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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 16.12.2003
Aktenzeichen: 2 L 239/01
Rechtsgebiete: LSA-SchulG, LSA-Verf, GG


Vorschriften:

LSA-SchulG §§ 14 ff
LSA-SchulG § 36 I
LSA-SchulG § 36 II 2
LSA-Verf Art. 9 I
LSA-Verf Art. 11 I 1
LSA-Verf Art. 25 II
GG Art. 4 I
GG Art. 6 II 1
1.Die Schulpflicht kann nicht durch den Besuch einer Schule in freier Trägerschaft erfüllt werden, die nicht staatlich genehmigt ist.

2.Das Elternrecht hat keinen Vorrang vor dem staatlichen Erziehungsauftrag. Es wird durch die allgemeine Schulpflicht verfassungsgemäß eingeschränkt.

3.Auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit geben keinen Anspruch auf Befreiung von der Schulpflicht.

4.Staatliche Schulen dürfen nicht "missionieren", sondern müssen die Schulpflichtigen unbeschadet ihrer und ihrer Elternhäuser religiösen Ausrichtung integrieren. Die Schule darf nicht zwingen, von ihnen abgelehnte Erziehungsziele als verbindlich anzuerkennen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 L 239/01

Datum: 16.12.2003

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 124a Abs. 4-6 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO 02 -, sowie auf § 154 Abs. 2 VwGO <Kosten> und auf § 13 Abs. 1 S. 1 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]), <Streitwert>.

1. Die geltend gemachten "ernstlichen Zweifel" an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung (i. S. des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen nicht vor.

Die Tochter der Kläger ist gemäß § 36 Abs.1 des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt - SG LSA - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1996 (LSA-GVBl., S. 281), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.03.2002 (LSA-GVBl., S. 130 [152 <Nr. 243>]), verpflichtet, entweder eine staatliche Schule oder eine Ersatzschule zu besuchen. Die Erziehungsberechtigten müssen dafür sorgen, dass minderjährige Schulpflichtige ihre in § 36 ff. SG LSA im einzelnen umschriebene Verpflichtung zur Erfüllung der Schulpflicht nachkommen. Durch eine Unterrichtung über das amerikanische Fernschulprogramm der Bob Jones Universität kann der Schulpflicht nicht genügt werden, da diese Schule nicht staatlich genehmigt oder anerkannt ist und daher keinerlei Gewähr dafür bietet, dass sie den für die Erfüllung der Schulpflicht in Betracht kommenden Schulen gleichwertig ist.

Eine gesetzliche Ausnahme von der Schulpflicht (§ 36 Abs. 2 S. 2 SG LSA) kommt nicht in Betracht; die Voraussetzungen dafür liegen nicht vor; denn die Durchsetzung der Schulpflicht nach den vorstehend genannten Vorschriften verstößt nicht gegen grundrechtlich geschützte Rechtspositionen der Kläger, insbesondere nicht gegen das Elternrecht (Art. 11 Abs. 1 S. 1 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16.07.1992 [LSA-GVBl., S.600] - LVerf-LSA -; Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) oder das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 9 Abs.1 LVerf-LSA , Art. 4 Abs. 1 GG).

Das elterliche Erziehungsrecht gibt den Klägern kein Recht, die Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht ihrer Tochter durch den Besuch einer staatlichen oder einer Ersatzschule zu verweigern. Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) erkennt die Pflege und Erziehung der Kinder als das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht an. Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern, die auch in den schulischen Bereich hineinreicht und hier insbesondere das Bestimmungsrecht für den vom Kind einzuschlagenden Bildungsweg umfasst, beruht auf der Erwägung des Verfassungsgebers, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die bei objektiv vernünftiger Entscheidung vermeidbar wären (vgl. BVerfG, Urt. v. 06.12.1972 - 1 BvR 230/70, 95/71 -, BVerfGE 34, 165 [184]; Beschl. v. 17.02.1982 - 1 BvR 188/80 -, BVerfGE 60, 79 [94]).

