Kalenderjahr zu einer Vergnügungsstätte im planungsrechtlichen Sinne, da es sich bei diesen um die "wesentliche Nutzung des Bauwerkes" handele (Bl. 350 GA), überzeugt nicht. Der Senat hält im Hinblick auf die in der Verfügung vom 06. Dezember 2002 zitierten Ausführungen im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. November 1990 - 4 B 162.90 - daran fest, dass die Anzahl der Live-Musik-Veranstaltungen, gegen die eingeschritten werden soll, hier derart gering ist, dass sie nicht prägend für den planungsrechtlichen Charakter der Sängerhalle sein können.

b. Die strittige Nutzung der Halle verstößt aber entgegen der Auffassung der Vorinstanz gegen die als Ausprägung des Rücksichtnahmegebotes nachbarschützende (s. BVerwG, BRS 40 Nr. 48) Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Denn von der Sängerhalle gehen bei der Durchführung von Live-Musik-Veranstaltungen unzumutbare Lärmbelästigungen für das Grundstück des Klägers aus.

Da für Lärmimmissionen, die von Musikveranstaltungen der vorliegend umstrittenen Art ausgehen, keine Grenzwerte normativ festgelegt sind, ist die Zumutbarkeitsgrenze vom Gericht anhand einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere der speziellen Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebiets zu bestimmen. Technische Regelwerke, die Richt- oder Orientierungswerte zu der in Betracht kommenden Belastungsart enthalten, dürfen dabei als Orientierungshilfe im Sinne eines "groben Anhalts", aber keinesfalls schematisch herangezogen werden (s. z.B. BVerwG, NVwZ-RR 1995, 6).

Nach Auffassung des Senats ist im vorliegenden Fall die vom Länderausschuss für Immissionsschutz im Jahre 1995 verabschiedete Freizeitlärmrichtlinie (NVwZ 1997, 469ff.) als derartige Orientierungshilfe heranzuziehen. Das Lärmpotential, das mit den vom Beigeladenen durchgeführten Live-Musik-Veranstaltungen verbunden ist (Verkehrsgeräusche, Musik; Gespräche, Gelächter, Gläserklirren etc.), ähnelt mehr dem Emissionscharakter der in Ziffer 1 der Freizeitlärmrichtlinie aufgeführten Freizeitanlagen als dem der von der TA Lärm erfassten gewerblichen Anlagen.

Bedeutung für die hier erforderliche Zumutbarkeitsbeurteilung erlangen nur die Regelungen der Freizeitlärmrichtlinie über "Besonderheiten bei seltenen Störereignissen" (s. Ziff. 4.4). Selten sind danach Störereignisse, die höchstens an zehn Tagen oder Nächten eines Kalenderjahres und in diesem Rahmen auch nicht an mehr als zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden einen relevanten Beitrag zur Überschreitung der regulären, gebietsbezogenen Lärmwerte leisten. Diesen Anforderungen genügen die strittigen Live-Musik-Veranstaltungen. Gemäß Ziffer 1 des gaststättenrechtlichen Auflagenbescheides vom 12. Oktober 1998 können maximal fünf solcher Veranstaltungen pro Kalenderjahr durchgeführt werden; die Veranstaltungspraxis des Beigeladenen (s. Bl. 272 bis 284 GA) unterschreitet diese Anzahl in den letzten Jahren und weist auch keine Fälle auf, in denen an mehreren aufeinander folgenden Wochenenden solche Veranstaltungen durchgeführt worden sind. Soweit der Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 8. März 2003 (Bl. 391 GA) Mutmaßungen über weitere Veranstaltungen in der Sängerhalle angestellt hat, die seiner Meinung nach die regulären, gebietsbezogenen Lärmwerte überschreiten könnten, handelt es sich um unsubstantiiertes Vorbringen, dem mangels verifizierbarer Anhaltspunkte nicht weiter nachzugehen ist.

Auch seltene Störereignisse sind aber nach der Freizeitlärmrichtlinie gebietsunabhängig als unzumutbar anzusehen, wenn die von ihnen ausgehenden Lärmimmissionen nachts einen Beurteilungspegel von 55 dB(A) am maßgeblichen Meßort (Ziff. 3 der Richtlinie) und Geräuschspitzen von mehr als 65 dB(A) verursachen. Dies ist bei den vom Beigeladenen veranstalteten Live-Musik-Veranstaltungen in der Vergangenheit regelmäßig der Fall gewesen. Die während solcher Veranstaltungen im Auftrag des Klägers am 07. April 1997, 13./14. November 1999 und 11./12. Dezember 2000 durchgeführten Messungen des Sachverständigen M. bzw. des TÜV haben erhebliche Überschreitungen der für seltene Ereignisse geltenden Richtwerte festgestellt. Diese sachverständigen Stellungnahmen legen die verwendeten Meßmethoden offen und sind auch im übrigen schlüssig begründet; Einwendungen, die Zweifel an ihrer Verwertbarkeit auslösen könnten, sind weder vom Beklagten noch vom Beigeladenen erhoben worden.

