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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 12.08.2009
Aktenzeichen: 2 L 180/05
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 94
Ein verwaltungsgerichtliches Verfahren kann entsprechend § 94 VwGO ausgesetzt werden, wenn die Entscheidung von der Gültigkeit einer mit einem Normenkontrollantrag angegriffenen Satzung (hier Bebauungsplanerweiterung) abhängt.
Gründe:

1. Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das u. a. den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei. Anlass für die Aussetzung des Verfahrens ist der von einem Nachbarn der Kläger am 29.06.2009 beim Oberverwaltungsgericht gestellte Antrag nach § 47 VwGO, die 1. Erweiterung des Bebauungsplans der Stadt A-Stadt Nr. 37 ("...") vom 06.05.2009, der für das Grundstück der Kläger nunmehr ein reines Wohngebiet festsetzt, für unwirksam zu erklären (2 K 102/09).

Zwar ist eine Vorgreiflichkeit im Sinne des § 94 VwGO dann nicht gegeben, wenn in dem anderen Verfahren nur über dieselbe oder eine vergleichbare Rechtsfrage zu entscheiden ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 94 RdNr. 4a, m. w. Nachw.). Auch bei der Prüfung der Gültigkeit einer Rechtsnorm in einem Normenkontrollverfahren geht es nach allgemeiner Ansicht nicht um das Bestehen oder Nichtbestehen eines konkreten "Rechtsverhältnisses", sondern um die Klärung einer abstrakten Rechtsfrage (vgl. VGH BW, Beschl. v. 11.09.1992 - 10 S 1450.91 -, NVwZ 1993, 1993; Kopp/Schenke, a.a.O., jeweils m. w. Nachw.). Gründe der Prozessökonomie sprechen aber nach dem Sinn und Zweck des § 94 VwGO dafür, die Vorschrift auch in den Fällen entsprechend anzuwenden, in denen Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits gemäß § 47 VwGO die Prüfung der Gültigkeit einer Norm durch das Oberverwaltungsgericht ist (VGH BW, Beschl. v. 11.09.1992, a.a.O.; OVG Bremen, Beschl. v. 14.01.1986 - 2 B 73/85 -, NJW 1986, 2335; BayVGH, Beschl. v. 13.01.2004 - 3 B 03.2021 -, Juris; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 94 RdNr. 4a; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 08.12.2000 - 4 B 75.00 -, NVwZ-RR 2001, 483). Denn mit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Normenkontrollantrag wird sich das verwaltungsgerichtliche Verfahren, in dem die Wirksamkeit derselben Rechtsnorm inzident zu prüfen ist, regelmäßig erledigen. Diese Vorgehensweise entspricht auch dem Zweck des Normenkontrollverfahrens nach § 47 VwGO. Es soll nicht nur individuellen Rechtsschutz bieten, sondern durch eine allgemeinverbindliche und abstrakte Feststellung der Ungültigkeit einer Rechtsvorschrift einer Vielzahl anderer Verfahren vorbeugen, deren Ergebnis von der Gültigkeit dieser Norm abhängen kann (VGH BW, Beschl. v. 11.09.1992, a.a.O., m. w. Nachw.).

2. Die Entscheidung über die vorliegende Berufung hängt von der Gültigkeit der mit dem Normenkontrollantrag im Verfahren 2 K 102/09 angegriffenen Erweiterung des Bebauungsplans ab, auch wenn der Plan erst nach Erlass der letzten Behördenentscheidung in Kraft getreten ist.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche Überprüfung von bauaufsichtlichen Verwaltungsakten durch die Gerichte ist zwar regelmäßig die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Eine Nutzungsuntersagungsverfügung beinhaltet indessen nicht nur das Gebot, die beanstandete Nutzung (einmalig) einzustellen, sondern auch das Verbot, auf Dauer dieselbe oder eine vergleichbare Nutzung dort wieder aufzunehmen. Deshalb kann eine - ursprünglich rechtmäßige - Nutzungsuntersagung als unverhältnismäßig und ermessensfehlerhaft auf eine Anfechtungsklage hin aufgehoben werden, wenn die untersagte Nutzung nach einer dem Betroffenen günstigen Änderung der Verhältnisse materiell baurechtmäßig geworden ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.01.1989 - 4 B 132.88 -, Juris; vgl. auch Urt. v. 22.01.1998 - 3 C 6.97 -, BVerwGE 106, 141; OVG NW, Urt. v. 19.12.1995 - 11 A 2734/93 -, UPR 1996, 458). So liegt es hier.

