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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 31.03.2006
Aktenzeichen: 2 L 40/06
Rechtsgebiete: GG, AufenthG


Vorschriften:

GG Art. 16a
AufenthG § 16 I
1. Tschetschenische Volkszugehörige sind seit Ausbruch des 2. Tschetschenienkrieges im September 1999 bis heute in der Teilrepublik Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten - örtlich begrenzten - politischen Verfolgung ausgesetzt.

2. Ethnischen Tschetschenen, die ihren letzten Wohnort vor ihrer Ausreise in der Region Tschetschenien hatten, über keinen Inlandspass verfügen und in die Russische Föderation zurückkehren, müssen, wenn sie legal in der Russischen Föderation leben wollen, in die Region Tschetschenien zurückkehren.

Ihnen ist daher wegen der damit verbundenen Gefährdungen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT URTEIL

Aktenz.: 2 L 40/06

Datum: 31.03.2006

Tatbestand:

Der am ......1980 in G. (Tschetschenien) geborene ledige Kläger ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Er bezeichnet sich als tschetschenischen Volkszugehörigen vom Taib der Tchenkho und von islamischer Religionszugehörigkeit.

Nach eigenen Angaben verließ er am 01.01.2004 Inguschetien, wo er sich einen Monat lang in einem Flüchtlingslager aufgehalten habe, und reiste auf dem Landweg nach Deutschland ein. Identitätsdokumente besitzt er nicht.

Am 07.01.2004 hat der Kläger in L. Asyl beantragt.

Bei seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; im Folgenden: Bundesamt) am 15.01.2004 gab der Kläger im Wesentlichen Folgendes an:

Er habe in seiner Heimat tschetschenische Kämpfer mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Dabei sei er von russischen Soldaten festgenommen, dann misshandelt und gefoltert worden. Ihm und einem Cousin sei die Flucht geglückt. Er habe sich zunächst in Inguschetien versteckt. Da ihn aber russische Behörden gesucht haben, sei er aus Russland nach Deutschland geflohen.

Mit Bescheid vom 06.07.2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag verbunden mit einer fristgebundenen Abschiebungsandrohung ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.

Es begründete seine ablehnende Entscheidung wie folgt:

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG lägen im Fall des Klägers nicht vor, selbst wenn man sein Vorbringen als wahr unterstellen wollte. Ausreichende Hinweise darauf, dass der Kläger wegen eines möglichen oder nur vermuteten Engagements für die tschetschenische Sache in das Blickfeld russischer Sicherheitskräfte gelangt sein könnte, würden sich nicht ergeben. Er habe sich nach eigenem Vortrag weder als Kämpfer noch in sonstiger Weise aktiv für die tschetschenische Sache engagiert. Die vom Kläger vorgetragene Betätigung, für Tschetschenen Medikamente beschafft und transportiert zu haben, lasse nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht auf eine beachtliche Verfolgungssituation schließen (Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29.04.2003, AZ: 508-516.80/41040). Einfache Unterstützungshandlungen für tschetschenische Freiheitskämpfer, wie Lebensmittel- oder Medikamentenbeschaffung und Transporte derartiger Hilfsgüter, führten grundsätzlich nicht dazu, landesweit ins Blickfeld der Sicherheitsbehörden und in deren Verdacht zu geraten. Dies gelte selbst für tschetschenische Ärzte, Sanitäter, Krankenschwestern und Pfleger, die verletzten Kämpfern geholfen hätten beziehungsweise helfen (VG Göttingen Urt. v. 19.08.2004 - 4 A 4056/02-). Es könne somit dahinstehen, inwieweit die vom Kläger behauptete Festnahme, Folter, Erschießung des Freundes als auch die Flucht aus dem Erdloch als glaubhaft eingeschätzt werden könnten. Ebenso könne hingestellt bleiben, ob der Kläger tatsächlich kurzfristig von russischen Behörden festgehalten, entsprechend befragt und gefoltert worden sei. Obwohl die vom Kläger aufgezeigten persönlich erlittenen Beeinträchtigungen während seiner Festnahme zweifellos entwürdigende und eindeutig zu missbilligende Handlungen durch die russischen Kräfte darstellten, zeige sich nicht, dass derartige Übergriffe über die Heimatregion hinaus anzunehmen seien. Dem Kläger könne nicht geglaubt werden, dass er nunmehr aufgrund seiner Flucht aus dem Erdloch landesweit von den russischen Behörden gesucht würde. Vor dem Hintergrund, dass in Tschetschenien nahezu täglich unbescholtene Tschetschenen kurzfristig von russischen Behörden festgenommen, verhört und auch gefoltert beziehungsweise in Erdlöchern festgehalten würden, sei zu schließen, dass der Kläger in seinem Heimatland keinen Maßnahmen im Sinne einer politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei, deretwegen er sein Heimatland hätten verlassen müssen. Vielmehr stellten sich die vorgetragenen Beeinträchtigungen als Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien dar.

Gegen den ihm am 08.07.2005 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 18.07.2005 Klage erhoben, mit der er sein Asylbegehren weiter verfolgte.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 06.07.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezog sich dazu auf den ergangenen Bescheid.

Mit Urteil vom 13.10.2005 hat das Verwaltungsgericht ohne mündliche Verhandlung die Beklagte verpflichtet, bezüglich des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in die Russische Föderation festzustellen, den Bescheid der Beklagten vom 06.07.2005 aufzuheben, soweit er dem Verpflichtungsanspruch entgegen stehe und soweit darin dem Kläger die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht worden sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Dem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter könne nicht entsprochen werden, da der Kläger nach eigenem Vortrag auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat im Sinne von Art. 16.a Abs. 2 S.1 GG und des § 26 a Abs. 2 AsylVfG in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei.

Darüber hinaus begründete das Verwaltungsgericht seine Auffassung im Wesentlichen wie folgt: Es vermöge zwar zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers und zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine staatlich betriebene oder geduldete gruppengerichtete Verfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien zu bejahen.

Dem Kläger drohe aber im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens im Falle der Rückkehr mit beachtlicher, d. h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG). Das Verwaltungsgericht Magdeburg stützte sich bei dem zuletzt genannten Entscheidungsgesichtspunkt auf ein Urteil des VG Karlsruhe vom 10.03.2004 - A 11 K 12494/03 -.

Gegen dieses Urteil beantragte die Beklagte am 04.11.2005 die Zulassung der Berufung. Der Senat hat die Berufung mit Beschuss vom 18.01.2006 zugelassen.

Zur Begründung der Berufung hat die Beklagte vorgetragen: Es entspreche der Rechtsprechung zahlreicher Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte, selbst wenn man das Vorliegen einer regionalen Gruppenverfolgung annehme und damit den sog. herabgestuften Prognosemaßstab für die Feststellung einer Rückkehrgefährdung im Verständnis des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG zugrunde lege, stehe Tschetschenen in diesem Falle eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zur Verfügung. Tschetschenische Volkszugehörige seien im Falle einer Rückkehr in die Russischen Föderation ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit zum einen hinreichend sicher vor politischer Verfolgung und hätten zum anderen dort auch grundsätzlich die Möglichkeit zum Überleben. Ein rückkehrender Tschetschene müsse sich nicht in seine Heimatregion in Tschetschenien zurückbegeben, um dort ein entsprechendes neues Ausweisdokument ausgestellt zu bekommen. Ein Ausweispapier sei grundsätzlich bei der für den Betroffenen zuständigen Meldebehörde zu beantragen. Das bedeute nicht, dass die entsprechende Person persönlich bei dem Einwohnermeldeamt in Tschetschenien vorsprechen müsse, bei dem sie zuletzt mit ständigem Wohnsitz registriert gewesen sei. Zwar entspreche es weit verbreiteter Praxis der Miliz, Tschetschenen gegenüber eine solche Aufforderung auszusprechen, der Erlass vom 14. Mai 2003 "Befehl Nr. 347" bestimme jedoch, dass der Umtausch eines alten sowjetischen in einen neuen russischen Pass nicht nur am Ort der Registrierung, sondern auch am Wohnort des Betroffenen erfolgen könne. Dabei solle nicht verkannt werden, dass die Erlangung eines gültigen Dokuments mühselig und zeitaufwändig für den Betroffenen sein könne. Gemildert werde der Zeitaufwand, der für die Beschaffung eines neuen Passes aus Tschetschenien benötigt werde, jedoch dadurch, dass dem Betroffenen ein vorläufiges Dokument ausgestellt werde. So könnten Tschetschenen die nachteiligen Folgen vermeiden, die sich unter Umständen aus dem fehlenden Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ergäben. Zudem sei es Tschetschenen möglich, innerhalb von Teilen der Russischen Föderation, die als sichere Zufluchtsgebiete gelten, einen legalen Aufenthalt zu begründen. Zwar werden das abgeschaffte Propiskasystem in vielen Teilen in der Russischen Föderation weiterhin praktiziert, wobei diese Zuzugsbeschränkungen jedoch weder in Moskau noch in St. Petersburg noch in anderen Teilen der Föderation auf die ethnische Zugehörigkeit der Betroffenen abstellten. In größeren Städten werde vielmehr die Ansiedlung von Personen jeglicher Volkszugehörigkeit erschwert. Gleichwohl wirke sich diese Handhabung besonders zulasten von Tschetschenen aus. Angehörigen dieser Volksgruppe werde außerhalb Tschetscheniens - namentlich in Moskau - häufig die Registrierung verweigert. Dessen ungeachtet sei es einem Tschetschenen selbst in der russischen Hauptstadt - wenn auch gegebenenfalls erst nach Überwindung erheblicher Hürden - möglich, sich behördlich anzumelden und so seinen Aufenthalt dort zu legalisieren. In anderen Teilen der Föderation, in denen eine Registrierung einfacher zu erlangen sei als in Moskau, sei das um so mehr zu bejahen. So gebe es nach Darstellung von "Memorial" selbst in Moskau Milizdienststellen, die Tschetschenen noch dazu gebührenfrei Registrierungen ausstellten. Dass Tschetschenen auch in Moskau eine Registrierung zu erhalten vermögen, werde auch aus den Ausführungen des tschetschenischen Duma-Abgeordneten A. deutlich. Laut Bericht Nr. 7 der Menschenrechtsorganisationen Memorial hätten von 230 Flüchtlingen aus Tschetschenien, die im Januar 2001 in einem Hotel in T. untergebracht gewesen wären, 59 % eine Registrierung besessen. Insoweit könne von einer generellen Verweigerung der Registrierung gegenüber Tschetschenen keine Rede sein. Dafür, dass es in den in Betracht kommenden Bereichen der Russischen Föderation, in denen insgesamt Hunderttausende von vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien geflohenen oder auch bereits zuvor nach Russland umgezogenen Tschetschenen als Binnenflüchtlinge eine Bleibe gefunden hätten, gerade unter diesem Personenkreis zu gravierenden Versorgungsengpässen oder gar zu personen übergreifenden Hungersnöten, Seuchen oder vergleichbaren überindividuellen humanitären Katastrophen gekommen sei, gebe es keine Anhaltspunkte. Daher sei die grundsätzliche Möglichkeit zum Überleben für Tschetschenen bei Rückkehr in die Russischen Föderation zu bejahen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 13.10.2005 - 3 A 357/05 MD - abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat trug der Kläger vor, dass er Tschetschene sei und aus G. stamme, wo er auch geboren sei. Seine letzte Anschrift dort sei St., Sch. Nr. 42, gewesen, dort sei er auch registriert. Sein russischer Pass sei ihm von den russischen Soldaten weggenommen worden. Ein Ersatzpass habe sein Onkel "beschafft", weil es in den Behörden in Tschetschenien auch noch Tschetschenen gebe.

