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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss verkündet am 22.02.2006
Aktenzeichen: VGH A 5/06
Rechtsgebiete: LV, StPO


Vorschriften:

LV Art. 5 Abs. 1 Satz 2
LV Art. 5 Abs. 1 Satz 1
StPO § 115 Abs. 1
StPO § 136 Abs. 1
1. Verstöße gegen die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 LV gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 LV dar.

2. Das Recht eines Beschuldigten, im Rahmen seiner Vorführung vor dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 StPO, die zugleich seine erste richterliche Vernehmung gemäß § 136 Abs. 1 StPO darstellt, nach entsprechender Belehrung einen Verteidiger hinzuzuziehen, dürfte zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien gehören, deren Beachtung Art. 5 Abs. 1 Satz 2 LV fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.

3. Zur Folgenabwägung im einstweiligen Anordnungsverfahren.


VERFASSUNGSGERICHTSHOF RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES BESCHLUSS

VGH A 5/06

In dem Verfahren

betreffend die Verfassungsbeschwerde

gegen 1. den Haftbefehl des Amtsgerichts Koblenz vom 14. Dezember 2005 - 2050 Js 59795/04 -

2. die Eröffnung des Haftbefehls durch das Amtsgericht Koblenz am 19. Dezember 2005 - 2050 Js 59795/04 -

hier: einstweilige Anordnung

hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 22. Februar 2006, an der teilgenommen haben

Präsident des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Meyer Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Bamberger Präsident des Oberlandesgerichts Dury Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling Universitätsprofessor Dr. Dr. Merten Kreisverwaltungsdirektorin Kleinmann Präsidentin des Verwaltungsgerichts Dr. Freimund-Holler Landrätin Röhl Rechtsanwalt Schnarr

beschlossen:

Tenor:

Es wird einstweilen angeordnet, in dem Ermittlungsverfahren gegen A., z.Zt. in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Koblenz, den Beschuldigten unverzüglich unter Teilnahme seines Verteidigers dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 StPO vorzuführen. Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.

Gründe:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist - in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang - zulässig und begründet. Hinsichtlich seines weitergehenden Ziels, den gegen den Beschwerdeführer erlassenen Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise dessen Vollzug auszusetzen, erweist er sich hingegen als unbegründet.

1. Gemäß § 19 a des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - kann der Verfassungsgerichtshof in einem anhängigen Verfahren einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss der Verfassungsgerichtshof die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG befugt, die Durchführung des bundesprozessrechtlich geregelten Verfahrens der Gerichte an den Grundrechten der Landesverfassung zu messen, soweit diese den gleichen Inhalt wie entsprechende Rechte des Grundgesetzes haben (vgl. VerfGH Rh-Pf, AS 29, 89 [91 f. m.w.N.]). Das hier gerügte Grundrecht der Freiheit der Person gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz - LV - ist inhaltsgleich mit den Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -. Seine verfahrensrechtliche Absicherung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 - 5 LV entspricht den Gewährleistungen der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 GG.

Gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 LV ist die Freiheit der Person unverletzlich. Eine Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur aufgrund von Gesetzen und nur in den von diesen vorgeschriebenen Formen zulässig (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 LV). Diese Regelung erhebt neben der Forderung nach einem "förmlichen" freiheitsbeschränkenden Gesetz auch die Pflicht zum Verfassungsgebot, dessen Formvorschriften zu beachten. Verstöße gegen die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 LV gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (vgl. BVerfGE 58, 208 [220]). Es spricht daher vieles dafür, dass das Recht eines Beschuldigten, im Rahmen seiner Vorführung vor dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 der Strafprozessordnung - StPO -, die zugleich seine erste richterliche Vernehmung gemäß § 136 Abs. 1 StPO darstellt, nach entsprechender Belehrung einen Verteidiger hinzuzuziehen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 115 Rn. 8 und § 136 Rn. 10; BGH, NJW 1993, 338 [339]), zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien gehört, deren Beachtung Art. 5 Abs. 1 Satz 2 LV fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.

Gewichtige Gründe legen die Annahme nahe, dass die zuständige Richterin beim Amtsgericht Koblenz diese Verfahrensgarantie bei der Vorführung des Beschwerdeführers verletzt hat, indem sie ihm den Haftbefehl zum festgesetzten Termin in Abwesenheit seines Verteidigers ohne weiteres Zuwarten eröffnete, obwohl letzterer zuvor aufgrund seiner kurzfristigen Anreise aus Trier und schwieriger Witterungsverhältnisse eine viertelstündige Verspätung angekündigt hatte. Dieser Mangel ist - soweit ersichtlich - auch nicht in den nachfolgenden Verfahren der Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO bzw. der weiteren Beschwerde gemäß § 310 Abs. 1 StPO geheilt worden. Die abschließende Beantwortung der damit verbundenen Fragen bleibt dem Verfassungsbeschwerdeverfahren vorbehalten.

b) Die danach gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später aber die Verfassungsbeschwerde als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Fortsetzung der Untersuchungshaft ohne eine Vorführung vor dem zuständigen Richter, die den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien genügt, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, dem unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht zukommt (vgl. BVerfGE 65, 317 [322]).

Gegenüber dem irreparablen Rechtsverlust, der dem Beschwerdeführer droht, sind die Nachteile, die entstehen, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen wird, die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg hat, weniger gewichtig. Sie bestünden in dem zusätzlichen Organisationsaufwand, der mit einer nochmaligen Vorführung vor dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 StPO verbunden ist. Unter diesen Umständen ist ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit nicht zu besorgen.

2. Mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang wird den verfassungsrechtlich verbürgten Verfahrensgarantien des Beschwerdeführers hinreichend Rechnung getragen. Einer Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch den Verfassungsgerichtshof bedarf es hierzu nicht. Es obliegt dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 StPO hierüber zu entscheiden.

3. Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist kostenfrei (§ 21 VerfGHG). Eine Auslagenerstattung findet nicht statt (§ 21 a VerfGHG).

Ende der Entscheidung

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