Bei Wirksamkeit der Erweiterung des Bebauungsplans wäre die Dauerwohnnutzung aufgrund der Festsetzung eines reinen Wohngebiets (§ 3 BauNVO) für das Grundstück der Kläger bauplanungsrechtlich zulässig. Hingegen würde sich bei Unwirksamkeit dieser Erweiterung das Grundstück der Kläger weiterhin in einem unbeplanten und zu einem erheblichen Teil von kleingärtnerischer Nutzung umgebenen Bereich befinden mit der Folge, dass die Nutzung des Gebäudes der Kläger zu Dauerwohnzwecken jedenfalls nicht offensichtlich genehmigungsfähig wäre. Dann wären die Voraussetzungen für den Erlass einer Nutzungsuntersagung (weiterhin) gegeben (st. Rspr. d. Senats, vgl. Beschl. v. 25.08..2004 - 2 M 262/04 -, JMBl LSA 2006, 363; Beschl. v. 24.06.2002 - 2 M 309/01 -).

Die vom Rechtsvorgänger des Beklagten erlassene Nutzungsuntersagung war vor Inkrafttreten der Planänderung auch nicht aus anderen Gründen rechtlich zu beanstanden; sie lässt insbesondere keinen Ermessensfehler erkennen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 25.08.2004, a.a.O.) entspricht es regelmäßig pflichtgemäßem Ermessen, wenn die Bauaufsichtsbehörde eine formell illegale Nutzung durch eine entsprechende Anordnung unterbindet. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Nutzungsuntersagung ist die daran anknüpfende Rechtsfolge indiziert, es handelt sich insoweit um einen Fall des so genannten intendierten Ermessens. Die Behörde macht deshalb im Regelfall von ihrem Ermessen in einer dem Zweck des Gesetzes entsprechenden Weise Gebrauch, wenn sie die formell rechtswidrige Nutzung einer Anlage unterbindet.

Die Nutzungsuntersagung hätte auch nicht aufgrund eines den Klägern zukommenden Vertrauensschutzes unterbleiben müssen. Die Behörde ist grundsätzlich befugt, auch dann noch gegen bauordnungswidrige Zustände einzuschreiten, wenn sie diese längere Zeit geduldet hat; das schlichte Unterlassen bauaufsichtlichen Einschreitens hindert den Erlass einer solchen Verfügung ohne Hinzutreten besonderer einzelfallbedingter Umstände grundsätzlich nicht (Beschl. d. Senats v. 25.08.2004, a.a.O., m. w. Nachw.). Wenn eine rechtswidrige bauliche Anlage über lange Zeit hinweg bestanden hat, ohne dass die Bauaufsichtsbehörde Veranlassung zum Einschreiten gesehen hat, können sich zwar gesteigerte Anforderungen an die Ermessensbetätigung und deren Begründung ergeben (vgl. BayVGH, Urt. v. 21.12.1999 - 2 B 94.1741 -, Juris; Urt. v. 17.06.1998 - 2 B 97.171 -; BayVBl 1999, 590). Im konkreten Fall hat aber der Rechtsvorgänger des Beklagten in der angefochtenen Verfügung hinreichend deutlich gemacht, weshalb er erst im Jahr 2004 die Nutzungsuntersagung ausgesprochen hat. Er hat hierzu angegeben, es sei ihm zwar seit der Bauantragstellung im Jahr 1997 bekannt, dass die Kläger das Gebäude - zumindest teilweise - zu Wohnzwecken nutzten. Ursprünglich sei jedoch davon ausgegangen worden, dass auf Grund der örtlichen Gegebenheiten (hohe Grundstückseinfriedungen mit wenig Einblickmöglichkeiten) keine besonders hohe Gefahr der Nachahmung bestehe und deshalb zunächst der Ausgang des Baugenehmigungsverfahrens abgewartet werden sollte, in dem die Zulässigkeit einer Wohnbebauung auf dem Grundstück der Kläger habe geklärt werden sollen. Im Verlaufe dieses Verfahrens habe sich dann aber gezeigt, dass die Kläger selbst nicht bereit seien, den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten, indem sie durch ungenehmigte Umbaumaßnahmen in den Jahren 1998 (Errichtung eines Anbaus) und 2001 (Dachaufstockung) versucht hätten, vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese Baumaßnahmen seien auch in deren Umfeld nicht unbemerkt geblieben mit der Folge, dass im Jahr 2002 rechtswidrig ein weiteres Wohnhaus entstanden sei. Diese Erwägungen geben zu Beanstandungen keinen Anlass.