Bei den Akten des Bundesamts befindet sich in Kopie ein Passdokument. Dabei handelt es sich nach Übersetzung durch den in der mündlichen Verhandlung anwesenden Dolmetscher um einen vorläufigen Ausweis, der offenbar in Grosny ausgestellt wurde und bis zum 31.12.2004 befristet war. Eine Verlängerungsmöglichkeit ist in dem Formular vorgesehen, aber nicht ausgefüllt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden und des Verfahrens - 2 L 90/06 - sowie den Inhalt der den Beteiligten übermittelten Erkenntnisliste und der Ergänzungen aus der mündlichen Verhandlung vom heutigen Tag, die Gegenstand der Verhandlung und Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Die Berufung beschränkt sich, nachdem der Senat die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts nur eingeschränkt zugelassen hat, nur auf die Fragen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zusteht oder ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenhG bestehen.

Jedenfalls auf der Grundlage der tatsächlichen Gegebenheiten, wie sie bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz bestanden (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG), hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG angenommen.

Nach der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger ethnischer Tschetschene ist, seinen letzten festen Wohnsitz in G. hatte und auch dort registriert ist. Weiterhin steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger über keinen russischen Inlandspass verfügt und das von ihm bei seiner Ausreise aus der Russischen Föderation mitgeführte Papier lediglich ein Passsersatzpapier ist, dessen Geltung zumindest seit dem 31.12.2003 abgelaufen ist.

Der Kläger hat entgegen der Auffassung der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Gemäß § 60 Abs.1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, ist die Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG zu Art. 16 a GG heranzuziehen. Danach ist die spezifische Zielrichtung einer Verfolgung anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315, 344; zur Motivation vgl. BVerwG, Urt. v. 19.05.1987 - 9 C 184.86 -, BVerwGE 77, 258). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen asyl- und damit abschieberelevant, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980 -1 BvR 147/80 u. a. -, BVerfGE 54, S. 341, u. Beschl. v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u. a. -, BVerfGE 76, 143.; BVerwG, Urt. v. 18.02.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, Urt. v. 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986, 760 m. w. N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993 - 9 C 45.92 -, DVBI. 1994, 524, 525). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 -1 BvR 147/80 u. a. -, a. a. O.; BVerwG, Urt. v. 25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 m. w. N.). Nach diesem Maßstab wird nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist - über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus - erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urt. v. 08.09.1992 - 9 C 62/91 -, NVwZ 1993, 191). Hat der Schutzsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat er nur dann einen Schutzanspruch, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, Beschl. v. 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, 64 und Beschl. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, a. a. O.; BVerwG, Urt. v. 20.11.1990 - 9 C 74.90 -, BVerwGE 87, 152).

Die Beantwortung der Frage, welche Wahrscheinlichkeit die in § 60 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefahr aufweisen muss, hängt davon ab, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urt. v. 29.11.1977 - 1 C 33.71 - Buchholz 402.23 § 28 AuslG Nr.11). Wurde ein Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, so greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab ein: Er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, a.a.O., S. 360). Das setzt eine mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es im Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird (BVerwG, Urt. v. 31.03.1981 - 9 C 237/80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Der Bejahung hinreichender Sicherheit vor erneuter Verfolgung stehen andererseits nicht jede noch so geringe Möglichkeit abermaligen Verfolgungseintritts und jeder - auch entfernt liegende - Zweifel an der künftigen Sicherheit des Betroffenen entgegen; vielmehr müssen hieran mindestens "ernsthafte" Zweifel bestehen (BVerwG, Urt. v. 01.10.1985 - 9 C 20/85 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 37). Dass die Gefahr erneuter Übergriffe "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" ausgeschlossen werden kann, ist nicht erforderlich (BVerwG Urt. vom 1.10.1985, a. a. O.). Über die "theoretische" Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus ist erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernte und damit durchaus "reale" Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG. Urt. v. 09.04.1991 - C 91/90 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 143; BVerwG, Urt. v. 08.09.1992 - 9 C 62/91 - NVwZ 1993, 191/192).

Dieser herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist auch bei solchen Ausländern anzuwenden, die persönlich unverfolgt ausgereist sind, jedoch einer Gruppe angehören, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt werden (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997 -9 C 43/96 - BVerwGE 105, 204/208). Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt; denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, a. a. O.). Beschränkt sich die Gruppenverfolgung auf einen Teil des Herkunftslandes, so kommt für die gruppenzugehörigen Personen nur ein Gebiet in diesem Staat als inländische Fluchtalternative in Betracht, in dem sie vor Verfolgung "hinreichend sicher" sind (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, a. a. O.). Voraussetzung für die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs auf unverfolgt ausgereiste Ausländer ist freilich stets, dass der Betroffene tatsächlich alle Kriterien erfüllt, an die der Verfolgerstaat die Anwendung von Verfolgungsmaßnahmen knüpft (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, a. a. O.). Überzieht ein Staat nicht sämtliche Bewohner eines Gebiets mit asylrechtlich relevanten Repressalien, sondern macht er die Einbeziehung in die Verfolgungsmaßnahmen von weiteren Voraussetzungen (z.B. Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Alter des Betroffenen etc.) abhängig, so sind Personen, die nicht alle die Gruppe konstituierenden Merkmale aufweisen, von der kollektiven Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Als unverfolgt Ausgereisten ist ihnen die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihnen dort nach dem allgemeinen Prognosemaßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, a.a.O., S. 209).

Die Frage, ob der Kläger in seinem Heimatland politische Vorverfolgung erlitten hat oder nicht, kann hier dahin gestellt bleiben, da der Kläger und jeder Tschetschene, der nicht im Besitz eines Inlandspasses ist, bei Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vor Verfolgung durch den russischen Staat nicht hinreichend sicher ist, d. h. objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernte und damit durchaus "reale" Möglichkeit erscheinen lassen.

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der Anspruch auf Asyl ist ein Individualgrundrecht, und der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist ebenfalls personenbezogen, beide setzen deshalb eigene Verfolgungsbetroffenheit voraus.

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich aber auch aus gegen Dritte gerichtete Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines insoweit asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Schutzsuchende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsmöglichkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23.01.

1991 - 2 BvR 902/85 u. a. -, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urte v. 23.02.1988 - 9 C 85.87 -, BVerwGE 79, 79 und v. 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 ff.). Zu einer in diesem Sinne verfolgungsbetroffenen Gruppe gehören alle Personen, die der Verfolger für seine Verfolgungsmaßnahmen in den Blick nimmt; dies können entweder sämtliche Träger eines zur Verfolgung anlassgebenden Merkmals - etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion - sein oder nur diejenigen von ihnen, die zusätzlich (mindestens) ein weiteres Kriterium erfüllen, beispielsweise in einem bestimmten Gebiet leben oder ein bestimmtes Lebensalter aufweisen; solchenfalls handelt es sich um eine entsprechend - örtlich, sachlich oder persönlich - begrenzte Gruppenverfolgung (BVerwG, Urte v. 20.06.1995 - 9 C 294.94 -, NVwZ-RR 1996, 97, und v. 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101, 134 sowie Urt. v. 09.09.1997, a. a. O.). Kennzeichen einer "regionalen" oder "örtlich begrenzten" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein Kennzeichen oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v.09. 09.1997 - 9 C 43.96 -, a.a.O.). Die Annahme einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds rechtfertigt; hierfür ist die Gefahr einer so großen Zahl von Eingriffshandlungen in relevante Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine bloße Vielzahl solcher Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Gebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so um sich greifen, dass dort für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, Urteile v. 15.05.1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 und v. 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, a. a. O.).

Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Die bloße Feststellung "zahlreicher" oder "häufiger" Eingriffe reicht grundsätzlich nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie im Hinblick auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. 01.1991 - 2 BvR 515/89 - BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 170.95 - BVerwGE 101, 123; Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158.94 - a. a. O.). Dieser abstrakte Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte ist auch bei kleinen Gruppen kein anderer (BVerwG, Beschl. v. 23.12.2002 - 1 B 42/02 - Buchholz 11 Art. 16a GG, Nr. 49).

Allerdings reicht eine lediglich statistisch-quantitative Betrachtung nicht aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen, die die Schwere, Anzahl, Zeit und Häufigkeit der festgestellten einzelnen Verfolgungsschläge ebenso einbezieht wie die Größe der betroffenen Gruppe. Mithin bedarf es wie bei der Individualverfolgung letztlich einer wertenden Gesamtbetrachtung, weil auch insoweit die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Heimatstaat das für die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr vorrangige qualitative Kriterium bildet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22. 08. 1996 - 9 B 355.96 - S. 6 des Abdrucks; Urt. v. 05. 07.1994 - 9 C 158.94 - a. a. O.; Beschl. v. 22.05.1996 - 9 B 136/96 - zitiert nach juris).

Eine die erforderliche Verfolgungsdichte nicht erreichende Zahl von Übergriffen ist auch dann nicht als Gruppenverfolgung zu werten, wenn das Verhalten des Verfolgerstaates mehrere Jahre andauert. Auf das Merkmal der Verfolgungsdichte kann nicht verzichtet werden, weil ohne sie die bei der Gruppenverfolgung geltende Regelvermutung der eigenen Verfolgungsbetroffenheit jedes einzelnen Gruppenangehörigen nicht gerechtfertigt ist (BVerwG, Beschl. v. 28.02.1997 - 9 B 692/96 - nach juris).

Der Feststellung der Verfolgungsdichte bedarf es nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder bevorsteht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen Extremsituationen bedarf es nicht der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgungsmaßnahmen darzutun. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. "Referenzfälle politischer Verfolgung" sowie ein "Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05. 07. 1994 - 9 C 158.94 - a. a. O.; Urt. v. 30. 04. 1996 - 9 C 170.95 - a. a. O.).

Wenn der Staat in einer Bürgerkriegssituation die effektive Gebietsgewalt in gewissen Teilbereichen des Konfliktgebietes innehat und dabei im Gegenzug zu den Aktionen des Bürgerkriegsgegners die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung durch Gegenterror unter den Druck brutaler Gewalt setzt, liegt ebenfalls politische Verfolgung vor (vgl. BVerwG, Urt. v. 13. 05.1993 - 9 C 59.92 - NVwZ 1993, 1210). Eine solche Vorgehensweise in einer Bürgerkriegssituation kann sich als gruppengerichtete Verfolgung der der Gegenseite zugerechneten Zivilbevölkerung darstellen. Die Maßnahmen eines Staates, der faktisch die Rolle einer Bürgerkriegspartei einnimmt und in den umkämpften Bereichen seines Hoheitsgebietes nicht mehr als übergreifende, effektive Ordnungsmacht besteht, sind zwar dann keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne, wenn sie ein typisch militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung des Gebietes dienen, das zwar (noch) zum eigenen Staatsgebiet gehört, über das der Staat jedoch faktisch die Gebietsgewalt an den bekämpften Gegner verloren hat. Denn die Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners durch staatliche Kräfte ist im Allgemeinen nicht politische Verfolgung. Führen allerdings die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise, der auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, liegt politische Verfolgung vor. Dies gilt erst recht, wenn die staatlichen Maßnahmen in die Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315; BVerfG, Beschl. v. 09. 12. 1993 - 2 BvR 1638/93 - InfAuslR 1993, 105). Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin wegen eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Die staatliche Verfolgung von Taten, die - wie separatistische Aktivitäten - aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann deshalb politische Verfolgung sein. Wenn ein Staat einer ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt sich auch die Frage, ob die Verfolgungsmaßnahmen - objektiv gesehen - auf die Volkszugehörigkeit gerichtet sind und an diese anknüpfen (vgl. etwa BVerfG, Beschluss v. 09.12.1993 - 2 BvR 1638/93 - a. a. O.). Der pauschale Verdacht separatistischer Aktivitäten einer ganzen Volksgruppe kann mit anderen Worten - ebenso wie im Einzelfall der Verdacht der Trägerschaft eines asylerheblichen Merkmals - auf die ganze Volksgruppe durchschlagen und eine "Separatismus-Verfolgung" je nach den Umständen des Falles als "ethnische" Gruppenverfolgung erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05. 07. 1994 - 9 C 158.94 - a. a. O.).

Die festgestellten asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen müssen die Opfer ferner gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen. Auch die staatliche Verfolgung von Taten, die - wie separatistische Aktivitäten - aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann deshalb politische Verfolgung sein. Wenn ein Staat eine ganze Bevölkerungsgruppe pauschal des Separatismus verdächtigt und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten bekämpft, so kann sich dies als eine sowohl an die vermutete politische Überzeugung als auch an die Ethnie anknüpfende Verfolgung der gesamten Volksgruppe darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 170.95 - BVerwGE 101, 123). <205>).

Nach dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt zwar auch die Annahme einer politischen Gruppenverfolgung durch "Gegenterror" im Bürgerkrieg grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Die Feststellungen zur Verfolgungsdichte bei einem überschießenden militärischen Vorgehen, welches als Gegenterror qualifiziert werden kann, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Qualität und Quantität der Verfolgungsschläge typischerweise nicht unerheblich von solchen zu einem Verfolgungsgeschehen, welches punktuell nur einzelne Mitglieder einer Gruppe betrifft. Mit Rücksicht hierauf kann die Feststellung einer Vielzahl von militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, der wahllosen Bombardierung von Zivilobjekten, oder von häufigen Bombardierungen mit zahlreichen Opfern die erforderliche Verfolgungsdichte aus tatrichterlicher Sicht eher belegen als etwa die Feststellung lediglich häufiger Übergriffe auf Einzelpersonen bei anderen Formen der Gruppenverfolgung (BVerwG, Urt. v. 15.07.1997 - 9 C 2/97 - ZAR 1998, 136).

Die Auswertung der Erkenntnismaterialien und die Überprüfung der dem Verfolgungsgeschehen zugrunde liegenden Einzelfälle, die die erste Instanz nicht in ausreichendem Maße dargestellt und gewürdigt hat, lässt die Annahme zu, dass im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im Winter 2004 Tschetschenen in der Russischen Föderation in Anknüpfung an ihre Volkszugehörigkeit einer regionalen Gruppenverfolgung von Seiten des Staates und Dritter, die dem Staat zurechenbar gewesen wäre, unterlagen.

Nach der Einschätzung des Senats und weiterer Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe (OVG Bremen, Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 116/03.A - nach juris; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - UE 3021/03 - nach juris; die Frage offen lassend Bay. VGH Urt. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 - nach juris; OVG Saarland, Urt. v. 16.12.2004 3 KO 1003/04 -nach juris; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005, 11 A 2307/03.A nach juris; a. A.: nur Thür.OVG Urt. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 - nach juris) unterlagen tschetschenische Volkszugehörige in Tschetschenien seit dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges 1999 bis zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im Januar 2004 einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung.

Der Senat geht dabei zunächst davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige seit Ausbruch des 2. Tschetschenienkrieges im September 1999 in Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten - örtlich begrenzten - politischen Verfolgung ausgesetzt sind. Diese Feststellungen ergeben sich zur Überzeugung des Gerichts aus den ihm vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Unterlagen. Danach stellt sich die Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit 1999 wie folgt dar:

