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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 04.05.2006
Aktenzeichen: 2 M 132/06
Rechtsgebiete: BauNVO, BauGB


Vorschriften:

BauNVO § 15
BauGB § 34
BauGB § 35
1. Ist für eine bestimmte bauliche Anlage eine Baugenehmigung erteilt worden und geht es in einem Rechtsstreit - wie bei der vorliegenden Drittanfechtung - um die rechtliche Überprüfung dieser Baugenehmigung, kommt es für die Frage einer etwaigen Verletzung des Rücksichtnahmegebotes grundsätzlich ausschließlich darauf an, ob diese Baugenehmigung bzw. das Bauvorhaben in seiner genehmigten Gestalt und Nutzung mit dem Rücksichtnahmegebot in Einklang steht.

2. Anders können aber die Fälle zu beurteilen sein, in denen ein Vorhaben zwar rechtmäßig wäre, wenn es den genehmigten Bauvorlagen entspräche und die erlassenen Nebenbestimmungen einhielte, in Wirklichkeit aber von vornherein feststeht, dass dies nicht gewollt und/oder nicht möglich ist und die aufgrund der Baugenehmigung errichtete Anlage daher in ihrer tatsächlichen Nutzung das Rücksichtnahmegebot verletzen oder in sonstiger Weise gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßen wird.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 132/06

Datum: 04.05.2006

Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte nachträgliche Baugenehmigung für die Sanierung und Erweiterung eines Mehrzweckgebäudes zu Unrecht abgelehnt. Stattdessen ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das Interesse der Beigeladenen an der Verwirklichung ihres genehmigten Vorhabens überwiegt (§§ 80a Abs. 1 Nr. 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die angefochtene Baugenehmigung verstößt nämlich nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung gegen das auch dem Schutz der Antragsteller als Nachbarn dienende bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme.

Hierbei kann dahinstehen, ob der von der Beigeladenen u.a. für den Standort des streitgegenständlichen Vorhabens erlassene Bebauungsplan wirksam und das Rücksichtnahmegebot daher auf § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zu stützen ist, oder ob - wie die Antragsteller geltend machen - dieser Bebauungsplan rechtswidrig ist und das Rücksichtnahmegebot daher seine Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 oder § 35 Abs. 2 BauGB findet. Unabhängig davon ist das Gebot der Rücksichtnahme jedenfalls dann verletzt, wenn von der mit dem angefochtenen Bescheid genehmigten baulichen Anlage Störungen oder Belästigungen ausgehen, die auf dem Nachbargrundstück der Antragsteller nicht zumutbar sind. Eine derartige Störungswirkung ist hier indes nach Aktenlage zu bejahen.

Da das Gebot der Rücksichtnahme auf Gegenseitigkeit angelegt ist, erfordert es eine Interessenabwägung der beiderseitigen Belange. Hierbei ist auf den Gesichtspunkt der Zumutbarkeit abzustellen. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 34 RdNr. 50 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Ist für eine bestimmte bauliche Anlage eine Baugenehmigung erteilt worden und geht es in einem Rechtsstreit - wie bei der vorliegenden Drittanfechtung - um die rechtliche Überprüfung dieser Baugenehmigung, kommt es für die Frage einer etwaigen Verletzung des Rücksichtnahmegebotes grundsätzlich ausschließlich darauf an, ob diese Baugenehmigung bzw. das Bauvorhaben in seiner genehmigten Gestalt und Nutzung mit dem Rücksichtnahmegebot in Einklang steht. Keine Aufhebung oder Vollzugsaussetzung dieser Baugenehmigung darf das Gericht daher in den Fällen anordnen, in denen die Bauausführung von der Genehmigung abweicht und das Rücksichtnahmegebot lediglich aufgrund dieser Abweichung verletzt ist (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/ Schmaltz/Wiechert, NdsBauO, 7. Aufl., § 72 RdNr. 142). Anders können aber die Fälle zu beurteilen sein, in denen ein Vorhaben zwar rechtmäßig wäre, wenn es den genehmigten Bauvorlagen entspräche und die erlassenen Nebenbestimmungen einhielte, in Wirklichkeit aber von vornherein feststeht, dass dies nicht gewollt und/oder nicht möglich ist und die aufgrund der Baugenehmigung errichtete Anlage daher in ihrer tatsächlichen Nutzung das Rücksichtnahmegebot verletzen oder in sonstiger Weise gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßen wird. Daher kann der Nachbar beispielsweise eine Baugenehmigung mit Erfolg anfechten, wenn ein Bauvorhaben mit seinem Nutzungszweck unzulässig ist und deshalb eine zulässige Nutzung offensichtlich vorgeschoben wird (sog. "Etikettenschwindel", vgl. Nds.OVG, Urt. v. 26.04.1993 - 6 L 169/90 -, OVGE MüLü Bd. 33, 430; Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NdsBauO, 7. Aufl., § 72 RdNr. 142) oder wenn eine Baugenehmigung mit Nebenbestimmungen zur Einhaltung bestimmter Immissionsrichtwerte versehen wird, die als bloße Zielvorgabe von vornherein ungeeignet sind, einen ausreichenden Nachbarschutz sicher zu stellen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 13.07.1998 - 7 B 956/98 - NVwZ 1998, 980). Auf derartige Nebenbestimmungen kann es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung schon deshalb nicht entscheidend ankommen, weil sie im Widerspruch zu dem genehmigten Vorhaben stehen und im Falle der bestimmungsgemäßen Nutzung der genehmigten Anlage aus tatsächlichen Gründen überhaupt nicht eingehalten werden können. Ein derartiger Fall ist hier nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung gegeben.

