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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 01.02.2006
Aktenzeichen: 2 L 912/03
Rechtsgebiete: BauGB


Vorschriften:

BauGB § 34 I
1. Eine nicht mehr vorhandene Bebauung kann für eine gewisse Zeit derart fortwirken, dass ein Grundstück nach Beseitigung der Bebauung seine Innenbereichsqualität noch behält. Die Prägung dauert fort, solange mit einer Wiederbebauung oder einer Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen ist. Innerhalb welcher zeitlichen Grenzen Gelegenheit besteht, an die früheren Verhältnisse wieder anzuknüpfen, richtet sich nach der Verkehrsauffassung (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.1986 - 4 C 15.84 -, BVerwGE 75, 34). Bei einer Zeitspanne von mehr als 60 Jahren ist die zeitliche Grenze jedenfalls überschritten.

2. Eine solche "nachwirkende Prägung" umfasst nur den Bereich, auf dem sich der alte Baubestand befunden hatte.

3. Zur Bedeutung von Baulichkeiten zu Freizeitzwecken und topografischer Verhältnisse für die Reichweite des Bebauungszusammenhangs.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 L 912/03

Datum: 01.02.2006

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 124a Abs. 4-6 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. der Novellierung v. 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO -, diese in der jeweils gültigen Fassung, sowie auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO <Kosten> und auf §§ 14, 13 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]), - GKG - i. V. m. Abschnitt II Nr. 7.1.1 und Nr. 7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der zum Zeitpunkt der Antragstellung noch geltenden Fassung vom Januar 1996 (DVBl 1996, 605 ff.) <Streitwert>.

1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Besondere Schwierigkeiten liegen vor, bei erheblich über dem Durchschnitt liegender Komplexität der Rechtssache, im Tatsächlichen besonders bei wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen, wenn der Sachverhalt schwierig zu überschauen oder zu ermitteln ist, im Rechtlichen bei neuartigen oder ausgefallenen Rechtsfragen (Meyer-Ladewig in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 124 RdNrn. 27, 28).

Besondere Schwierigkeiten in diesem Sinne sind hier nicht dargelegt. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der besonderen "geschichtlichen Situation" des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks, die die Klägerinnen darin sehen, dass die auf dem Grundstück ursprünglich vorhandene Villa Ende des Zweiten Weltkriegs durch einen Bombentreffer zerstört wurde.

Für den Bebauungszusammenhang im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB ist grundsätzlich auf die tatsächlich vorhandene Bebauung abzustellen (BVerwG, Beschl. v. 08.11.1999 - 4 B 85/99 -, BauR 2000, 1171). Den Maßstab für die Zulassung weiterer Bebauung bilden ausschließlich die äußerlich erkennbaren, mit dem Auge wahrnehmbaren Gegebenheiten (BVerwG, Urt. v. 12.12.1990 - 4 C 40/87 -, BauR 1991, 3). Eine Bebauung oder Nutzung, die in früherer Zeit zwar genehmigt worden ist, die in den tatsächlichen Gegebenheiten aber deshalb keinen Niederschlag mehr findet, weil sie später wieder beseitigt oder eingestellt worden ist, hat bei der Qualifizierung der "Eigenart der nähren Umgebung" im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (BVerwG, Urt. v. 27.08.1998 - 4 C 5.98 -, NVwZ 1999, 523 [525]). Zwar kann eine nicht mehr vorhandene Bebauung für eine gewisse Zeit derart fortwirken, dass ein Grundstück nach Beseitigung der Bebauung seine Innenbereichsqualität noch behält. Die Prägung dauert fort, solange mit einer Wiederbebauung oder einer Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen ist. Innerhalb welcher zeitlichen Grenzen Gelegenheit besteht, an die früheren Verhältnisse wieder anzuknüpfen, richtet sich nach der Verkehrsauffassung (BVerwG, Urt. v. 19.09.1986 - 4 C 15.84 -, BVerwGE 75, 34; Urt. v. 12.09.1980 - IV C 75.77 -, DÖV 1980, 922; Urt. v. 27.08.1998, a. a. O.). Bei einer Zeitspanne von mehr als 60 Jahren wie hier, ist die zeitliche Grenze indes in aller Regel überschritten. Allein der Umstand, dass in unmittelbarer Nachbarschaft des beseitigten Baubestands eine bauliche Nutzung stattfindet, lässt nach Ablauf eines derart langen Zeitraums eine Wiederbebauung nicht erwarten.