Die über die Schulpflicht getroffenen gesetzlichen Regelungen sind nicht bereits deshalb mit dem "Elternrecht" des Art. 11 Abs. 1 Satz 1 LVerf-LSA unvereinbar, weil die Bestimmung über den vermittelten Inhalt und / oder über den Schulbesuch nach der Verfassungsordnung in erster Linie oder mit Vorrang den Eltern zugeordnet wäre.

Der Staat ist im Bereich der Schule nicht auf das ihm durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zugewiesene Wächteramt beschränkt. Der staatliche Erziehungsauftrag, von dem Art. 7 Abs. 1 GG ausgeht, ist im Bereich der Schule dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet (vgl. BVerfGE 34, 165 [183]; BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, BVerfGE 47, 46 [69 ff.]). Der Staat hat auch nach der Landesverfassung eigenständige und den elterlichen gleichwertige Erziehungsaufgaben, die er innerhalb des ihm in Konkurrenz zum elterlichen Erziehungsrecht zugestandenen Rahmens durch demokratische Mehrheitsentscheidung bestimmen und auch gegen Vorstellungen einzelner Eltern festlegen darf. Andere Normen der Landesverfassung verstärken das "Elternrecht" nicht.

Es liegt nicht ausschließlich in der Macht der und damit auch nicht einzelner Eltern, die tägliche Aufenthaltszeit ihrer Kinder in der Schule gegen anders lautende gesetzliche Regelungen zu bestimmen. Art. 25 Abs. 2 LVerf-LSA, der die allgemeine Schulpflicht statuiert und deren Ausgestaltung dem einfachen Gesetzgeber überlässt (Art. 25 Abs. 3 LVerf-LSA), begrenzt das "Elternrecht" aus Art. 11 Abs. 1 Satz 1 LVerf-LSA. Ohne Bedeutung ist dabei, dass das ("Eltern-") Grundrecht innerhalb einer Einrichtungsgarantie eingeschränkt wird; denn auch für die Landesverfassung gilt wie für das Grundgesetz, dass die Verfassung als Einheit anzusehen ist (vgl. insoweit zur Bundesverfassung: BVerfG, Beschl. v. 16.07.1998 - 2 BvR 1953/95 -, NJW 1999, 43 [45]; Beschl. v. 16.10.1979 - 1 BvR 647/70, 7/74 -, NJW 1980, 575 [578]; Beschl. v. 19.10.1971 - 1 BvR 387/65 -, BVerfGE 32, 98 [107 ff]; BVerfGE 41, 29 [50 f]; BVerfG, Beschl. v. 16.10.1979 - 1 BvR 647/70, 7/74 -, BVerfGE 52, 223 [246]). Die Begriffsdefinitionen des Art. 3 LVerf-LSA stehen einer solchen Auslegung nicht entgegen. Durch sie wird nur die jeweilige Reichweite der Bindung von Grundrechten, Einrichtungsgarantien und Staatszielen festgelegt, ohne dass daraus geschlossen werden könnte, Grundrechte dürften nur durch andere Grundrechte, also Verfassungsnormen mit gleichem Rang, eingeschränkt werden. Auch soweit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG das "natürliche Recht" der Eltern anerkennt, ihre Kinder zu erziehen, und soweit sie ihnen damit vor allem gestattet, einen sog. "Gesamtplan" der Erziehung zu entwerfen (BVerfGE 34, 165 [183]; 47, 46 [75]; BVerfGE 59, 360 [380]; 98, 218 [245]; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 03.05.1988 - BVerwG 7 C 96.86 -, BVerwGE 79, 298 [301]), verdrängt dieses "Elternrecht" die "staatliche Schulaufsicht" (Art. 7 Abs. 1 GG) nicht; der Staat ist lediglich gehalten, den elterlichen Gesamtplan bei Ausgestaltung seiner Maßnahmen zu achten und dabei vor allem im Schulangebot offen zu sein (BVerfG, a. a. O.). Zu den staatlichen Aufgaben der Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG) gehört gerade in erster Linie die Organisation des Schulbetriebs (vgl. bes.: BVerfGE 26, 228 [237]; 34, 165 [182]; 41, 88 [111]; 47, 46 [71, 80]; 52, 223 [236]; BVerfG, Beschl. v. 26.02.1980 - 1 BvR 684/78 -, BVerfGE 52, 185 [196]; BVerfGE 59, 360 [377]; vgl. auch BVerwGE 79, 298 [300]; BVerwG, Urt. v. 18.12.1996 - BVerwG 6 C 6.95 -, BVerwGE 104, 1 [9]). Dabei steht dem Landesgesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 34, 165 [181]; 41, 29 [44]; 47, 46 [55]; 53, 185 [196]; 59, 360 [377]); innerhalb dieses Rahmens bestimmt die Mehrheit im Parlament, welche organisatorischen Maßnahmen getroffen werden sollen (so bei Schulformen: BVerfG, NJW 1977, 1723 [1723] <Einführung der "gymnasialen Oberstufe" in Hessen> ; BVerfGE 41, 88 [107] <Einführung der "Gemeinschaftsschule" in Nordrhein-Westfalen>). Über die reine Organisationsbefugnis hinaus gehören zum Gestaltungsbereich der staatlichen Schulaufsicht aber auch die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge, das Setzen von Lernzielen sowie die Entscheidung darüber, ob und wie weit diese Ziele erreicht worden sind (BVerfGE 34, 165 [182]; BVerfG, NJW 1977, 1723 [1723]). Auch hier besteht kein Vorrang des Elternrechts, sondern ein elterlicher Gesamterziehungsplan muss lediglich beachtet werden (LVfG LSA, Urt. v. 15.01.2002 - 9,12,13/01 -).