Aus Anlass des Einfalls tschetschenischer Rebellengruppen in Dagestan und der Ausrufung eines islamischen Staates dort sowie Bombenattentaten auf ein Einkaufszentrum und ein Wohnhaus in Moskau, die von Seiten der russischen Regierung tschetschenischen Rebellen zugeschrieben wurden, aber auch im Hinblick auf den Präsidentschaftswahlkampf in der Russischen Föderation setzte die Führung der Russischen Föderation ab September 1999 Bodentruppen, Artillerie und Luftwaffe in Tschetschenien ein mit dem erklärten Ziel, die tschetschenischen Rebellengruppen zu vernichten, die das Ziel der Unabhängigkeit Tschetscheniens und die Errichtung eines islamischen Staates anstrebten. Im Verlauf der Kämpfe brachte die russische Armee Anfang des Jahres 2000 Grozny, das dabei fast völlig zerstört worden ist, und im Frühjahr des Jahres 2000 große Teile Tschetscheniens unter ihre Kontrolle. Die Rebellengruppen zogen sich in die südlichen Bergregionen zurück; sie sind seitdem zum Partisanenkrieg und zu terroristischen Anschlägen übergegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.04.2001; Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001; UNHCR, Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien, Januar 2002). Die russische Armee ihrerseits ging unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung mit äußerster Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien vor, die zum damaligen Zeitpunkt nach Schätzungen bereits im Wesentlichen aus tschetschenischen Volkszugehörigen bestand (vgl. UNHCR, Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien, Januar 2002). Schon zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 ist es zu großen Fluchtbewegungen gekommen. Aufgrund des Einmarsches der russischen Armeeeinheiten und der Bombardierung der Städte flohen große Teile der Bevölkerung aus ihren Wohnorten in Tschetschenien. Die russische Armee hinderte die Flüchtlinge zum Teil bereits am Verlassen des Kampfgebietes, teilweise am Übertritt in die Nachbarrepubliken wie Inguschetien (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15. Februar 2000). Dabei wurden auch Flüchtlingstrecks von der russischen Luftwaffe angegriffen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass von den zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges in Tschetschenien lebenden 450.000 Einwohnern 350.000 gewaltsam aus ihren Wohnorten vertrieben worden sind, davon 160.000 an andere Orte in Tschetschenien und die übrigen in andere Teile der Russischen Föderation und das Ausland (UNHCR, Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien, Januar 2002; Bundesamt, Russische Föderation, Checkliste Tschetschenien, August 2003). Die russischen Armeeeinheiten haben, wie schon im ersten Tschetschenienkrieg, an vielen Orten in Tschetschenien sogenannte Filtrationslager eingerichtet. In diese Lager wurden wahllos tschetschenische Einwohner gebracht, wo nach den Erklärungen der russischen Stellen Terroristen aufgespürt werden sollten. In den Lagern wurden die tschetschenischen Volkszugehörigen systematisch misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und getötet (ai, Stellungnahme vom 08.10.2001; Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Lage in Tschetschenien vom 08.03.2001). Internationale und russische Menschenrechtsorganisationen (z.B. Human Right Watch-Bericht vom 18. Februar 2000, ai Bericht vom 22. Dezember 1999 sowie Nachforschungen der Russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial") gingen aufgrund von Augenzeugenberichten zunächst von dem Betreiben mindestens eines solchen russischen "Filtrationslagers" an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien aus. Dort soll es abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu Folterungen (z.B. Elektroschocks, Schläge u. a. auf den Kopf und den Rücken mit Metallhammer) durch russische Spezialkräfte gekommen sein. Durch Augenzeugenberichte und aufgrund von Filmaufnahmen musste dann jedoch davon ausgegangen werden, dass es in und um Grozny weitere Filtrationslager gab, in denen auch systematisch gefoltert wurde, u.a. in dem Gefängnis Tschernokosowo nördlich von Grozny. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robies, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Foltervorwürfe konnten dadurch nicht widerlegt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. Mai 2000). Auf der Suche nach Terroristen überfielen russische Militäreinheiten ganze Dörfer, nahmen deren Bewohner willkürlich fest und misshandelten sie (ai vom 20.02.2002 an das VG Braunschweig). Gespräche mit Flüchtlingen in den Lagern Inguschetiens haben die Greultaten der russischen Armee bestätigt. Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen waren gravierend. Es kam zu willkürlichen Racheakten an der Zivilbevölkerung. Bei einer Explosion auf einem belebten Markt in Grozny am 21. Oktober 1999 kamen nach Augenzeugenberichten 140 Menschen ums Leben, 400 wurden zum Teil schwer verletzt. Widersprüchliche Angaben gibt es über die Täter und deren Motive. Recherchen von internationalen Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch, Bericht vom 20.01.2000) und Äußerungen von Angehörigen russischer Spezialkräfte legen die Vermutung sehr nahe, dass es sich bei dieser Tat um eine "Sonderkommandoaktion" russischer Spezialkräfte handelte, die auf dem Marktplatz Waffen und Sprengstoff tschetschenischer Rebellen vermuteten. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien, so z.B. bei der Einnahme der Ortschaft Alkhan-Yurt südwestlich von Grozny im Dezember 1999 durch russische Verbände. Dabei soll es auch Exekutionen (41 Opfer), Plünderungen und Brandstiftungen unter der Zivilbevölkerung gegeben haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. Mai 2000). Kriegsverbrechen und Massaker blieben ungesühnt, da die russische Führung kein Interesse an einer Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung zeigte (Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Russische Föderation, der Tschetschenienkonflikt, Stand Januar 2001). Im Zusammenhang mit dem Militäreinsatz der russischen Armee in Tschetschenien berichteten internationale (z.B. Human Rights Watch) und russische (z.B. Memorial) Menschenrechtsorganisationen über massive Rechtsverletzungen (willkürliche Tötungen von Zivilisten, Folter, zahlreiche Vergewaltigungen, Geiselnahme und Plünderungen) durch die russischen Streitkräfte, aber auch durch die tschetschenischen Separatisten. Bestand der Verdacht, dass sich in einem Dorf Rebellen versteckt halten, fanden Säuberungsaktionen durch russische Soldaten statt. Die Männer wurden auf körperliche Spuren von Kampfhandlungen untersucht, der Ort geplündert und oftmals kam es zu Gewaltanwendungen gegenüber der Bevölkerung (vgl. Bundesamt, Russische Föderation, der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Angesichts dieses trotz der weitgehenden Behinderung unabhängiger Berichterstattung durch die Behörden in vielen Einzelheiten dokumentierten Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien und der dabei erfolgenden massenhaften und massiven Verletzung asylrechtlich geschützter Rechtsgüter ist davon auszugehen, dass tschetschenische Volkszugehörige in Tschetschenien unabhängig davon, ob bei ihnen der konkrete Verdacht der Unterstützung von separatistischen Gruppierungen bestand, unmittelbar und jederzeit damit rechnen mussten, selbst Opfer der Übergriffe der russischen Armeeeinheiten zu werden, weshalb davon auszugehen ist, dass sie seit 1999 einer gegen sie als tschetschenische Volkszugehörige gerichteten - örtlich begrenzten - Gruppenverfolgung unterlagen.

Dabei geht der Senat in Übereinstimmung mit den anderen bereits genannten Obergerichten davon aus, dass Tschetschenen eine Aufenthaltsnahme in der Tschetschenischen Republik selbst nicht zugemutet werden kann, da sich dort die Sicherheitslage seit Mai 2004 nach einem vorübergehenden leichten Abflauen der Auseinandersetzungen wieder erheblich verschlechtert hat und die menschenrechtliche Lage in Tschetschenien äußerst besorgniserregend bleibt. Tschetschenien ist aufgrund der Sicherheitslage, bürokratischer Hemmnisse und von Korruption der örtlichen Verwaltung und der Sicherheitskräfte für humanitäre Hilfslieferungen nur schwer zugänglich (vgl. insgesamt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der russischen Föderation <Tschetschenien> 30.08.2005). Beim Vorgehen der Sicherheitskräfte kommt es nach Angaben unabhängiger Nichtregierungsorganisationen und nach Presseberichten weiterhin regelmäßig zu Übergriffen auch gegen die Zivilbevölkerung. An die Stelle flächendeckender "Säuberungsaktionen" sind gezielte "Säuberungsaktionen" getreten. Angaben von russischer Seite, dass die fortgesetzten Entführungen ausschließlich auf das Konto von als Soldaten verkleideten Rebellen oder der persönlichen Sicherheitskräfte des Leiters der tschetschenischen Verwaltung Kadyrow gingen, sind unglaubwürdig. Fest steht, dass die Opfer häufig nicht erkennen können, wer die Täter sind. Bedenklich ist weiterhin - so die Nichtregierungsorganisationen, kritische Beobachter und Presseberichte - die sich fortsetzende weitgehende Straflosigkeit nach Übergriffen durch die Sicherheitskräfte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation <Tschetschenien> 30.08.2005). In den Gebieten Tschetscheniens, in denen sich russische Truppen aufhalten (dies betrifft mit Ausnahme der schwer zugänglichen Gebirgsregionen das gesamte Territorium der Teilrepublik), ist die Sicherheit der Zivilbevölkerung wegen ständiger Razzien, Guerillaaktivitäten, Geiselnahmen, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen (durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow) nicht gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand 30.08.2005; Bay. VGH, Urt. v. 31.01.2005. Az.: 11 B 02.31597). An der weiterhin als sehr kritisch eingeschätzten humanitären Lage in Tschetschenien hat sich nach Auskunft des Auswärtigen Amtes nichts Grundlegendes geändert. In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater "Nord-Ost" (Oktober 2002) hatte der Verteidigungsminister umgehend breit angelegte, harte "Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien angekündigt. Die Operationen standen unter der Leitung des stellvertretenden Oberbefehlshabers der föderalen Truppen. Es wurde systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften (Streitkräfte, innere Truppen, Spezialkräfte der Geheimdienste) umstellt und durchsucht. Wenige Tage nach Beginn der Operation wurden Argun, Berkart-Yurt sowie zahlreiche kleinere Ortschaften in den Bezirken Grozny, Schalinskij und Wedenskij von Sicherheitskräften umstellt, durchsucht und bereits über 5.000 "Verdächtige" zeitweise interniert. Nach welchen Kriterien die vereinigten Kräftegruppierungen diese Internierung vornahmen, ist nicht bekannt. Es gab Hinweise auf insgesamt 60 parallel ablaufende Operationen in 45 Ortschaften. Seit Jahresbeginn 2005 verstärken die tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte ihre Aktivitäten gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, in denen eine Zunahme von Überfällen durch Guerillakämpfer festzustellen war. Dabei sollen nach amtlichen Angaben in den ersten drei Monaten des Jahres 2005 über 40 tschetschenische Kämpfer getötet und etwa 100 gefangen genommen worden seien. Am 18. April 2005 kündigten die Sicherheitsbehörden den Beginn einer groß angelegten Spezialoperation mit 2000 Mann in den Bergen des Distrikts Vedeno an. Nachdem wiederholt Hubschrauber in der Nähe von Militärstützpunkten abgeschossen wurden, wurden nach der Moskauer Geiselnahme in Tschetschenien - ohne Koordination mit zivilen Verwaltungsstellen - Häuser gesprengt, die möglicherweise Deckung für den Abschuss von tragbaren Flugabwehrraketen bilden könnten. Tschetschenen, die in diesen Häusern lebten, wurden als Unterstützer von "Terroristen" verhaftet, weil sie nicht aktiv an der Verhinderung von Anschlägen mitgewirkt hätten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 30.08.2005).

Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist auch - Zeitpunkt Dezember 2005 - nach Auskunft des Auswärtigen Amts nicht gewährleistet.

