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Gericht: Oberverwaltungsgericht Saarland
Beschluss verkündet am 16.02.2004
Aktenzeichen: 1 Q 50/03
Rechtsgebiete: BGB, SBG, VwGO, StVO


Vorschriften:

BGB § 282
SBG § 93 Abs. 1 Satz 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
StVO § 5 Abs. 4 Satz 1
1. Dem auf die Autobahn einfahrenden Fahrzeugführer obliegt gegenüber dem auf den durchgehenden Fahrbahnen der Autobahn befindlichen bevorrechtigten Verkehr eine gesteigerte Sorgfaltspflicht.

2. Nach dem auch im öffentlichen Dienstrecht anwendbaren Rechtsgedanken des § 282 BGB trifft einen Beamten, der objektiv eine Dienstpflicht verletzt hat, die materielle Beweislast dafür, dass er die Pflichtverletzung ohne ein für die Haftung ausreichendes Verschulden begangen ist.


Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das auf Grund mündlicher Verhandlung vom 1. April 2003 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes - 12 K 95/02 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens fallen dem Kläger zur Last.

Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 4.773,69 Euro festgesetzt.

Gründe:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor genannte Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes, durch das seine auf § 93 Abs. 1 Satz 1 SBG gestützte Heranziehung zum Schadensersatz in Höhe von 4.773,69 Euro wegen der ihm als verantwortlichem Fahrer angelasteten verkehrsunfallbedingten Beschädigung eines Dienstfahrzeugs für rechtmäßig erachtet und demgemäß seine auf Aufhebung der entsprechenden Bescheide des Beklagten (Leistungsbescheid vom 23.4.2002 sowie Widerspruchsbescheid vom 2.7.2002) gerichtete Klage abgewiesen wurde, bleibt ohne Erfolg.

Mit insgesamt überzeugenden Erwägungen, die sich der Senat zu Eigen macht, hat das Verwaltungsgericht fallbezogen die Anspruchsvoraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 1 SBG bejaht, so dass die vom Kläger als Zulassungsgrund geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im Verständnis des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht gegeben sind.

Ausweislich der Zulassungsbegründung stellt der Kläger nicht in Abrede, dass er von der Autobahnauffahrt (Beschleunigungsstreifen) hinter einem LKW fahrend zunächst auf die rechte Fahrspur der A6 gewechselt und sodann auf die linke Fahrspur der Autobahn (Überholspur) gefahren ist, wo es - noch im Bereich des Beschleunigungsstreifens - zu dem schadensverursachenden Auffahren des sich auf der Überholspur von hinten nähernden Kleintransporters des Zeugen G gekommen ist. Von diesem unstreitigen Geschehensablauf ausgehend kann nicht bezweifelt werden, dass der Kläger objektiv gegen die ihm als auf die Autobahn einfahrendem Fahrzeugführer obliegende Sorgfaltspflicht verstoßen hat (vgl. Seite 7, 8 des erstinstanzlichen Urteils). Da sich die Kollision im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren des vom Kläger geführten Dienstfahrzeugs auf die Bundesautobahn ereignet hat, spricht zunächst kein Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des die Überholspur der Autobahn benutzenden bevorrechtigten Fahrers vgl. u.a. BGH, Urteil vom 6.4.1982 - VI ZR 152/80 -, NJW 1982, 1595 = VersR 1982, 672 = MDR 1982, 841.

