Judicialis Rechtsprechung
Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:
Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 04.11.2004
Aktenzeichen: 2 M 277/04
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, LSA-BauO
Vorschriften:
VwGO § 80 I | |
VwGO § 80 II Nr 2 | |
VwGO § 80 V | |
BauGB § 212a I | |
LSA-BauO § 6 | |
LSA-BauO § 75 I |
2. § 75 Abs. 1 BauO LSA erlaubt die Abweichung, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtbe-rücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist.
3. Im Verhältnis zum Nachbarn müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe um so gewichtiger sein, je stärker Nachbarinteressen berührt werden.
OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS
Aktenz.: 2 M 277/04
Datum: 04.11.2004
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich im Nachbarstreit gegen eine dem Beigeladenen erteilte Abweichung von den Abstandsflächen für die Nachrüstung eines Mauerwerkschornsteins mit Stahlbetondeckel und Mobilfunkantennen.
Der Antragsteller ist Miteigentümer eines im unbeplanten Innenbereich gelegenen Wohngrundstücks mit rückwärtigem Gartenbereich und einem dort befindlichen Nebengebäude. Die Antragsgegnerin erteilte der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen (...) eine Baugenehmigung zur Errichtung einer Mobilfunkanlage mit sechs Antennen und einer Richtfunkanlage auf einem stillgelegten Mauerwerkschornstein einer früheren Heizungsanlage auf einem südöstlich vom Grundstück des Antragstellers gelegenen Grundstück. Der Schornstein hatte eine Höhe von 39,20 m, die gesamte Anlage hat nunmehr eine Höhe von 33,8 m. Neben dem Schornstein befindet sich ein Metallcontainer für die Unterbringung der Funktechnik. Die Entfernung zwischen dem Schornstein und der Grundstücksgrenze zum Antragsteller beträgt ca. 18 m, bis zum Wohngebäude des Antragstellers besteht eine Entfernung von ca. 50 m.
Mit Bescheid vom 30.08.2002 gewährte die Antragsgegnerin der Beigeladenen eine Abweichung gemäß § 75 BauO LSA bezüglich der Einhaltung von Abstandsflächen auf dem Baugrundstück sowie vom Verbot der Überdeckung der Abstandsflächen.
Dagegen legte der Antragsteller Widerspruch ein. Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines gegen die Abweichung erhobenen Widerspruchs wurde vom Verwaltungsgericht abgelehnt. Das Verwaltungsgericht begründete seine Entscheidung u. a. wie folgt: Die erforderliche Anhörung des Antragstellers als Nachbar sei erfolgt. Die Voreingenommenheit der Antragsgegnerin bei der Ermessensentscheidung sei eine bloße Vermutung. Die Antragsgegnerin habe bei ihrer Ermessensentscheidung nach § 75 BauO LSA mit Recht zugunsten der Beigeladenen berücksichtigt, dass die Beeinträchtigung des Antragstellers infolge der Überlagerung der Abstandsfläche an der Ostseite des Grundstücks des Antragstellers mit etwa 9 m angesichts der Gesamtlänge des Grundstücks und der Entfernung zum Wohnbereich von etwa 50 m nicht erheblich ins Gewicht falle. Von der Mobilfunkanlage der Beigeladenen würden keine unzumutbaren Belästigungen oder gesundheitlichen Gefahren ausgehen. Auch die befürchtete übermäßige Verschattung des Grundstücks des Antragstellers sei angesichts der Lage der Anlage der Beigeladenen zum Grundstück des Antragstellers nicht gegeben. Darüber hinaus werde das Grundstück des Antragstellers seit Jahrzehnten durch den Schornstein beschattet. Die Geräuschimmissionen, die von der Systemtechnik und dem Klimagerät in dem Container am Fuße des Schornsteins ausgingen, rechtfertigten ebenfalls keine Entscheidung zugunsten des Antragstellers. Nach den von der Beigeladenen vorgelegten Unterlagen und Gutachten liege der insoweit festgestellte Dauerschallpegel von 33 bzw. 31 dB(A) schon bei einer Entfernung von 10 m deutlich unter den für ein allgemeines Wohngebiet zulässigen Immissionswerten von 40 dB(A) nachts. Soweit der Antragsteller Pfeifgeräusche vom Gitter unterhalb der Antennenanlage befürchte, könnten diese allenfalls bei starkem Wind auftreten, wobei angesichts der großen Entfernungen zwischen der Anlage und dem Wohnbereich des Antragstellers diese nicht unzumutbar sein könnten.