Die Kläger können sich auch nicht auf mündliche Erklärungen des früheren Landrats des Rechtsvorgängers des Beklagten bezüglich einer (weiteren) Duldung der Wohnnutzung berufen. Der ermessensfehlerfreie Erlass einer Nutzungsuntersagung kann zwar (auch dann) ausgeschlossen sein, wenn die Bauaufsichtsbehörde durch vorausgegangenes positives Tun einen Vertrauenstatbestand zugunsten des Bauherrn geschaffen hat. Dies kann durch eine förmliche Duldung erfolgen, nämlich die Zusage im Sinn des § 38 VwVfG, eine bauaufsichtliche Maßnahme nicht zu erlassen, die zu ihrer Wirksamkeit jedoch der Schriftform bedarf (vgl. hierzu BayVGH, Urt. v. 17.06.1998, a. a. O.; OVG NW, Beschl. v. 02.02.1998 - 10 A 325/98 -, Juris). Dies gilt auch für bauaufsichtliche Erklärungen, die nicht bloß eine Zusicherung enthalten, sondern die Duldung selbst schon verbindlich aussprechen. In Betracht kommt zwar auch ein über die bloße Untätigkeit hinausgehendes besonderes Verhalten der Behörde, aufgrund dessen der Betroffene zu der Annahme berechtigt ist, dass die Behörde von der Befugnis zum Einschreiten keinen Gebrauch (mehr) machen will (BayVGH, Urt. v. 17.06.1998, a. a. O.). Voraussetzung für die Wirksamkeit einer unbefristeten Duldungszusicherung ist aber, dass die Zusicherung - anders als hier - schriftlich ergangen ist; denn derartige Zusicherungen sind in ihren Wirkungen vergleichbar mit Zusicherungen, eine Baugenehmigung zu erteilen. Dies gilt auch für bauaufsichtliche Erklärungen, die nicht bloß eine Zusicherung enthalten, sondern die Duldung selbst schon verbindlich aussprechen. Die für Baugenehmigungen ausdrücklich vorgeschriebene Schriftform (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 4 BauO LSA a. F. und § 71 Abs. 2 BauO LSA n. F.), die der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dient, verlöre ihren Sinn, wenn sie nicht auch auf entsprechende Zusicherungen angewendet würde (vgl. zum Ganzen: NdsOVG, Urt. v. 26.08.1992 - 1 L 99/91 -, OVGE MüLü 43, 308, m. w. Nachw.). Das Erfordernis nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zeigt gerade auch der vorliegende Fall, in dem streitig bzw. unklar geblieben ist, worauf sich die Duldung des früheren Landrats des Rechtsvorgängers des Beklagten konkret beziehen sollte.