Ein Kraftfahrer, der nach dem Einfahren auf die Autobahn zum Überholen ansetzen beziehungsweise - wie hier - auf die Überholspur wechseln will, um einem sich noch auf dem Beschleunigungsstreifen befindlichen Fahrzeug das Einfahren auf die rechte Fahrspur (Normalspur) zu ermöglichen, hat eine doppelte Verpflichtung: Zum einen muss er (zunächst) mit größter Vorsicht von dem Beschleunigungsstreifen unter Beachtung des Vorfahrtsrechts (§ 18 Abs. 3 StVO) des sich auf der Autobahn bewegenden Verkehrs auf die Normalspur einfahren. Zum andern schreibt § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO vor, dass beim Überholen beziehungsweise beim Wechseln auf die Überholspur eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen sein muss. Daraus ergibt sich für denjenigen Kraftfahrer, der auf die Überholspur wechseln will, obwohl er sich gerade erst in den Verkehr auf der Normalspur eingegliedert hat, eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Die Inanspruchnahme der Überholspur setzt - insbesondere bei belebter Autobahn - eine gründliche Kenntnis der gesamten Verkehrssituation voraus, über die der gerade erst auf die Autobahn Einfahrende nicht in gleicher Weise verfügt wie der Kraftfahrer, der sich bereits einige Zeit auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn bewegt und dadurch die Möglichkeit hat, sich vor dem beabsichtigten Fahrspurwechsel mit der erforderlichen Gründlichkeit und Ruhe über die rückwärtige Verkehrslage zu orientieren, insbesondere darüber, ob sich Kraftfahrer mit sehr hoher Geschwindigkeit - möglicherweise zunächst auch auf der Normalspur fahrend - nähern und in Kürze - im Bereich der Auffahrt - gleichfalls die Überholspur in Anspruch nehmen werden. Da auf den Bundesautobahnen in der Regel - so auch im Streitfall - eine Begrenzung der Geschwindigkeit nicht besteht, muss der Einfahrende jedenfalls bei normalen Straßen- und Sichtverhältnissen, wie sie im Wesentlichen hier gegeben waren, mit der Möglichkeit rechnen, dass sich ihm Kraftfahrer mit Geschwindigkeiten von 150 km/h bis 200 km/h nähern. Deshalb darf er nicht auf die Überholspur wechseln, solange er nicht die Gewissheit hat, dass sich ihm kein derartig schnelles Fahrzeug, auch nicht möglicherweise durch andere Fahrzeuge verdeckt, nähert und durch sein Wechseln auf die Überholspur gefährdet werden könnte vgl. u.a. BGH, Urteil vom 26.11.1985 - VI ZR 149/84 -, NJW 1986, 1044 = VersR 1986, 169 = MDR 1986, 397; OLG Hamm, Urteil vom 21.6.1993 - 6 U 51/93 -, NZV 1994, 229.

Gilt nach den aufgezeigten Gegebenheiten mithin nicht der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende den Unfall in Folge zu hoher Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit oder fehlendem Sicherheitsabstandes verschuldet hat, weil der Schluss, dass dem Auffahrenden die Vorfahrt genommen worden ist, mindestens ebenso nahe liegt, so spricht bei der hier gegebenen Verkehrssituation (umgekehrt) der Beweis des ersten Anscheins gegen den Einfahrenden vgl. u.a. KG Berlin, Urteil vom 12.3.2001 - 12 U 9790/99 -, VersR 2002, 628 = MDR 2001, 986; OLG Koblenz, Urteile vom 3.8.1992 - 12 U 798/91 -, NZV 1993, 28, und vom 18.1.1993 - 12 U 1821/91 -, VersR 1994, 361.

Danach muss der einfahrende Kläger vollen Beweis dafür erbringen, dass der im fließenden Autobahnverkehr befindliche Zeuge G den Auffahrunfall verschuldet hat, ohne dass ihm insoweit ein Anscheinsbeweis zu Gute kommt vgl. u.a. BGH, Urteil vom 6.4.1982 - VI ZR 152/80 -, NJW 1982, 1595 = VersR 1982, 672 = MDR 1982, 841; KG Berlin, Urteil vom 12.3.2001, a.a.O..