Das Elternrecht wird daher durch die allgemeine Schulpflicht in verfassungsmäßiger Weise eingeschränkt; die Eltern können die Erfüllung der Schulpflicht nicht unter Berufung auf eine Glaubens- und Gewissensfreiheit oder auf andere Gründe, aus denen sie die öffentliche Schule als ungeeignet für ihre Kinder ansehen, verweigern (allgemeine Meinung, vgl. BVerfGE 34, 165 [186 f.]; BVerfG, Beschl. v. 05.09.1986 - 1 BvR 794/86 -, BayVBl 1986, 752; BVerwG, Beschl. v. 09.04.1975 - BVerwG VII B 68.74 -, Buchholz 421 [Kultur- und Schulwesen] Nr. 42; AG Bonn NJW 1989, 1047; VG Frankfurt NVwZ-RR 1988, 23; Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl. 1983, RdNr. 186; Stein/Roell, Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 263).

Die Erfüllung der Schulpflicht ist auch unter Abwägung der von den Klägern geltend gemachten Glaubens- und Gewissensgründe nicht unzumutbar. Das gilt schon im Hinblick darauf, dass der Schulpflicht nicht zwingend durch den Besuch einer öffentlichen Schule genügt werden muss, sondern dass es den Eltern offen steht, ihre Kinder in eine ihnen (besser) geeignet erscheinende Schulen in freier Trägerschaft (§ 14 ff. SG LSA) zu schicken. Das "Ökumenische Domgymnasium Magdeburg" ist nicht die einzige Schule in freier Trägerschaft in Sachsen-Anhalt.

Aber auch der Besuch der öffentlichen Schule ist auch sonst nicht unzumutbar.

Die staatlichen Schulen dürfen keine "missionarische" Schule sein, die Kinder müssen unbeschadet der religiösen Ausrichtung ihres Elternhauses in die Schulgemeinschaft integriert werden und dürfen weder rechtlich noch praktisch dem Zwang ausgesetzt werden, von ihnen abgelehnte Erziehungsziele als verbindlich anzuerkennen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975 - 1 BvR 63/68 -, BVerfGE 41, 29 [51 f.]; Beschl. v. 16.10.1979 - 1 BvR 647/70, 7/74 -, BVerfGE 52, 223 [237]).