Selbst wenn eine solche "nachwirkende Prägung" noch bestehen sollte, könnte sie nur den Bereich umfassen, auf dem sich das Villengebäude befunden hatte. Das Vorhaben der Klägerinnen nimmt aber eine andere Fläche auf dem 16.000 m³ großen Grundstück (Flurstück G1) in Anspruch als der durch die Kriegseinwirkungen zerstörte Baubestand. Die Fläche, auf welche die zur Genehmigung gestellten vier Einfamilienhäuser nebst Carports und Stellplätzen errichtet werden sollen, erstreckt sich nach den Bauvorlagen in südwestlicher Richtung nahezu bis zur S. Straße. Dem gegenüber nahmen die ehemals vorhandene Villa und die dazu gehörigen Nebengebäude offenbar nur Flächen im nördlichen Teil des Grundstücks in Anspruch. Zwar liegt keine ältere Flurkarte vor, in der der Standort der zerstörten Villa dokumentiert ist. Die Lage des noch vorhandenen Kellers, die sich dem von der Beklagten vorgelegten Luftbild entnehmen lässt, deutet aber darauf hin, dass sich die Villa im nördlichen Teil des Grundstücks befand. Davon gehen auch die Klägerinnen aus, soweit sie sich auf die Anlage 1 beziehen, in der das Villengebäude mit dem Vermerk "Abbruch" dargestellt sei. Um einen Bebauungszusammenhang bis zur S. Straße annehmen zu können, genügt es indessen nicht, dass lediglich der nördliche Teil des - sehr großen - Grundstücks bebaut war bzw. noch ist. Auf die Grundstücksgrenzen kommt es für die Ausdehnung des Bebauungszusammenhangs nicht entscheidend an (vgl. Beschl. v. 11.06.1992 - 4 B 88.92 -, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 151, m. w. Nachw.). Die auf einem Grundstück vorhandene Bebauung zieht nicht zwangsläufig das gesamte Grundstück in den Zusammenhang gleichsam hinein; ebenso wie ein Bebauungszusammenhang nicht unmittelbar mit dem letzten Baukörper zu enden braucht, verbietet sich umgekehrt die Annahme, dass notwendig das (letzte) bebaute Grundstück in seinem gesamten Umfang vom Zusammenhang erfasst wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.11.1968 - IV C 47.68 -, BRS 20 Nr. 38; Urt. v. 03.03.1972 - IV C 4,69 -, BauR 1972, 225).

Die von den Klägerinnen zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.03.1986 (4 B 41.86 -, UPR 1987, 32) und vom 13.02.1976 (IV C 53.74 -, NJW 1976) gebieten keine andere Betrachtung. In der zuerst genannten Entscheidung hat sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich die für das Bestehen eines Ortsteils im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB erforderliche "organische Siedlungsstruktur" aus der Entstehungsgeschichte der Siedlungsform (Moorsiedlung) ergeben könne. In der anderen Entscheidung ging es um die Frage, ob eine regellose Bebauung einen solchen Ortsteil bilden könne. Für die im konkreten Fall entscheidende Frage, wie weit der Bebauungszusammenhang eines Ortsteils reicht, insbesondere ob hiervon bisher unbebaute Flächen eines Grundstücks erfasst werden, lässt sich hieraus nichts gewinnen. 2. Auch die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht.