Anders als die Vorinstanz vermag der Senat auch bei umfassender Würdigung aller im vorliegenden Fall gegebenen Umstände keinen Grund zu erkennen, warum dem Kläger derartige Überschreitungen der Richtwerte noch zumutbar sein sollen.

Eine Erhöhung der Zumutbarkeitsschwelle aus Gründen herausgehobener sozialer Bedeutung der Störereignisse scheidet aus. Zwar ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung (s. Bay. VGH, NJW 1998, 401; Hess. VGH, GewArch 1997, 162; OVG Bremen, GewArch 1996, 390; Nds. OVG, GewArch 1996, 117, 119) anerkannt, dass eine Überschreitung der für seltene Ereignisse geltenden Orientierungswerte bei sogen. "sehr seltenen" Ereignissen in Betracht kommen kann. Dabei muss es sich aber um vereinzelte, besonders herausragende Veranstaltungen handeln, deren Bedeutung so groß ist, dass dahinter das Ruhebedürfnis der Anwohner zurückzutreten hat (s. Hess. VGH, aaO.). Derartige Merkmale weisen etwa Jubiläumsfeste dörflicher Vereine (s. Bay. VGH aaO.) oder traditionelle Jahrmärkte und Volksfeste (s. OVG Bremen aaO.) auf. Eine hiermit vergleichbare, herausgehobene soziale Bedeutung der Live-Musik-Veranstaltungen des Beigeladenen für das örtliche Gemeinschaftsleben in S. ist nicht ersichtlich. Es handelt sich um kommerzielle Veranstaltungen, die nach eigenem Vortrag des Beigeladenen hauptsächlich der Gewinnerzielung für den Verein dienen. Ein besonderer örtlicher Bezug fehlt ebenfalls. Die in der Gaststättenakte verschiedentlich dokumentierte Zahl von mehreren hundert Besuchern solcher Veranstaltungen, die notorische Parkraumproblematik und nicht zuletzt auch exemplarisch die Adressenliste minderjähriger Besucher bei einer Veranstaltung am 18. November 1984, die Orte aus ganz Rheinhessen enthält (Bl. 86f. der Gaststättenakte), zeigen, dass die Darbietungen seit jeher auf ein überörtliches Publikum ausgerichtet sind. Dass eine Musikveranstaltung üblicherweise in der Karnevalszeit stattfindet, mag deren wirtschaftlichen Erfolg steigern, begründet aber allein noch keinen besonderen sozialen Rang der strittigen Nutzung für das dörfliche Gemeinschaftsleben. Schließlich kennzeichnet auch die Quantität der Veranstaltungen diese nicht als "sehr seltene" Ereignisse. Auszugehen ist hierbei nicht allein von der Veranstaltungspraxis der drei letzten Jahre, in denen in der Tat nur jeweils zwei Veranstaltungen durchgeführt worden sein mögen (s. Bl. 283f. GA). Maßgebend ist vielmehr, dass der Beigeladene gaststättenrechtlich bis zu fünf solcher Veranstaltungen im Jahr durchführen darf und sich dies auch im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich vorbehalten hat (s. Bl. 268 GA).

Auch die Berücksichtigung des konkreten Gebietscharakters und möglicher Vorbelastungen rechtfertigt es nicht, dem Kläger die Hinnahme von Lärmimmissionen zuzumuten, die die Richtwerte für seltene Ereignisse überschreiten.

Es bedarf insoweit keiner Klärung, ob die Eigenart der näheren Umgebung des Hauses des Klägers einem allgemeinen Wohngebiet oder einem Misch- oder Dorfgebiet entspricht, in dem die Schutzwürdigkeit des Wohnens durch andere Nutzungen relativiert ist. Denn zum einen gelten die Orientierungswerte der Freizeitlärmrichtlinie für seltene Ereignisse - wie oben erwähnt - einheitlich für alle Gebiete, in denen Wohnen planungsrechtlich zulässig ist. Daraus folgt, dass eine Überschreitung dieser Maximalwerte nach Einschätzung des in die Richtlinie eingeflossenen Sachverstandes unabhängig vom konkreten Gebietscharakter grundsätzlich mit einer Wohnnutzung unverträglich ist. Ungeachtet dessen ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die nähere Umgebung durch bestandsgeschützte Nutzungen geprägt wird, die zur hier strittigen Nachtzeit wohnunverträgliche Lärmimmissionen hervorrufen und daher die Schutzwürdigkeit des Gebietes dergestalt mindern könnten, dass eine Zumutbarkeitsschwelle jenseits der Orientierungswerte für seltene Ereignisse zu rechtfertigen wäre.