Die angefochtene Baugenehmigung enthält unter ihrer Nr. 1.6 die "Auflage", dass die Stellungnahme des Umweltamtes vom 13.02.2003 Bestandteil der Baugenehmigung sein soll. Diese Stellungnahme enthält ihrerseits unter ihrer Nr. 3 Auflagen zum Immissionsschutz. Unter 3.1.2. heißt es, dass die Nutzung des geplanten Vorhabens auf der Grundlage der Schallimmissionsprognose vom 04.11.2002 und den darin vorgegebenen Veranstaltungen und deren Zeiten zu erfolgen habe. Unter Nr. 7 dieser Schallimmissionsprognose ist ausgeführt, dass das Mehrzweckgebäude nur mit geschlossenen Fenstern und Türen durchgehend genutzt werden könne, geöffnete Fenster und Türen jedoch an Sonn- und Feiertagen, in den zusätzlichen Ruhezeiten und in den Nachtstunden bei der Durchführung von Tanzveranstaltungen oder Familienfeiern mit Musik zu Überschreitungen (der Immissionsrichtwerte) führen würden. Dementsprechend wird unter Nr. 3.1.3. der genannten Stellungnahme des Umweltamtes für konkrete Zeiten die Einhaltung konkreter dB-Werte aufgegeben und ist dazu weiter ausgeführt, dass zur Gewährleistung der Einhaltung dieser Werte die Nutzung des Mehrzweckgebäudes für Tanzveranstaltungen für die angegebenen Zeiten nur mit geschlossenen Fenstern möglich sei, was auch für Familienfeiern zutreffe, bei denen Musik zum Tanz oder zur Unterhaltung gespielt werde; aus diesem Grunde sei die Ausstattung mit einer Be- und Entlüftungsanlage erforderlich, um bei Feierlichkeiten mit Tanz einen entsprechenden Luftwechsel zu erreichen.

Diese Nebenbestimmungen wären zwar im Falle ihrer Beachtung durchaus geeignet, die Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes zu gewährleisten. In Anwendung der oben genannten Grundsätze sind sie aber als bloße Zielvorgaben einzustufen, die im Widerspruch zu der durch die genehmigten Bauvorlagen konkretisierten Anlage stehen, die ihrerseits aufgrund der beabsichtigten tatsächlichen Nutzung die vorgegebenen Immissionsrichtwerte gerade nicht eingehalten wird und daher die gebotene Rücksichtnahme vermissen lässt.