In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien, so z.B. bei der Einnahme der Ortschaft Alkhan-Yurt, südwestlich von Grosny, im Dezember 1999 durch russische Verbände. Dabei soll es auch zu Exekutionen (41 Opfer) unter der Zivilbevölkerung gekommen sein (Quelle: Human Rights Watch- Bericht vom 20.01.2000). Auch Amnesty berichtet weiterhin von Vergewaltigungen und extralegalen Tötungen der Zivilbevölkerung während militärischer Operationen (Amnesty International: "Denial of Justice", London 2002, und "Russian Federation: Chechen Republic - "Normalization" in whose eyes", London 2004). Am 09.04.2004 wurden in der Nähe von Sershen-Jurt im Bezirk Schali/ Tschetschenien die Leichen von neun Tschetschenen gefunden, die Folterspuren und Schussverletzungen aufwiesen. Acht der Männer waren nach einer gezielten "Säuberungsaktion" von Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden des 27.03.2004, der neunte in der Nacht zum 02.04.2004 spurlos "verschwunden". Am 04.06.2005 wurden bei einer von ca. 200-400 Sicherheitskräften im tschetschenischen Dorf Borozdinovskaja durchgeführten Säuberungsaktion elf Dorfbewohner wegen angeblicher Unterstützung von Rebellen festgenommen. Vier Häuser des zu 90 % von Dagestanern bewohnten Dorfes wurden niedergebrannt. In einem dieser Häuser wurde später die Leiche eines Dorfbewohners gefunden. Auch den tschetschenischen Rebellen werden Exekutionen und Geiselnahmen von Zivilisten in den von ihnen beherrschten Gebieten und Ortschaften vorgeworfen. Nach Beobachtungen des Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine neue Besorgnis erregende Entwicklung. Ein prominentes Beispiel ist der Fall des Feldkommandeurs und ehemaligen tschetschenischen Verteidigungsministers Magomed Chambijew, der sich am 08.03.2004 in die Hände der Sicherheitskräfte Ramsan Kadyrows begab, nachdem ca. 20 seiner Angehörigen zuvor festgesetzt worden waren. Im Dezember 2004 wurden acht Verwandte des früheren Präsidenten Aslan Maschadow, darunter eine Schwester und zwei Brüder, entführt, vermutlich von Angehörigen der Sicherheitstruppe von Ramsan Kadyrow. Sieben von ihnen wurden am 31.5.2005 wieder freigelassen; ein Neffe befindet sich noch wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer illegalen bewaffneten Gruppe in Haft. Ramsan Kadyrow, erster stellvertretender Ministerpräsident Tschetscheniens, hat sich öffentlich für gesetzliche Regelungen ausgesprochen, die die Strafverfolgung von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen ermöglichen. Menschenrechtsorganisationen berichten von zahlreichen Fällen von "Verschwindenlassen" von Zivilisten. Eine Liste der Menschenrechtsorganisation "Mütter Tschetscheniens", deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet russische und tschetschenische Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen an die Behörden gab es bisher einen positiven Bescheid; in keinem Fall ist es bisher gelungen, eine vermisste Person lebend wieder zu finden. Menschenrechtsorganisationen wie Memorial oder die Moskauer Helsinki-Gruppe gehen von monatlich 50-80 bei "Säuberungen" verschwundenen Personen aus. Memorial hat in den ersten 11 Monaten des Jahres 2005 236 Entführungen registriert (im Vergleich zu 396 im gesamten Jahr 2004). Auf Grund der Tatsache, dass Memorial nur etwa 25 - 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein. In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater "Nord-Ost" (Oktober 2002) hatte der Verteidigungsminister umgehend breit angelegte, harte "Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien angekündigt. Die Operationen standen unter der Leitung des stv. Oberbefehlshabers der föderalen Truppen. Es wurde systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften (Streitkräfte, Innere Truppen, Spezialkräfte der Geheimdienste) umstellt und durchsucht. Wenige Tage nach Beginn der Operation wurden Argun, Berkart-Jurt sowie zahlreiche kleinere Ortschaften in den Bezirken Grosny, Schalinskij und Wedenskij von Sicherheitskräften umstellt, durchsucht und bereits über 5.000 "Verdächtige" zeitweise interniert. Nach welchen Kriterien die Vereinigten Kräftegruppierungen diese Internierung vornahmen, ist nicht bekannt. Es gab Hinweise auf insgesamt 60 parallel ablaufende Operationen in 45 Ortschaften. Seit Jahresbeginn 2005 verstärken die tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte ihre Aktivitäten gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, in denen eine Zunahme von Überfällen durch Guerillakämpfer festzustellen war. Dabei sollen nach amtlichen Angaben in den ersten drei Monaten des Jahres 2005 über 40 tschetschenische Kämpfer getötet und etwa 100 gefangen genommen worden sein. Menschenrechtler kritisieren, dass die Behörden wahllos Flüchtlinge unter Druck setzen und kriminalisieren (AA, "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien", - 508-516.80/3 RUS - [Stand: Dezember 2005] vom 15.02.2006, S. 17-19).

Als "schleichenden Genozid" bezeichnet Sarah Reinke in dem Bericht "Schleichender Völkermord in Tschetschenien Verschwindenlassen - Ethnische Verfolgung in Russland - Scheitern der internationalen Politik" - Gesellschaft für bedrohte Völker - vom 27.11.2005 und als "fortgesetzte Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen" die Taten, denen die Bevölkerung Tschetscheniens Woche für Woche ausgesetzt sei. Diese Unmenschlichkeit würde dazu beitragen, dass Teile der Tschetschenischen Widerstandsbewegung sich immer mehr radikalisierten. Fundamentalistische Organisationen würden entstehen, die ihrerseits zu terroristischen Aktionen, auch gegen die Zivilbevölkerung bereit seien.

In Tschetschenien sollen im Moment etwa 80.000 Mann des Verteidigungs- und des Innenministeriums stationiert sein. Insgesamt stehen im Nordkaukasus 250.000 Angehörige der russischen Armee. Dazu kämen 30.000 Tschetschenen in pro-russischen Einheiten. Wie der prorussische tschetschenische Präsident Alu Alchanov am 21.10.2005 mitteilte, seien 7.000 der insgesamt 16.000 tschetschenischen Milizionäre ehemalige Angehörige der tschetschenischen Kämpfer.

Nach Angaben des tschetschenischen Staatsratsvorsitzenden Taus Dschabrailow hätten alleine im Jahr 2005 600 bis 700 Mann den bewaffneten Kampf aufgegeben (www.russland-news.de, 25.10.2005). Dieser Gruppe stünden rund 1.000 bis 1.500 ständige Kämpfer, einschließlich 100 bis 150 Nicht-Tschetschenen gegenüber. Diese Kräfte seien in der Lage, Tschetschenen aus der Bevölkerung zu mobilisieren, die an den Sabotageakten und Angriffen auf die russischen Einheiten von Zeit zu Zeit teilnehmen würden. Schwer zu ermitteln sei die Zahl der Verluste unter den russischen Soldaten. Die russischen Soldatenmütter gingen von etwa 18.000 Toten aus. Auch die Gesamtopferzahl werde immer wieder diskutiert. Die meisten Beobachter würden sie mit rund 160.000 angeben. Die Zerstörung Tschetscheniens sei unvorstellbar. Nach der "heißen" Phase des Krieges seien mehr als 100.000 Häuser und Wohnungen zerstört. Wenn man die Größe der tschetschenischen Familien berücksichtige, betreffe dies fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Die russische Regierung gebe an, dass durch den Krieg in Tschetschenien Gebäude, Infrastruktur etc. im Wert von 140 Milliarden Dollar oder einem Viertel des russischen Staatshaushalts zerstört worden seien (Paul Goble, Window on Eurasia, 22.8.2005).

Die "Schweizer Flüchtlingshilfe" (Klaus Ammann, Tschetschenien, Update: Entwicklungen in Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und anderen Teilen der Russischen Föderation, 7. November 2005) berichtet, dass seit Mai 2004 sich die Sicherheitslage in Tschetschenien keineswegs verbessert habe. Nach wie vor herrsche ein Klima der Gewalt, täglich kämen Menschen gewaltsam zu Tode. Die von Moskau versprochene Wiederaufbauhilfe sei weitgehend versickert oder ausgeblieben, so dass im humanitären Bereich nur geringfügige Verbesserungen festgestellt werden könnten. Nach wie vor begingen alle Konfliktparteien regelmäßig gravierende Menschenrechtsverletzungen. Die Täter, auch die identifizierten, entgingen in den allermeisten Fällen ihrer Strafe. Militärisch stagniere der Konflikt, wobei er mittlerweile zu einem großen Teil "tschetschenisiert" sei. Die föderalen Kräfte hätten ihre Aufgaben vielerorts an loyale tschetschenische Verbände abgetreten, so dass sich nun Tschetschenen gegenseitig bekämpften. Die Ermordung des vor Ausbruch des Zweiten Tschetschenien-Krieges gewählten Präsidenten Aslan Maschadow im März 2005 lasse die Hoffnungen auf eine politische Lösung des Konflikts weiter schwinden. Die russische Regierung und ihre Vertreter vor Ort setzten nach wie vor auf eine gewaltsame Lösung. Jeglicher Widerstand werde als «terroristisch» abgetan und jeder Dialog ausgeschlossen. «Normalisiert» werde die Lage, indem die wichtigsten demokratischen Institutionen unter Moskauer Leitung errichtet und mit loyalen TschetschenInnen besetzt würden (S. 2).