Die zu berücksichtigende Vorbelastung des Gebiets durch eine nahezu hundertjährige, konzessionierte Gaststättennutzung in der Sängerhalle berechtigt den Beigeladenen ebenfalls nicht dazu, im Rahmen von Live-Musik-Veranstaltungen die Orientierungswerte für Lärmimmissionen bei seltenen Ereignissen zu überschreiten. Zunächst können im Rahmen des vom Gebot der Rücksichtnahme geforderten Interessenausgleichs nur die Beeinträchtigungen, die eine legale Nutzung mit sich bringt, als Vorbelastung in Ansatz gebracht werden, die der Rücksichtnahmeverpflichtete hinzunehmen hat (BVerwG, BRS 56 Nr. 164). Eine Baugenehmigung, die derart lautstarke Veranstaltungen legalisieren könnte, ist nicht nachweisbar. Auch auf die Gaststättenkonzession kann die bisherige Veranstaltungspraxis des Beigeladenen bei Live-Musik-Darbietungen nicht gestützt werden. Im Blick auf die Anzahl der in den Jahren 1974 bis 1994 jährlich durchgeführten derartigen Veranstaltungen (neun bis siebzehn; Bl. 272 bis 283 GA) erscheint schon fraglich, ob es hierzu wegen Regelmäßigkeit der Darbietungen (s. dazu Michel/Kienzle: GastG, 12. Aufl. 1995, § 3 Rn 2) nicht einer Gaststättenkonzession besonderer Betriebsart gemäß § 3 Abs. 1 GastG bedurft hätte (s. z.B. OVG Münster, GewArch 1993, 254; Hess. VGH, GewArch 1985, 274). Eine solche ist nicht ersichtlich. Die vom 21. April 1986 datierende "Erweiterung der Konzession vom 28. September 1904" (Bl. 116 der Gaststättenakte) für einen Schankraum im Erdgeschoss bezieht sich lediglich auf den Betrieb einer Schank- und Speisewirtschaft. Selbst wenn aber die im Jahre 1904 erteilte und später erweiterte Gaststättenerlaubnis für eine Schank- und Speisewirtschaft vereinzelte Musikdarbietungen von Anfang an grundsätzlich zugelassen hat, betrifft diese gaststättenrechtliche "Legalisierung" allenfalls das "Ob" solcher Veranstaltungen, nicht aber ein bestimmtes Ausmaß von ihnen verursachter Immissionen. Insbesondere ist hierbei zu sehen, dass das Immissionspotential dorfüblicher Tanzmusikveranstaltungen bei Erteilung der Konzession im Jahre 1904 erheblich geringer war als das der strittigen Live-Musik-Veranstaltungen. Die für deren Unzumutbarkeit maßgebenden Lärmfaktoren (elektrische Musikverstärkung; Verkehrsgeräusche an- und abfahrender Gäste) spielten seinerzeit noch keine Rolle.

Ist daher nicht erkennbar, dass der Beigeladene die Sängerhalle in der Vergangenheit legal zu Live-Musik-Veranstaltungen der hier umstrittenen Art genutzt hat, so haben diese bei der Ermittlung der Vorbelastung außer Betracht zu bleiben. Die Vorbelastung, die sich allein aus der gaststättenrechtlichen Konzessionierung der Sängerhalle als Schank- und Speisewirtschaft und den damit typischerweise verbundenen Immissionen ergibt, rechtfertigt es indessen nicht, dem Kläger im hier maßgebenden Nachtzeitraum Lärmbelästigungen zuzumuten, die die Orientierungswerte für seltene Ereignisse überschreiten.

Steht nach alledem fest, dass die Nutzung der Sängerhalle für die strittigen Live-Musik-Veranstaltungen unter Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zu Immissionen führt, die dem Kläger unzumutbar sind, so hat der Beklagte hiergegen einzuschreiten; sein Entschließungsermessen hat sich aus Gründen des Nachbarschutzes zu einer Einschreitenspflicht verdichtet.

V. Wie sich der Beklagte seiner in Ziffer 1 des Urteilstenors beschriebenen Einschreitenspflicht entledigt, hat er indessen nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden. Insoweit bedarf es keiner weiteren Festlegung durch den Senat, da der Kläger lediglich einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten, nicht aber auf die Anordnung bestimmter Maßnahmen geltend gemacht hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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