Einen derartigen Beweis hat der Kläger nicht geführt. Er behauptet in diesem Zusammenhang (lediglich), er habe sich vor dem Fahrspurwechsel vergewissert, dass der linke Fahrstreifen frei sei; als er das Fahrzeug des Zeugen G in einer Entfernung von mindestens 200 m auf dem linken Fahrstreifen gesehen habe, habe er den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und sei auf die linke Fahrspur gefahren. Bei dieser Einlassung bleibt zum einen völlig unklar, wie der Kläger die angegebene Distanz zum sich von hinten nähernden Fahrzeug festgestellt haben will, und zum andern fehlt jede Aussage darüber, mit welcher Geschwindigkeit sich der Kleintransporter des Zeugen G nach Einschätzung des Klägers von hinten genähert hat. Ohne aber Gewissheit über die Entfernung und Geschwindigkeit des Kleintransporters zu haben, war ein Fahrspurwechsel mehr als leichtfertig. Der Kläger will - so sein Vorbringen in der Zulassungsbegründung vom 10.6.2003 - nicht ausschließen, dass der Zeuge G schneller als 130 km/h gefahren ist. Bei einer Geschwindigkeit von 150 km/h legt ein Fahrzeug 41,67 m pro Sekunde zurück und der Gesamtanhalteweg beträgt unter Zugrundelegung eines Vorbremswegs von 41,67 m (Reaktionszeit: 0,8 sec., Bremsschwellzeit: 0,2 sec.) und eines Bremswegs von 153,71 m (ausgehend von einer mittleren Bremsverzögerung von 5,5 m/s² bei nasser Schwarzteerdecke) rund 195 m in der Verkehrsunfallanzeige vom 24.2.2001 - Bl. 19 der Bußgeldakten 5 OWi 433/01 - ist bei "Straßenzustand" festgehalten "Nass"; bestätigt wird dies durch die Fotos Bl. 25 bis 27 der Bußgeldakten, hier insbesondere Bild Nr. 2; damit ist dann zugleich die Frage geklärt, warum keine Bremsspur vorhanden war.

Diese beispielhafte Berechnung zeigt, dass sich das Unfallgeschehen schon dann plausibel erklären lässt, wenn sich der Kläger in der Distanz des auf der Überholspur befindlichen Kleintransporters verschätzt haben sollte, dieses Fahrzeug also tatsächlich keine 200 m von dem gerade auf die Normalspur eingefahrenen Fahrzeug des Klägers entfernt war, und weiter berücksichtigt wird, dass in der Zeit zwischen der Rückschau des Klägers, dem Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers und dem Fahrspurwechsel sich der Abstand des Kleintransporters weiter verkürzt hat. Nichts zu seinen Gunsten herleiten kann der Kläger im hier gegebenen Zusammenhang daraus, dass der Zeuge G (möglicherweise) die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat vgl. dazu u.a. OLG Köln, Urteil vom 21.10.1997 - 24 U 79/97 -, VersR 1998, 1430 = NZV 1999, 43; OLG Düsseldorf, Urteil vom 31.7.1967 - 1 U 155/66 -, VersR 1968, 781 (Zurücktreten der Betriebsgefahr eines mit sehr hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn fahrenden PKW - 160 km/h - gegenüber dem groben Verschulden des auf die Autobahn einfahrenden Fahrzeugführers.

Wie bereits eingangs dargelegt, obliegt dem auf die Autobahn einfahrenden Fahrzeugführer gegenüber dem auf den durchgehenden Fahrbahnen der Autobahn befindlichen bevorrechtigten Verkehr eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Der einfahrende und alsdann auf die Überholspur wechselnde Fahrzeugführer muss sich mit der erforderlichen Gründlichkeit und Ruhe über die rückwärtige Verkehrslage orientieren, insbesondere darüber, ob sich Kraftfahrer mit höherer Geschwindigkeit auf dem Überholstreifen nähern oder voraussichtlich alsbald dorthin hinüber wechseln werden u.a. BGH, Urteil vom 26.11.1985, und OLG Hamm, Urteil vom 21.6.1993, jeweils a.a.O..

Im Weiteren hat das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Recht den auch im öffentlichen Dienstrecht anwendbaren Rechtsgedanken des § 282 BGB herangezogen. Danach trifft einen Beamten, der objektiv eine Dienstpflicht verletzt hat, die materielle Beweislast dafür, dass er die Pflichtverletzung ohne ein für die Haftung ausreichendes Verschulden begangen hat. Obwohl der Beamte nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haftet, geht es beim Vorliegen einer objektiven Pflichtverletzung und eines dadurch verursachten Schadens zu seinen Lasten, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass er die Pflichtverletzung vorsätzlich oder grob fahrlässig begangen hat vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 11.3.1999 - 2 C 15/98 -, ZBR 1999, 278.