Die Schweizer Flüchtlingshilfe berichtet weiter, dass die Sicherheitskräfte in Tschetschenien immer systematischer Angehörige potentieller Widerstandskämpfer unter Druck setzten, sie entführten und ihr Eigentum zerstörten, um die Widerstandskämpfer selbst zur Aufgabe zu zwingen. Vor allem die Truppen des Vizepräsidenten Ramzan Kadyrow, die sog. Kadyrowstsi, hätten sich einen zweifelhaften Ruf zugelegt. Die Methoden des Staates hätten in diesem Bereich terroristische Züge angenommen. Gleichzeitig sei die bereits angesprochene «Tschetschenisierung» des Konflikts praktisch abgeschlossen. Die Routinearbeit der so genannten «Antiterroristischen Operation» sei jetzt fast ganz in den Händen ethnischer Tschetschenen. Deren Einheiten müssten versuchen, die Rebellennetzwerke in der Ebene zu eliminieren und die Kämpfer in den Bergen zur Aufgabe zu zwingen. Moskau biete ihnen im Gegenzug die nötigen finanziellen Ressourcen, administrative und politische Unterstützung und vor allem Straflosigkeit. Die tschetschenische Regierung habe sich in diesem Umfeld zunehmend etabliert und versuche teils auf brutale Art und Weise, jede Opposition im Keim zu ersticken (Schweizer Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 4).

Zur Sicherheitslage der Menschen in Tschetschenien berichtet die Schweizer Flüchtlingshilfe - Stand November 2005 - (a. a. O., S. 5 -7):

"Die Sicherheitslage in Tschetschenien ist nach wie vor äußerst prekär. Fast täglich kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen russischen bzw. prorussischen tschetschenischen Kräften und Widerstandskämpfern. 113 bewaffnete Separatisten sind nach offiziellen Angaben der tschetschenischen Regierung allein zwischen Januar und September 2005 getötet und 247 festgenommen worden. 35 haben gemäß derselben Quelle freiwillig ihre Waffen niedergelegt. In der gleichen Zeitspanne seien 104 tschetschenische Polizisten getötet worden. Das russische Verteidigungsministerium spricht von 81 getöteten und vier vermissten Armeeangehörigen. Diese Zahlen sind zwar bestimmt unvollständig, sie zeigen jedoch eines klar: Die Moskautreuen tschetschenischen Einheiten bezahlen den höchsten Preis. Mit Sicherheit viel höher, aber ebenfalls schwierig zu beziffern, sind die Opfer unter der Zivilbevölkerung. Der tschetschenische Widerstand ist alles andere als eine homogene Front. Es gibt verschiedene Fraktionen. Die Kämpfer scheinen häufig die Gruppierung zu wechseln. Mit der Ermordung des ehemaligen Präsidenten Tschetscheniens Maschadow, der seiner Funktion im Untergrund bis zuletzt nachzukommen versuchte, haben die gemäßigteren unter den Widerstandskämpfern einen schweren Rückschlag erlitten. Maschadow hatte als gemäßigt gegolten und offenbar in breiten Bevölkerungsschichten Sympathie genossen. In den Monaten vor seiner Ermordung hatte er die russische Führung wiederholt zu Gesprächen aufgefordert, mit dem Ziel, den Konflikt auf politischem Weg zu lösen - Moskau ignorierte ihn. Nach Maschadows Tod scheint das Feld fast ausschließlich gewaltbereiten Gruppierungen um Schamil Bassajew überlassen zu sein, der offen für ein gewaltsames Vorgehen einsteht und regelmässig die Verantwortung für Terroranschläge in der ganzen Region übernimmt. Gleichzeitig stellen Beobachter fest, dass unter den Beweggründen der Widerstandskämpfer der Separatismus und die Idee einer politisch unabhängigen Republik Tschetschenien an Terrain verliert gegenüber dem Islamismus und dem Ziel eines islamischen Staates im nördlichen Kaukasus. Dass vermehrt auch Gelder aus islamischen Ländern nach Tschetschenien fließen, scheint wahrscheinlich. Wie stark die Widerstandskämpfer zahlenmäßig sind, ist äußerst schwierig zu sagen. Seit dem Jahr 2000 beziffert die russische Seite die Zahl der Widerstandskämpfer regelmässig auf rund 1500. Dies ist gemäß einem in _e_enskoe obs_estv zitierten General aus dem Afghanistan-Krieg die optimalste Zahl für die Militärs. Wären die Widerstandskämpfer nämlich zahlreicher, käme die Armee unter stärkeren Erfolgsdruck, wären sie jedoch zahlenmäßig noch schwächer, dann wäre die große Zahl russischer Soldaten in der Region nicht mehr gerechtfertigt. Die russische Menschenrechtsorganisation «Memorial» sieht sich durch diese gleich bleibende Zahl bestätigt: in ihren Augen bekämpfen die Russischen Streitkräfte nämlich nicht in erster Linie die Widerstandskämpfer, sondern viel mehr unbescholtene Zivilisten. An allen spektakulären Aktionen des tschetschenischen Widerstandes der letzten Jahre waren Frauen beteiligt. Gemäß neueren Untersuchungen zur Geiselnahme während einer Musical-Aufführung (Nordost) in Moskau im Oktober 2002 waren dort 20 der 50 Geiselnehmer Frauen. Frauen beteiligen sich offenbar an solchen Aktionen nicht nur aus Rache am Tod ihrer Männer. Häufig handelt es sich um Frauen, die aus irgendeinem Grund aus ihrer Gesellschaft ausgestoßen worden sind, oft aber auch um arglose Frauen, die von Männern ausgenützt, gezwungen und mit Psychopharmaka gefügig gemacht werden. Nicht selten sind zudem Verwandte an der Prämie interessiert, die für einen Selbstmordeinsatz winkt. Auf Grund der oben beschriebenen «Tschetschenisierung» des Konflikts scheint es angebracht, prorussische tschetschenische Kräfte und die russischen Streitkräfte zusammenfassend zu behandeln. Die russischen Streitkräfte selbst sind nach wie vor in einem erbärmlichen Zustand. Rund 80'000 Soldaten und Offiziere sollen nach wie vor in der Kaukasus-Region stationiert sein. In Tschetschenien selbst treten sie nach verschiedenen Berichten in letzter Zeit weniger oft in Erscheinung, sondern überlassen das Feld ihren tschetschenischen Verbündeten. Gemäß einem Entscheid des russischen Verteidigungsministeriums dürfen seit dem 1. Januar 2005 keine Dienstpflichtigen mehr in Tschetschenien eingesetzt werden. Sie wurden nach offiziellen Angaben alle durch freiwillige Vertragssoldaten - so genannte Kontraktniki - ersetzt. Die prorussischen tschetschenischen Kräfte bestehen aus den Truppen des tschetschenischen Innenministeriums, den Spezialeinheiten «Vostok» (Ost) und «Zapad» (West), sowie dem Sicherheitsdienst des tschetschenischen Präsidenten unter dem Kommando des ermordeten Präsidenten Achmed Kadyrow und Vize-Präsidenten Ramzan Kadyrov. Die soziale Zusammensetzung dieser Formationen variiert gemäß einem Bericht von «Memorial» stark. Die Einheit «Zapad» steht unter dem Kommando von Said-Magomed Kakiev und besteht hauptsächlich aus Männern, die bereits im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) auf Seiten der Russischen Armee gekämpft haben. In der Einheit «Vostok» unter Sulim Jamadaev hingegen dienen Männer, die damals auf der Seite des Widerstandes gekämpft und erst 1999 die Seite gewechselt haben. Am stärksten sind jedoch die so genannten «Kadyrovci». Unter ihnen befinden sich viele, die auch den Zweiten Tschetschenienkrieg auf Seiten des Widerstandes begonnen haben, die jedoch gegen persönliche Garantien Achmed Kadyrows die Seite gewechselt haben. Neben den eigentlichen «Kadyrovci» bestehen Gruppen bewaffneter Männer in den Dörfern, die angeblich ebenfalls direkt Ramzan Kadyrows Befehlen Folge leisten. In letzter Zeit scheinen die tschetschenischen Sicherheitskräfte erfolgreich junge Männer zu rekrutieren. Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage und der unvorstellbar hohen Arbeitslosigkeit in der Republik ist dies für viele Männer die einzige Möglichkeit, sich ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen".