Durch eine Schule, in der nach diesen Grundsätzen unterrichtet und erzogen wird, werden Eltern nicht in einen unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt gebracht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975 - 1 BvR 428/69 -, BVerfGE 41, 65 [84 ff. <86>]).

Sollte es an einer öffentlichen Schule zu Missständen kommen, so können und müssen Eltern diese im Einzelfall bekämpfen. Keinesfalls könnte hieraus ein Anspruch auf Befreiung von der Schulpflicht selbst hergeleitet werden.

Zu berücksichtigen ist auch, dass es den Eltern im Übrigen unbenommen bleibt, im Rahmen ihres Erziehungsrechts die Erziehung ihrer Kinder grundsätzlich nach ihren Vorstellungen zu gestalten, wobei sie die nach ihrer Meinung bestehenden Mängel der schulischen Erziehung in geeigneter Weise ausgleichen können.

Bei Anwendung dieser Grundsätze, die allen Beteiligten ein erhebliches Maß an Toleranz abverlangt, kann eine Befreiung der Tochter der Kläger vom Unterricht aus Glaubensgründen, wie sie die Kläger begehren, nicht gewährt werden.

2. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.

"Abweichung" i. S. des Zulassungsrechts ist begrifflich als eine Kontrolle zu verstehen, ob die angefochtene Entscheidung in einem das Ergebnis tragenden Begründungselement von einer im Instanzenzug vertretenen Auffassung abweicht. Dies setzt einen Vergleich der angefochtenen Entscheidung einerseits mit einer konkreten anderen voraus.

Rein formal ist deshalb erforderlich, die Entscheidung im Instanzenzug, von der abgewichen worden sein soll, zu bezeichnen und dabei so eindeutig zu bestimmen, dass sie zweifelsfrei identifiziert werden kann. Dies setzt grundsätzlich die Angabe des entscheidenden Gerichts, des Entscheidungsdatums und des Aktenzeichens oder aber der Fundstelle einer Veröffentlichung voraus (vgl. [für die rechtsähnliche Frage im Revisionszulassungsrecht] BVerwG, Beschl. v. 07.03.1975 - BVerwG VI CB 47.74 -, Buchholz 310 [VwGO] § 132 Nr. 130; Berlit, in: GK-AsylVfG § 78 RdNrn. 623 f.).

Um den für die Frage der "Divergenz" notwendigen Vergleich in der Sache zu ermöglichen, muss ferner dargelegt werden, dass ein vom Verwaltungsgericht gebildeter, tragender abstrakter, aber inhaltlich bestimmter Rechts- oder Tatsachensatz entweder ausdrücklich gebildet worden ist oder sich doch aus der Entscheidung eindeutig ergibt, dass das Verwaltungsgericht von einem abstrakten, fallübergreifenden Rechts- oder Tatsachensatz ausgegangen ist und seinen Erwägungen zugrunde gelegt hat (BVerfG, [Kammer-] Beschl. v. 07.11.1994 - 2 BvR 1375/94 -, DVBl. 1995, 36). Der aus der Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewonnene, hinreichend bezeichnete Rechts- oder Tatsachensatz ist sodann einem anderen eindeutig gegenüberzustellen, der aus der konkreten Entscheidung im Instanzenzug zu gewinnen ist (Berlit, a. a. O., RdNr. 617).

Diesen Anforderungen genügt die Zulassungsschrift ersichtlich nicht.

3. Auch der gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemachte Verfahrensfehler liegt nicht vor.

Unter den oben dargelegten Grundsätzen musste sich das Verwaltungsgericht keine nähere Sachkenntnis über die heutige Schulpädagogik und den Glauben der Kläger verschaffen.

Ende der Entscheidung

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