Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 19.06.2003
Aktenzeichen: 2 M 198/03
Rechtsgebiete: VwGO, AO, GewStG


Vorschriften:

VwGO § 78 I Nr. 2
VwGO § 80 IV 3
VwGO § 82 I
VwGO § 88
AO § 164
AO § 165 I 2
AO § 169 II 1 Nr. 2
AO § 171 X
AO § 175 I Nr. 1
GewStG § 11 I
1. Wird der Rechtsschutzantrag gegen eine "Verwaltungsgemeinschaft ... im Namen und im Auftrag der Gemeinde" gerichtet, so kann er dahin ausgelegt werden, dass Antragsgegnerin die Gemeinde sein soll.

2. § 171 Abs. 10 AO hemmt die Verjährung der Steuerfestsetzungsfrist in allen Fällen, in welchen der Grundlagenbescheid noch aufgehoben oder geändert werden kann.

Das gilt vor allem, wenn ein Geltungsvorbehalt angebracht worden ist.

3. Offen bleibt, aber zweifelhaft ist, ob eine Aussetzung wegen "unbilliger Härte" im Fall des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO auch dann möglich ist, wenn die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels der Hauptsache zu verneinen sind.

4. Die Aussetzung wegen "unbilliger Härte" i. S. des § 80 Abs. 4 Nr. 3 VwGO setzt einen besonderen - über den Nachteil des Zahlen-Müssens hinausreichenden - persönlichen Billigkeitsgrund voraus - wie etwa die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz -, wobei das Zahlungsverlangen ursächlich für die "Härte" sein muss.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 198/03

Datum: 19.06.2003

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686), in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987), sowie auf § 154 Abs. 2 VwGO <Kosten> und hinsichtlich des Streitwerts auf §§ 13 Abs. 2; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]), i. V. m. I. Nr. 7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (DVBl. 1996, 605 ff.).

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht gemäß §§ 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 4 Satz 3 VwGO abgelehnt, weil an der Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheides der Antragsgegnerin zur Gewerbesteuer 1996 und 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2003 weder ernstliche Zweifel bestehen (1.) noch die Vollziehung des Abgabenbescheides für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hat (2.).

Dem vorläufigen Rechtsschutzantrag hätte allerdings nicht schon deshalb der Erfolg versagt werden dürfen, weil die Antragstellerin sich mit ihrem Aufhebungsbegehren gegen die falsche, da unzuständige Antragsgegnerin gewendet hat; denn durch die von der Antragstellerin in der Klageschrift vom 14.04.2003 verwendete Formulierung "Verwaltungsgemeinschaft "Bördeblick" Sitz Hecklingen, im Namen und im Auftrag der Gemeinde Groß Börnecke" war diese dahingehend auslegungsfähig, dass sie sich gegen die Gemeinde Groß Börnecke als der richtigen Klagegegnerin im Sinne des § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO richten sollte, zumal der Antragstellerin in der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2003 eine entsprechende Bezeichnung der Beklagten vorgegeben war.

Die übrigen Einwendungen der Antragstellerin bleiben allerdings ohne Erfolg.

1. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen nämlich nur dann, wenn die geltend gemachten Bedenken an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes so gewichtig sind, dass ein Obsiegen des Betroffenen im Klageverfahren wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen (OVG LSA, Beschl. v. 02.02.2001 - 2 M 451/00 -). Daran fehlt es. Entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin ist der angefochtene Änderungsbescheid nicht wegen Verjährung der zugrunde liegenden Gewerbesteuerforderungen für die Jahre 1996 und 1997 rechtswidrig.

Die Festsetzungsverjährung regelt die Abgabenordnung in den §§ 169 bis 171. Nach der Bestimmung des § 171 Abs. 10 AO, die auf den vorliegenden Fall in der Fassung des Jahressteuergesetzes 1997 (vgl. Art. 18 Nr. 4 i. V. m. Art. 32 Abs. 1 vom 20.12.1996 [BGBl I 2049], verkündet am 27.12.1996) anzuwenden ist, endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe eines Grundlagenbescheides, soweit für die Festsetzung einer Steuer ein Feststellungsbescheid, ein Steuermessbescheid oder ein anderer Verwaltungsakt bindend ist (Grundlagenbescheid). So liegt der Fall hier: Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes - GewStG - ist bei der Berechnung der Gewerbesteuer von einem Steuermessbetrag auszugehen, der im Gewerbesteuermessbescheid verbindlich von der Finanzbehörde festgesetzt wird. Im Fall der Antragstellerin wurden für die Jahre 1996 und 1997 erstmals am 15.08.1997 (für 1996) bzw. 05.08.1998 (für 1997) Gewerbesteuermessbescheide erlassen, die gemäß § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen. In den am 08.05.2000 vom Finanzamt Staßfurt erlassenen Gewerbesteuermessbescheiden für die Jahre 1996 und 1997 wurde zwar der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben, jedoch wurden die Messbescheide gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO im Hinblick auf die vor dem Bundesverfassungsgericht zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gewerbesteuergesetzes anhängigen Verfahren für vorläufig erklärt.