Vorliegend steht eine objektive Pflichtverletzung des Klägers, nämlich eine Verletzung der Obhutspflicht hinsichtlich des ihm überlassenen Dienstfahrzeugs, aufgrund der Mißachtung der Sorgfaltspflicht beim Einfahren auf die Autobahn beziehungsweise dem anschließenden Spurwechsel, nach dem Beweis des ersten Anscheins fest. Des Weiteren ist eindeutig, dass die Schadensursache aus einem Gefahrenbereich hervorgegangen ist, für den der Kläger gegenüber seinem Dienstherrn die alleinige Verantwortung trägt vgl. zur Einschränkung der Beweislastregel des § 282 BGB durch Zubilligung erleichterter Entlastungsmöglichkeiten bei vom Beamten nicht allein zu verantwortenden Gefahrenbereichen u.a. BVerwG, Beschluss vom 11.2.1986 - 6 B 117/85 -, NJW 1986, 2523 = NVwZ 1986, 923 = ZBR 1986, 252.

Der Kläger hat, wie das Verwaltungsgericht (Seite 9, 10 des Urteils) überzeugend dargelegt hat, nicht den Nachweis erbringen können, dass der in Rede stehende Unfall mit dem Dienstfahrzeug von ihm nicht durch eine grob fahrlässige Mißachtung des Vorfahrtsrechts des Zeugen G herbeigeführt worden ist vgl. zur abweichenden Beweissituation bei Inanspruchnahme des Kaskoversicherers durch den versicherten Kfz-Halter etwa BGH, Urteil vom 29.1.2003 - IV ZR 173/01 -, NJW 2003, 1118 (1119): Danach ist im Rahmen des § 61 VVG der Versicherer auch für die subjektive Seite des Schuldvorwurfs der groben Fahrlässigkeit darlegungs- und beweispflichtig, ohne dass dabei die Grundsätze des Anscheinsbeweises Anwendung finden können.

Eine vom Kläger geltend gemachte Mitschuld des Zeugen G an dem Verkehrsunfall lässt, wie das Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, den gegenüber dem Kläger auf der Grundlage des § 93 Abs. 1 Satz 1 SBG feststehenden haftungsbegründenden Tatbestand unberührt. Eine Haftungsminderung der Höhe nach würde voraussetzen, dass eine zivilrechtliche Haftungsverteilung im Rahmen der §§ 17 StVG, 254 BGB zu Lasten des Zeugen G durchgeführt worden wäre, wofür aber, da der Beklagte den am Dienstfahrzeug entstandenen Schaden in vollem Umfang geltend macht, keine Anhaltspunkte gegeben sind. Nach dem feststehenden Sachverhalt und dem sich anhand der polizeilichen Unfallaufnahme ergebenden Spurenbild, das eine weitere haftungsrelevante Aufklärung etwa durch eine gutachterliche Unfallrekonstruktion wenig erfolgversprechend erscheinen ließ, kann dem Beklagten nicht angelastet werden, dass er auf die (zivilrechtliche) Geltendmachung einer Mithaftung des Unfallgegners verzichtet hat.

Bei diesen Gegebenheiten bestand entgegen der Meinung des Klägers für das Verwaltungsgericht weder Veranlassung, von Amtswegen - einen entsprechenden Beweisantrag hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 1.4.2003 nicht gestellt - den Zeugen S zu vernehmen, zumal dessen schriftliche Zeugenaussage vorlag vgl. Bl. 33, 33 R der Bußgeldakten, noch in sonstiger Weise Beweis zu erheben - der Kläger spricht insoweit lediglich von der Erforderlichkeit einer weiteren Beweiserhebung mit Blick auf die Klärung der genauen Unfallörtlichkeit, ohne jedoch anzugeben, wie diese Beweiserhebung aussehen soll -. Eine ausdrückliche Verfahrensrüge unter Anführung des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO hat der Kläger, der als Zulassungsgrund nur § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend macht, nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 25 Abs. 2, 14, 13 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.

Ende der Entscheidung

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