Dagegen hat der Antragsteller rechtzeitig Beschwerde eingelegt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Verwaltungsvorgänge und auf die Gerichtsakten verwiesen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Unter Zugrundlegung der vom Antragsteller mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO beschränkt ist, ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen, nicht zu beanstanden.
Mit dem Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, dass auch ein Nachbarwiderspruch gegen eine isolierte Abweichung nach § 75 der Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt - BauO LSA - (= Art. 1 des Gesetzes über die Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Änderung des Ingenieurgesetzes und des Vermessungs- und Katastergesetzes vom 23.06.1994 [LSA-GVBl., S. 723], geändert durch Gesetz vom 24.11.1995 [LSA-GVBl., S. 339], i. d. F. des Gesetzes zur Vereinfachung des Baurechts in Sachsen-Anhalt vom 09.02.2001 [LSA-GVBl., S. 50], zuletzt geändert durch Gesetz vom 16.07.2003 [LSA-GVBl., S. 158, 161 <Art. 5>]), gemäß § 212a Abs. 1 des Baugesetzbuchs - BauGB - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1997 (BGBl I 2141, ber.: BGBl. 1998 I 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24.06.2004 (BGBl I 1359), i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, zuletzt geändert durch Gesetz 24.08.2004 (BGBl I 2198 [2204]), keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. Jäde, in: BayBO, zu Art.70 RdNr. 41 m. w. N., zu einer der BauO LSA vergleichbaren Rechtslage).
Nach § 75 Abs. 1 BauO LSA kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen dieses Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Aus den tatbestandlichen Merkmalen des § 75 Abs. 1 BauO LSA ergeben sich hinreichend klare Maßstäbe, wann eine Abweichung zugelassen werden darf. Maßgebend ist entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen unter Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen, wobei die tatbestandlichen Voraussetzungen restriktiv zu handhaben sind. Dies gebietet allein schon der Umstand, dass durch die baurechtlichen Vorschriften die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Belange und Interessen regelmäßig bereits in einen gerechten Ausgleich gebracht worden sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.1991 - BVerwG 4 C 17.90 -, BVerwGE 88,191) und die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Vorschriften der Landesbauordnung nicht gestattet. Angesichts dessen lässt das Merkmal der "Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung" eine Abweichung nur dann zu, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist. Eine derartige Lage ist gegeben, wenn aufgrund der besonderen Umstände der Zweck, der mit einer Vorschrift verfolgt wird, die Einhaltung der Norm nicht erfordert oder wenn deren Einhaltung aus objektiven Gründen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die mit einer Versagung der Abweichung verbunden wäre. Um dies sachgerecht beurteilen zu können, sind stets die mit der gesetzlichen Anforderung verfolgten Ziele zu bestimmen und den Gründen gegenüberzustellen, die im Einzelfall für die Abweichung streiten. Ebenso sind die betroffenen nachbarlichen Interessen zu gewichten und angemessen zu würdigen. Je stärker die Interessen des Nachbarn berührt sind, um so gewichtiger müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe sein. Soll gar von einer nachbarschützenden Vorschrift abgewichen werden, sind die entgegenstehenden Rechte des Nachbarn materiell mitentscheidend (vgl. OVG NW, Urt. v. 28.08.1995 - 10 A 3096/91 -, BRS 57, Nr. 141; BayVGH, Urt. v. 14.12.1994 - 26 B 93.4017 -, BRS 57, Nr. 156). Eine Abweichung kommt in einer derartigen Situation nur in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles der Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für eine Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen.