Ausgehend davon steht fest, dass der angefochtene Änderungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14.02.2003 die Festsetzungsfrist der §§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2; 171 Abs. 10 Satz 1 AO einhält; denn - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt - besteht aufgrund der Vorläufigkeitsregelung der Gewerbesteuermessbescheide vom 08.05.2000 nach wie vor die Möglichkeit, dass diese geändert oder aufgehoben werden.

§ 171 Abs. 10 AO hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist, soweit der Folgebescheid auf einem Grundlagenbescheid beruht oder beruhen kann. Zweck dieser Regelung ist es, den Finanzbehörden ausreichend Zeit für die Auswertung eines Grundlagenbescheides einzuräumen. § 171 Abs. 10 AO ist somit die verjährungsrechtliche Ergänzung zu § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO, wonach ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern ist, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, geändert wird. Aus dieser gesetzlichen Verzahnung von Grundlagen- und Folgebescheid folgt zugleich, dass die Hemmung des § 171 Abs. 10 AO immer dann eintritt, wenn ein Grundlagenbescheid noch aufgehoben oder geändert werden kann (Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung, § 171 RdNr. 86a m. w. N.). Dies ist aufgrund der Vorläufigkeitsregelung in den Gewerbesteuermessbescheiden hier der Fall. Auf die Frage, ob auch der Folgebescheid vorläufig zu ergehen hat (vgl. dazu Tipke/Kruse, a. a. O. § 165 RdNr. 4), kommt es entgegen der Auffassung der Antragstellerin bei der Bestimmung der Festsetzungsfrist des § 171 Abs. 10 AO nicht entscheidend an.

2. Im Falle der Antragstellerin ergibt sich deren überwiegendes privates Aussetzungsinteresse auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer "unbilligen Härte" im Sinne des § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO.

Der Senat hat bereits Zweifel, ob eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte überhaupt in Betracht kommen kann, wenn - wie hier - keinerlei Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides bestehen; denn die Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsakts ist nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt angefochten worden ist (§ 80 Abs. 1 VwGO). Soll diese Voraussetzung sinnvoll sein, kann die Aussetzung der Vollziehung von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs jedenfalls nicht ganz unabhängig sein. Deshalb ist eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte nur vertretbar, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Sind Zweifel fast ausgeschlossen, hat also der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg, dürfte eine Aussetzung der Vollziehung selbst dann nicht zulässig sein, wenn die Vollziehung eine unbillige Härte zur Folge hätte (vgl. Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, Kommentar zu VwGO, § 80 RdNr. 55; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Stand: Januar 2001, § 80 RdNr. 203; BFH, Beschl. v. 19.04.1968 - VI B 3/66 -, BFHE 92, 314 ff.). In diesem Fall muss der Steuerpflichtige, der der Ansicht ist, zur Zahlung der Steuern nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage zu sein, Erlass, Stundung oder Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragen.

Letztlich kann die Entscheidung über diese Frage hier aber dahinstehen; denn es ist nicht ersichtlich, dass die Vollziehung des angegriffenen Gewerbesteuerbescheides vom 14.02.2003 für die Antragstellerin eine unbillige Härte zur Folge hätte.

Eine "unbillige" Härte im Sinne des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO liegt nämlich nur dann vor, wenn durch die sofortige Vollziehung oder Zahlung dem Abgabenpflichtigen wirtschaftliche Nachteile drohen würden, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer - etwa durch eine spätere Rückzahlung - wieder gutzumachen sind, insbesondere wenn gar die wirtschaftliche Existenz des Abgabenpflichtigen gefährdet wäre (OVG LSA, Beschl. v. 19.03.2002 - 2 M 293/01 -; OVG NW, Beschl. v. 17.03.1994 - 15 B 3022/93 -, NVwZ-RR 1994, 617; BayVGH, Beschl. v. 25.01.1988 - Nr. 6 CS 87.03857 -, BayVBl. 1988, 727; Funke-Kaiser, in Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, a.a.O., § 80 RdNrn. 54, 55; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., RdNr. 791 m. w. N.). Die Vorschrift setzt das Vorliegen eines persönlichen Billigkeitsgrundes in der Person des Abgabepflichtigen voraus, wobei Gegenstand der Beurteilung gerade die Vollziehung des Abgabenbescheides bzw. die sofortige Zahlung durch den Abgabepflichtigen darstellt. Im Rahmen der Vorschrift des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO ist mithin entscheidend darauf abzustellen, ob die sofortige Vollziehung bzw. Zahlung der geforderten Abgabe eine wesentliche Ursache für die Existenzgefährdung darstellen würde, d. h. die Existenzgefährdung gerade durch den Sofortvollzug des Abgabenbescheides verursacht oder entscheidend mitverursacht würde (so auch BayVGH, Beschl. v. 25.01.2988, a.a.O.). Dies ist hier indes nicht der Fall; denn die ohne Zweifel schwierige wirtschaftliche Lage der Antragstellerin wird durch die Gewerbesteuererhebung nicht maßgeblich beeinflusst, sondern ist maßgeblich auf die noch offenen Lieferantenforderungen und ihre eigenen finanziellen Verpflichtungen zurückzuführen. Hat mithin die Vollziehung des Steuerbescheides keinen bestimmenden Einfluss auf die Lebens- und Einkommensverhältnisse der Antragstellerin, kann vom Vorliegen einer "unbilligen" Härte im Sinne des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht ausgegangen werden.

Ende der Entscheidung

Zurück