Der Senat hält unter Berücksichtigung der zuvor geschilderten tatsächlichen Lage in der Teilrepublik Tschetschenien in der Russischen Föderation in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Hess. VGH (Urt. v. 02.02.2006, a. a. O) und des OVG Bremen (Urt. v. 23.03.2005, a. a. O.) auch das für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Kriterium der Verfolgungsdichte für gegeben. Er legt zugrunde, dass aufgrund der in den bezeichneten Berichten seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges geschilderten unzähligen und durchgehenden und ihrer Intensität nach asylerheblichen Vorkommnisse gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung eine derartige Verfolgungsdichte besteht, dass jeder Tschetschene und jede Tschetschenin ein den genannten Vergleichsfällen entsprechendes Verfolgungsschicksal für sich befürchten muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 185.94 - NVwZ 95,175) und es den Tschetschenen bei objektiver Betrachtung der in Tschetschenien aus den genannten Vorkommnissen herzuleitenden Gefährdungslage nicht zumutbar ist, dort zu verbleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.07.1991 - 9 C 154.80 - NVwZ 92, 578; BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 518.89 -, BVerfGE 83, 219; OVG Bremen, Urt. v.23.03.2005 a. a. O. und Hess. VGH, Urt. 02.02.2006 a. a. O.). Dabei hat das OVG Bremen in der bereits zitierten Entscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zahl der von den asylerheblichen Eingriffen der genannten Art in Tschetschenien Betroffenen nicht exakt beziffert werden kann. Nach der geschätzten Bevölkerungsentwicklung in Tschetschenien und unter Abzug der von den Eingriffen nicht betroffenen jüngeren Kinder dürfte sie sich auf unter 400.000 Personen belaufen. Bei der Volkszählung 1998 wurden in der noch ungeteilten Republik 734.000 Tschetschenen gezählt (UNHCR, Januar 2002). Anfang 2002 lebten wegen des nur durch eine dreijährige Pause unterbrochenen jahrelangen Krieges in Tschetschenien schon aus der Zeit vor dem neuerlichen Tschetschenienkrieg ca. 600.000 der insgesamt 1.000.000 Tschetschenen nicht in Tschetschenien, sondern in anderen russischen Regionen bzw. GUS-Staaten (vgl. Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht vom 07.05.2002). Die Volkszählung im Oktober 2002 ergab nach offiziellen Angaben zwar eine Zahl von über 1.000.000 Tschetschenen in Tschetschenien, der aber nicht gefolgt werden kann, nachdem unabhängige Beobachter und Nichtregierungsorganisationen diesem Ergebnis sehr kritisch gegenüberstehen und teilweise von einer Mehrfachregistrierung von Personen ausgehen, deren Gründe in finanziellen Anreizen der Registrierung und in der Furcht vor Säuberungsaktionen bei einer zu geringer Zahl von Tschetschenen in Tschetschenien liegen könnten. Vorherige Schätzungen waren von einer durch Flüchtlinge, Auswanderung und Kriegsopfer erheblich gesunkenen Einwohnerzahl für Tschetschenien ausgegangen und hatten zwischen 450.000 bis 800.000 Tschetschenen in Tschetschenien geschwankt (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 27.11.2002, 16.02.2004, 13.12.2004, 30.08.2005, 15.02.2006; OVG Bremen, Urt. v. 23. 03.2005, a. a. O.). Im Zeitpunkt der Ausreise des Kläger (Januar 2004) musste die in Tschetschenien verbliebene Zivilbevölkerung davon ausgehen, jederzeit in die oben beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen der russischen Sicherheitskräfte verwickelt zu werden, sodass die für die Annahme einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung geforderte Verfolgungsdichte zu bejahen ist.

Aus alledem ergibt sich aber auch, dass die russische Armee und die mit ihr verbundenen prorussischen tschetschenischen Kräfte seit September 1999 den Bürgerkrieg gegen die tschetschenischen Separatisten in einer Weise geführt wird, die sich als Gegenterror gegen die dort lebende tschetschenische Zivilbevölkerung darstellt. Der Senat geht angesichts der oben geschilderten Sachlage auch davon aus, dass der russische Staat im Zweiten Tschetschenienkrieg die ganze Bevölkerungsgruppe der Tschetschenen pauschal verdächtigt, gegen die Russische Föderation zu kämpfen und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten bekämpft hat, so dass sich dies als eine sowohl an die vermutete politische Überzeugung als auch an die Ethnie anknüpfende Verfolgung der gesamten Volksgruppe der Tschetschenen im Sinne der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.04.1996 - 9 C 170.95 - (a. a. O.) und vom 15.07.1997 - 9 C 2/97 - (a. a. O.) darstellt.

Die russischen Regierungstruppen und die mit ihnen operierenden Kräfte Kadyrows haben die Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit und eines ihnen pauschal unterstellten Verdachtes der Unterstützung der Widerstandskämpfer mit militärischen Maßnahmen bekämpft, welche über die erforderliche staatliche Gegenwehr zur Rückeroberung bzw. Behauptung der effektiven Gebietsgewalt und Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinausgehen. Die Aktionen der Streitkräfte sind bei einer Vielzahl von Angriffen bewusst auch gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung gerichtet gewesen. Dabei sind wahllos Zivilobjekte bombardiert und Verluste unter der Zivilbevölkerung so bewusst und regelmäßig in Kauf genommen worden, dass zwischen Angriffen auf militärische und zivile Ziele kaum noch zu unterscheiden gewesen ist. Auch sonst ist es häufig zu Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung gekommen.

Die erkennbare Gerichtetheit der Maßnahmen der russischen Streitkräfte und der mit ihnen verbundenen tschetschenischen Kräfte auch gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung hat die Regierung der Russischen Föderation zumindest stillschweigend hingenommen, weshalb ihr diese Maßnahmen zuzurechnen sind. Der russische Staat hat es im Zweiten Tschetschenienkrieg zugelassen, dass seine Militärkräfte auf eine Art und Weise operierten, dass die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit asylrechtlich relevanten Übergriffen ausgesetzt ist.

Dies alles rechtfertigt die Annahme einer regionalen Gruppenverfolgung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in der Teilrepublik Tschetschenien.

2. Mit dem Bay. VGH (Urt. v. 31.01.2005, a. a. O.), dem OVG NRW (Urt. v. 12.07.2005, a .a. O.), dem OVG Saarland (Urt. v. 16.12.2004, a. a. O.) und dem Thür.OVG (Urt. v. 16.12.2004, a. a. O.) ist der Senat allerdings der Auffassung, dass tschetschenischen Asylbewerbern bis zum Ablauf des Juni 2004 eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation zur Verfügung stand.

Selbst bei Anlegung des in der Rechtsprechung für die Fälle der so genannten Vorverfolgung im Heimatland entwickelten "herabgestuften" Prognosemaßstabs für die Feststellung einer Rückkehrgefährdung stand den aus Tschetschenien stammenden Bürgern der Russischen Föderation russischer Volkszugehörigkeit, aber auch ethnischen Tschetschenen in anderen Regionen der Russischen Föderation bís zum Ablauf des Monats Juni 2004 eine auch unter wirtschaftlichen Aspekten zumutbare und für die Betroffenen tatsächlich erreichbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung, die mit Blick auf den im Asylrecht geltenden Grundsatz der Subsidiarität des Schutzes vor politischer Verfolgung im Zufluchtsstaat, hier in der Bundesrepublik Deutschland, einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt. Zur Begründung dieser vorstehenden Auffassung bezieht sich der Senat auf die Gründe der zitierten Entscheidungen, insbesondere der Entscheidung des Bay. VGH im Urteil vom 31.01.2005 (a. a. O.) und des OVG NRW im Urteil vom 12. 07.2005 (a. a. O.), denen sich der Senat anschließt.

3. Diese Sachlage hat sich jedoch mit Ablauf des Juni 2004 wesentlich verändert.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30.08.2005 "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - Tschetschenien - Stand: Juli 2005", S. 10, arbeitet die Russische Regierung auf eine baldige Rückkehr aller tschetschenischen Binnenflüchtlinge (etwa 500.000) hin. Als Ausdruck einer angeblichen "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien sind die letzten Zeltlager in Inguschetien aufgelöst. Präsident Putin hat den Zweiten Tschetschenienkrieg für beendet erklärt (FR vom 31.12 2005). Kadyrow strebt die Polygamie an, um das Bevölkerungswachstum in Tschetschenien zu beschleunigen (FR vom 14.01.2006).

Zwangsdeportierungen nach Tschetschenien finden zwar nicht statt. Indirekt sollen Tschetschenen jedoch gezwungen werden, in ihre Heimatregion zurückzukehren. Der Umtausch der alten sowjetischen Inlandspässe, deren Gültigkeit ursprünglich bis zum 31.12.2003 begrenzt war, verlief so zögerlich, dass die Umtauschfrist durch Verordnung der Russischen Regierung nochmals bis zum 30.06.2004 verlängert wurde. Nach Angaben des Russischen Innenministeriums sind etwa 200.000 russische Staatsangehörige ihrer Umtauschpflicht dennoch nicht nachgekommen, darunter 30.000, die im Ausland leben. Für diejenigen russischen Staatsangehörigen, die seit dem 01.07.2004 kein gültiges Personaldokument vorweisen können, gelten die üblichen Vorschriften: Sie müssen eine Geldstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen. Der Umtausch erfolgt nunmehr wieder nach dem üblichen Verfahren, d. h. Sonderbedingungen, wie die Beantragung am Ort der befristeten Registrierung, gelten nicht mehr. Dies bedeutet, dass jemand, der in Moskau oder St. Petersburg lebt, aber in Tschetschenien oder Wladiwostok registriert ist, entweder mehrere tausend Kilometer reisen muss, um einen neuen Inlandspass zu erhalten, oder bis auf weiteres in der Illegalität leben muss. Der Inlandspass ist wiederum Voraussetzung für die Registrierung und damit den Zugang zu Sozialleistungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation <Tschetschenien> vom 15.02.2006, S. 27).

Tschetschenische Rückkehrer wurden im Allgemeinen in andere russische Regionen zur Registrierung als Binnenflüchtlinge verwiesen. Eine Registrierung als Binnenflüchtling (IDP, Internally displaced person) und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen (Wohnung, Schule, medizinische Fürsorge, Arbeitsmöglichkeit) wird in der Russischen Föderation laut Berichten von amnesty international und UNHCR regelmäßig verwehrt. Während im ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 etwa 150.000 Bürger Tschetscheniens als Opfer "massenhafter Unruhen" (so der Gesetzeswortlaut) den Status eines Binnenflüchtlings erhielten, waren es nach dem zweiten Tschetschenienkrieg zwischen 1999 und 2001 insgesamt nur etwa 12.500. Nach Überzeugung von Menschenrechtlern war diese restriktive Anwendung des Begriffes "massenhafte Unruhen" auf den zweiten Tschetschenienkrieg stark dadurch motiviert, dass im ersten Krieg primär ethnische Russen den Status eines Binnenflüchtlings erhielten, vom zweiten Krieg jedoch fast nur ethnische Tschetschenen betroffen waren.

Die meisten ethnischen Russen hatten Tschetschenien bereits verlassen. Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der sog "Kadyrowzy", die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel 10 Rubel, also ungefähr 30 Cent; für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher, z.B. an der inguschetisch-tschetschenischen Grenze bei 50 - 100 Rubel, etwa 1,50 - 3 Euro (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation <Tschetschenien> 15.02.2006 S. 28).

Durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. November 2005 an das Verwaltungsgericht Berlin (508-516.80/44143) hat sich die den Urteilen des Bay. VGH und des OVG NRW zugrunde liegende Sachlage entscheidend geändert. Es gibt für Tschetschenen in der Russischen Föderation keine Sonderregelung mehr. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes gab es während des Tschetschenienkrieges für Tschetschenen Anlaufstellen in einigen russischen Regionen, da es auf Grund der Kampfhandlungen damals nicht möglich war, in der Teilrepublik Tschetschenien Papiere zu besorgen. Nicht offiziell mit ständigem Wohnsitz im Ausland lebende russische Staatsangehörige können Pässe jetzt nur noch persönlich am registrierten Wohnort in Russland beantragen. Sollten sie im Ausland ohne Dokumente leben, müssen sie bei einer russischen Auslandsvertretung ein Rückreisedokument ("svidetelstvo o vozvraschtschenii") beantragen und an ihren registrierten Wohnort zurückkehren, der sich selbst nach jahrelanger Abwesenheit nicht ändert, da es in der Russischen Föderation keine Abmeldung von Amts wegen gibt. Demnach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der "Befehl Nr. 347" des Russischen Innenministeriums vom 24. Mai 2003 tatsächlich nur befristete Gültigkeit bis zuletzt 30. Juni 2004 hatte, was die Begründung eines legalen Aufenthalts durch den Kläger nach Rückkehr in die Russische Föderation nahezu unmöglich macht. Ein gültiger russischer Inlandspass ist grundsätzlich bei der für den Betroffenen zuständigen MeIdebehörde zu beantragen (Abschnitt III. 4 des Ad-hoc-Berichts des Auswärtigen Amtes vom 13.12.2004). Bei Geltung des "Befehls Nr. 347" bedeutete das jedoch nicht zwingend, dass der Betroffene persönlich bei dem Einwohnermeldeamt in Tschetschenien vorsprechen musste, bei dem er zuletzt mit ständigem Wohnsitz registriert war, denn der Erlass bestimmte, dass der Umtausch eines alten sowjetischen in einen neuen russischen Pass nicht nur am Ort der Registrierung, sondern auch am Wohnort des Betroffenen erfolgen konnte.

Der von "Memorial" (vgl. die Ausarbeitung "Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation Juni 2003 - Mai 2004", S. 59) dokumentierte Fall eines in Moskau wohnenden Tschetschenen, der den Umtausch erfolgreich durch Antrag-stellung bei einer Moskauer Dienststelle durchführen konnte, zeigte, dass es möglich war, von einer Passbehörde in Tschetschenien einen neuen Inlandspass zu erhalten, ohne sich zu diesem Zweck selbst nach Tschetschenien begeben zu müssen. Noch am 24. Juni 2004 hatte die Leiterin des Legal Network Migration Rights von "Memorial", Svetlana Gannuschkina, vor dem Bundesamt darauf hingewiesen, dass der vorgenannte Erlass einer Gerichtsentscheidung zufolge nach wie vor gültig sei. Auch wenn es nur wenige Fälle gebe, in denen Tschetschenen am Ort ihres aktuellen Aufenthalts, d.h. am Ort ihrer vorübergehenden Registrierung, Pässe erhalten hätten, gelte es "festzuhalten, dass ein Inlandspass offiziell dort beantragt werden könne, wo man zum jetzigen Zeitpunkt lebe" (S. 4 des vom 12.7.2004 stammenden Protokolls des Bundesamtes über den Informationsaustausch zum Tschetschenienkonflikt am 24.6.2004). Nachdem nun feststeht, dass der "Befehl Nr. 347" nicht mehr verlängert worden ist und seine Gültigkeit damit Ende Juni 2004 durch Zeitablauf verloren hat, kann nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, dass der Kläger bei Rückkehr in russische Föderation einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation erlangen kann, ohne sich an seinen letzten Wohnort in der Region Tschetschenien zurück zu begeben.

Dass die Beantragung eines russischen Inlandspasses für rückkehrende Tschetschenen außerhalb Tschetschenien seit dem 30.06.2004 nicht mehr möglich ist, wird im Grundsatz auch von der Beklagten, deren Vertreterin in der mündlichen Verhandlung des Senats anwesend war, nicht in Abrede gestellt.

Demnach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass Tschetschenen, die ihren letzten Wohnort in der Teilrepublik Tschetschenien hatten und über keinen Inlandspass verfügen, nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation gezwungen sind, sofern sie ein legales Leben führen wollen, an ihren letzten Wohnort und damit in das Gebiet der regional kollektiven Gruppenverfolgung zurückzukehren. Dort sind sie wiederum zur Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - wie oben dargelegt - existentiellen Bedrohungen ausgesetzt. Die Sicherheitslage in Tschetschenien ist daher unverändert instabil mit der Folge, dass die für eine regional begrenzte Gruppenverfolgung zu fordernde Verfolgungsdichte auch heute im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung anzunehmen ist. Selbst wenn man aufgrund der Auskunftslage davon ausgehen sollte, dass sich für den Rückkehrzeitpunkt nicht unzweifelhaft feststellen lässt, ob die Gefährdungen für nach Tschetschenien zurückkehrende tschetschenische Volkszugehörige sich überwiegend aus Übergriffen durch die russischen Sicherheitskräfte, durch Kadyrow - Anhänger oder aus Übergriffen durch die in Tschetschenien ansässigen Rebellengruppen, oder sonstigen marodierenden Banden ergeben, ist dies für die Frage der Rückkehrgefährdung deshalb ohne Belang, da gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Verfolgungshandlungen sowohl vom Staat (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a AufenthG) als auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 b AufenthG) oder von nicht staatlichen Akteuren ausgehen können, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG). Der russische Staat ist nach der Auskunftslage (s. o.) nicht in der Lage, der tschetschenischen Zivilbevölkerung in der Teilrepublik Tschetschenien ausreichend Schutz vor Übergriffen durch seine eigenen Streitkräfte oder durch andere dort operierende Gruppen zu gewähren, so dass es auf eine exakte Differenzierung danach, von welcher Gruppierung überwiegend die Gefährdungen der Zivilbevölkerung ausgehen, nicht ankommt.

Dem steht nicht entgegen, dass nach der erläuternden Auskunft des AA vom 03.03.2006 an den Bay. VGH (508-5126.80/44374) sich die Anwesenheit von inlandspasslosen Rückkehrern nach Tschetschenien möglicherweise nur auf einen kurzen Zeitraum erstreckt. Nach dieser Auskunft sieht der Erlass der Russischen Föderation Nr. 828 eine maximale Bearbeitungsdauer von 10 Tagen vor. Nach Auskünften der Moskauer Passstellen und der Pass- und Visaverwaltung der Tschetschenischen Republik in Grosny soll diese Frist in der Regel auch in Tschetschenien eingehalten werden. Nach Angaben der Pass- und Visaverwaltung in Tschetschenien könne die Ausstellung bei noch notwendigen Rückfragen bis zu einem Monat dauern. In diesen Fällen könne jedoch ein vorübergehender Ausweis ausgestellt werden, so dass für die betreffende Person die Möglichkeit bestehe, Tschetschenien nach der Antragsabgabe in Richtung des derzeitigen Wohnorts wieder zu verlassen und zur Passausgabe wieder einzureisen.

Angesichts der großen Entfernungen in Tschetschenien - der Kläger müsste sich hier nach Grosny begeben - und des Umstands, dass er sich in jedem Fall ohne die zahlreichen Hin- und Rückreisen mindestens 10 Tage im Gebiet der regionalen Gruppenverfolgung zwingend aufhalten müsste, kann mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei dieser Verfahrenweise Gefährdungen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt wäre.

Ethnischen Tschetschenen, die ihren letzten Wohnort vor ihrer Ausreise in der Region Tschetschenien hatten, über keinen Inlandspass verfügen und in die Russische Föderation zurückkehren müssen, ist daher wegen der damit verbundenen Gefährdungen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren.

Auch der Bay.VGH hat in seinem Beschluss vom 24.02.2006 - 11 B 03.30641 - ausgeführt, dass, nachdem der "Befehl Nr. 347" offenbar nicht mehr verlängert worden ist und seine Gültigkeit damit Ende Juni 2004 durch Zeitablauf verloren hat, nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, dass der Kläger - in einer der Grundsatzentscheidung des Senats vom 31.01.2005 (a. a. O.) vergleichbaren Konstellation - einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation erlangen kann, ohne sich an seinen letzten Wohnort in T. - Inguschetien zurück zu begeben).

Anders würde sich die Lage beurteilen, wenn die Bundesrepublik Deutschland dafür sorgte - wie von der Gesellschaft für bedrohte Völker in der Schrift "Abschiebung in den Tod: Deutschland lässt tschetschenische Flüchtlinge im Stich", März 2006, angemahnt -, dass tschetschenischen Rückkehrern die erforderlichen Inlandspässe durch die russischen Auslandsbehörden bereits vor ihrer Rückkehr in die Russische Föderation ausgestellt würden.

Der Senat sieht sich im Übrigen mit seiner Entscheidung auch im Einklang mit der Abschiebepraxis der Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Fast alle europäischen Staaten haben zwar - anders als Schweden - keinen formellen Abschiebestopp für ethnische Tschetschenen nach Russland, gleichwohl werden in der Praxis keine oder kaum Tschetschenen nach Russland abgeschoben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der russischen Föderation <Tschetschenien> 30.08.2005 S. 30). Die Migrationsbehörden in Österreich erteilten in 96 %, in Belgien in 60 % und in Dänemark in 35-50 % der Fälle tschetschenischen Flüchtlingen den Flüchtlingsstatus (Schweizer Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 1).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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