Weder ein unterschiedlicher Aufwuchs südöstlich und nordwestlich des S.-wegs noch die Bezeichnung der unbebauten Flächen als "ungenutzte Freiflächen und Wald" in einem Vermögenszuordnungsbescheid sind geeignete Kriterien, um das Ende des Bebauungszusammenhangs zu bestimmen. Wie bereits dargelegt, kommt es maßgeblich auf die tatsächlich vorhandene Bebauung an.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter angenommen, dass der in der Mitte des Baugrundstücks gelegene "Bungalow" nicht geeignet ist, einen Zusammenhang mit der Bebauung im nördlichen Grundstücksteil herzustellen. Der Einwand der Klägerinnen, diese "Datscha" könne einer Gartenlaube nicht gleichgestellt werden, weil darin eine Nutzung als Wochenendhaus zulässig sei, trägt nicht. Unter den Begriff der Bebauung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB fällt nicht jede beliebige bauliche Anlage. Gemeint sind vielmehr Bauwerke, die für die angemessene Fortentwicklung der vorhandenen Bebauung maßstabsbildend sind. Dies trifft ausschließlich für Anlagen zu, die optisch wahrnehmbar und nach Art und Gewicht geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten städtebaulichen Charakter zu prägen. Hierzu zählen grundsätzlich nur Bauwerke, die dem ständigen Aufenthalt von Menschen dienen. Baulichkeiten, die nur vorübergehend genutzt zu werden pflegen, sind unabhängig davon, ob sie landwirtschaftlichen Zwecken, Freizeitzwecken (z.B. kleine Wochenendhäuser, Gartenhäuser) oder sonstigen Zwecken dienen, in aller Regel keine Bauten, die für sich genommen als ein für die Siedlungsstruktur prägendes Element zu Buche schlagen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.08.2001 - 4 B 26.01 -, BauR 2002, 277, m. w. Nachw.).

Auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, der auf dem Baugrundstück im Nordwesten vorhandene Hügel bilde keine natürliche, den Bebauungszusammenhang erst abschließende Grenze, vermögen die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen nicht zu entkräften. Die Berücksichtigung topografischer Verhältnisse wie etwa Geländehindernisse oder -erhebungen kann zwar - wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist - dazu führen, dass der Bebauungszusammenhang im Einzelfall nicht - wie dies allerdings der Regel entspricht - am letzten Baukörper endet, sondern dass ihm noch ein oder auch mehrere unbebaute Flächen bis zu einer sich aus der örtlichen Situation ergebenden natürlichen Grenze zuzuordnen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.12.1990 - 4 C 40/87 -, BauR 1991, 308). Der Einwand der Klägerinnen, im Villengebiet seien mehrere Hügel vorhanden, die dazu gedient hätten, die einzelnen Villen auch optisch voneinander abzugrenzen, liegt neben der Sache; denn es ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, ob Geländeerhebungen einzelne Gebäude voneinander abschirmen (sollen), sondern ob ihnen der Charakter einer natürlichen, den Bebauungszusammenhang abschließenden Grenze zukommt.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben sich auch nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht in Frage gestellt hat, ob die auf dem Baugrundstück und in der näheren Umgebung vorhandene Bebauung überhaupt einen Ortsteil bilden (Seite 6 des Urteilsabdrucks). Das Verwaltungsgericht hat auf diesen Gesichtspunkt nicht entscheidungserheblich abgestellt, sondern nur darauf, dass die zur Bebauung vorgesehene Fläche einem (möglicherweise) bestehenden Ortsteil nicht mehr angehört.

Schließlich kommt es auch nicht auf die Frage an, ob die dem Grünflächenamt dienenden Garagen und Stellplätze sowie der gepflasterte Hof noch dem Ortsteil zuzurechnen sind; auch wenn dies anzunehmen sein sollte, folgt daraus noch nicht, dass auch die weiter südwestlich gelegen, zur Bebauung vorgesehenen Flächen noch vom Bebauungszusammenhang erfasst werden.

Ende der Entscheidung

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