Die Nutzungsuntersagung ist auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte - wie die Kläger vorgetragen haben - in vergleichbaren Fällen (rechtswidrig) Baugenehmigungen erteilt hätte. Wie der Senat im Zulassungsbeschluss vom 07.03.2007 unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung ausgeführt hat, kann ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde zwar dann gleichheitswidrig und damit ermessensfehlerhaft sein, wenn sie vorher und nachher gleichartige Vorhaben in demselben Baugebiet bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft rechtswidrig genehmigt hat. So liegt der Fall hier aber nicht. Der Beklagte hat hierzu im Berufungsverfahren auf Anforderung des Berichterstatters Baugenehmigungen für Vorhaben in der Umgebung des Grundstücks der Kläger sowie einen Lageplan vorgelegt, in welchem die Gebäude dargestellt sind. Die im Plan mit den Nrn. 2 bis 6 gekennzeichneten Vorhaben liegen innerhalb des Bebauungsplans 37 ("...") in seiner bisherigen, nicht erweiterten Fassung, der dort eine Wohnnutzung zulässt. Das Vorhaben Nr. 1 betrifft das Wohngebäude der Familie E. auf einem Grundstück an der Straße "K...". Da dieses Grundstück vom Grundstück der Kläger etwa 250 m entfernt liegt und sich zwischen den beiden zur Erschließung bestimmten Straßen zwei weitere Straßen bzw. Wege sowie eine Vielzahl von Kleingärten befinden, gehört dieses Grundstück nicht mehr zur näheren Umgebung des Grundstücks der Kläger. Hinzu kommt, dass die Baugenehmigung bereits im Jahr 1992 vom damaligen Landkreis A-Stadt erteilt wurde. Das mit der Nr. 7 bezeichnete Vorhaben des Herrn H. betrifft ausweislich der Baugenehmigung vom 08.06.1999 lediglich eine Terrassenüberdachung. Mit der Nr. 8 ist das Gebäude der Kläger gekennzeichnet. Das Gebäude der Eheleute W. auf dem Nachbargrundstück (Nr. 9) wurde nach den nicht bestrittenen Angaben des Beklagten bereits im Jahr 1927 errichtet.

Die am 30.10.2008 vom Berichterstatter durchgeführte Einnahme eines Augenscheins führt zu keiner anderen Beurteilung. Zwar konnte dort festgestellt werden, dass auf weiteren Grundstücken außerhalb des bisherigen Geltungsbereichs des Bebauungsplans im Umfeld des Grundstücks der Kläger Gebäude (möglicherweise) zu Dauerwohnzwecken genutzt werden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass über die bereits genannten Baugenehmigungen hinaus rechtswidrig weitere Baugenehmigungen erteilt wurden. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte gleichheitswidrig von dem Erlass weiterer Nutzungsuntersagungen abgesehen hat, obwohl er von unzulässigen Dauerwohnnutzungen vergleichbarer Art Kenntnis hatte. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass dem bauaufsichtlichen Einschreiten Fälle, in denen noch nicht eingeschritten worden ist, nur ausnahmsweise entgegengehalten werden können, nämlich dann, wenn es nach der Art des Einschreitens an jedem System fehlt, für diese Art des (zeitlichen) Vorgehens keinerlei einleuchtenden Gründe sprechen und die Handhabung deshalb als willkürlich angesehen werden muss. Die Bauaufsichtsbehörde darf sich also auch auf die Regelung von Einzelfällen beschränken, wenn sie hierfür sachliche Gründe anzuführen vermag. Eine allgemeingültige zeitliche Grenze für ein unterschiedliches Vorgehen gegen baurechtswidrige Zustände ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz nicht (vgl. zum Ganzen: BverwG, 23.11.1998 - 4 B 99.98 -, BauR 1999, 734). Deshalb rechtfertigt der Umstand, dass zwischenzeitlich (möglicherweise) weitere Gebäude rechtswidrig zu Dauerwohnzwecken genutzt werden, nicht die Annahme, dass der Beklagte gleichheitswidrig vorgegangen ist. Dem Beklagten muss die Möglichkeit eingeräumt werden, sich zunächst ein Bild von neu hinzugekommenen rechtswidrigen Dauerwohnnutzungen zu verschaffen und sukzessive bauordnungsmäßige Zustände herzustellen.

Der Senat macht nach alldem im Rahmen des ihm nach § 94 VwGO eingeräumten Ermessens - insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Beteiligten die Aussetzung des Verfahrens angeregt bzw. sich hiermit einverstanden erklärt haben - von der Aussetzungsmöglichkeit Gebrauch.

Ende der Entscheidung

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