Im Widerspruch zu den genehmigten Bauvorlagen steht zunächst die Vorgabe, eine Be- und Entlüftungsanlage einzubauen. Unter der Nr. 9.1 der Baubeschreibung zum Bauantrag vom 20.07.2002 hat die Beigeladene unter der Rubrik "Lüftungsanlage" keine Angaben gemacht und auch aus den sonstigen Bauvorlagen lässt sich eine derartige Lüftung nicht entnehmen. Diese Nichterwähnung einer Lüftung in den Bauvorlagen könnte zwar auch die Auslegung zulassen, dass die erteilte Baugenehmigung unter Beachtung der hierzu erlasenen "Auflagen" ausschließlich ein Gebäude mit eingebauter Lüftungsanlage beinhaltet. Selbst dann ist jedoch offensichtlich, dass die beabsichtigte tatsächliche Nutzung des Mehrzweckgebäudes die in den genannten Nebenbestimmungen vorgegebenen Immissionsrichtwerte nicht einhalten wird; denn unabhängig davon, ob das Gebäude mit einer Lüftungsanlage versehen wird oder nicht, ist gerade nicht davon auszugehen, dass die nach der Betriebsbeschreibung vorgesehenen Vereinsversammlungen und Familienfeiern durchgängig bei geschlossenen Fenstern und Türen durchgeführt werden. Vielmehr sprechen alle Umstände dafür, dass dies zumindest in den Sommermonaten weder beabsichtigt noch möglich ist.

Das Gebäude ist im nördlichen Bereich eines von der Beigeladenen ausdrücklich als "Festwiese" bezeichneten, ansonsten unbebauten Grundstücks im Außenbereich errichtet. Die Fläche vor der südlichen Außenwand des Gebäudes lässt sich ohne weiteres als Außenterrasse nutzen und bietet sich förmlich zum Aufstellen von Tischen und Stühlen und zum gemeinsamen Beisammensitzen etwa an Grillabenden an. Genau in dieser Weise ist die südlich vor dem Gebäude liegende Fläche in der Vergangenheit auch genutzt worden. Andererseits ist der Aufenthaltsraum in dem Gebäude mit 25 Sitzplätzen verhältnismäßig klein und fehlt es an einer nennenswerten Tanzfläche außerhalb des für die Aufstellung von Tischen und Stühlen vorgesehenen Bereichs. Angesichts dieser baulichen Situation ist es geradezu vorprogrammiert, dass das Gebäude bei Vereinsfesten oder Familienfeiern in den Sommermonaten nicht nur in seinem Innern bei geschlossenen Fenstern und Türen genutzt, sondern dass die Fenster und Türen geöffnet und die Außenfläche vor dem Gebäude in die Nutzung mit einbezogen werden wird, sei es zum längeren Beisammensitzen, sei es auch nur zum Zusammenstehen etwa beim Rauchen. Bei Feierlichkeiten mit mehr als 25 Personen, wie es bei Familien- und Vereinsfesten durchaus der Üblichkeit entspricht, ist die Nutzung auch der Freifläche zudem aufgrund der auf 25 begrenzten Sitzplatzzahl geradezu zwingend. Dies führt zugleich zu einem ständigen Öffnen der Außentür beim Wechseln zwischen dem Innenraum und dem Vorplatz und einem damit verbundenen Nach-Außen-Dringen von Musik. Angesichts dieser Situation und unter Berücksichtigung der Nutzung des zunächst illegal ausgebauten Gebäudes in der Vergangenheit wäre es geradezu lebensfremd anzunehmen, dass eine Nutzung des Gebäudes in der Art, wie sie in der angefochtenen Baugenehmigung durch die Auflage Nr. 1.6 vorgegeben ist, tatsächlich möglich, geschweige denn beabsichtigt ist.

Ist aber nach alledem auf die tatsächlich zu erwartende Nutzung in der beschriebenen Art und Weise abzustellen, hält die angefochtene Baugenehmigung das Gebot der Rücksichtnahme nicht ein; denn die den Antragstellern zumutbaren Geräuschimmissionen werden nach der der Baugenehmigung zugrunde liegenden Schallimmissionsprognose vom 4.11.2002 nur dann eingehalten, wenn Veranstaltungen mit Musik ausschließlich im Innern des Gebäudes bei geschlossenen Fenstern und Türen durchgeführt werden. Dies ist jedoch bei der zu erwartenden Nutzung - wie dargelegt - gerade nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 GKG und in Anlehnung an Nr. I.7 und II.9.7.1. des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327).

Ende der Entscheidung

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