Ausgehend von diesen Grundsätzen vermag der Antragsteller mit den geltend gemachten Beschwerdegründen die Abweichungsentscheidung der Antragsgegnerin und die dazu ergangene Entscheidung des Verwaltungsgerichts im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht in Frage zu stellen.
1. Soweit die Beschwerde geltend macht, die Abweichungsentscheidung der Antragsgegnerin sei nicht erst mit dem hier angefochtenen Bescheid, sondern bereits anlässlich eines gerichtlichen Erörterungstermins am 11.06.2002 erfolgt, vermag dieses Vorbringen keinen Ermessensfehler der Antragsgegnerin zu begründen. Bereits im Beschluss vom 15.07.2003 im Verfahren - 2 M 111/03 - hatte der Senat ausgeführt, dass der von der Beschwerdeschrift nunmehr erneut unterstellte Geschehensablauf nicht zu belegen vermag, dass die Antragsgegnerin von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht habe. Maßgeblich kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung an, sondern allein darauf, ob die Entscheidung im Ergebnis, so wie sie gefallen ist, ermessensfehlerhaft ist oder nicht; daran ist weiter festzuhalten. Darüber hinaus ermöglicht § 114 S. 2 VwGO den Verwaltungsbehörden, Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts sogar noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu ergänzen.
2. Soweit die Beschwerde weiter rügt, dass der Schattenwurf, der durch die genehmigte Mobilfunkanlage erzeugt werde, ein anderer sei als der Schattenwurf, der bereits seit altersher durch den vorhandenen Heizungsschornstein verursacht würde, und das Verwaltungsgericht habe deshalb keinen Bestandsschutz annehmen dürfen, begründet dies ebenfalls nicht die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat nämlich bei der Frage der Verschattung zutreffend entscheidend auf die tatsächliche Beeinträchtigung des Antragstellers und dabei maßgeblich auf die Lage des Grundstücks und die großen Abstände zwischen dem Wohnbereich des Antragstellers und der umstrittenen Anlage abgestellt. Die Einbeziehung des bereits vorhandenen Schattenwurfs durch den Schornstein erfolgte dabei nur ergänzend. Eine Identität der Schattenwürfe hat das Verwaltungsgericht jedenfalls nicht reklamiert.
3. Soweit die Beschwerdeschrift schließlich geltend macht, dass durch die Anlage bei starkem Wind Pfeifgeräusche erzeugt würden, die beim Antragsteller zu gesundheitsgefährdenden Schlafstörungen führten, vermag dieses Vorbringen der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Für derartige Pfeifgeräusche fehlt es derzeit an jeglichen Anhaltspunkten. Trotz erneuter Ortsbesichtigung konnten die Verwaltungsbehörden keine Pfeifgeräusche durch den Schornstein und seine Anlagen feststellen. Der Senat sieht daher keinen Anlass, dieser Behauptung des Antragstellers im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nachzugehen. Er mag diese Beeinträchtigungen im Hauptsacheverfahren - ggfs. mit Hilfe eines Gutachtens - verifizieren. Eine endgültige Klärung dieser Frage wird dann im Hauptsachverfahren zu erfolgen haben.
Ein irreparabler Schaden beim Antragsteller kann dabei nicht eintreten; denn sollte sich die behaupteten Pfeifgeräusche und die weiter behaupteten Gesundheitsbeeinträchtigungen tatsächlich im Hauptsacheverfahren nachweisen lassen, könnte die Baugenehmigung aufgehoben und die Beigeladene zum - vermutlich unschwer möglichen - Abbau des Antennenmastes verpflichtet werden.
Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 VwGO sowie auf den §§ 154 Abs. 2; 162 VwGO <Kosten> und auf §§ 47 Abs. 1; 52 Abs. 1; 53 Abs. 3 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. des Art. 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes v. 05.05.2004 (BGBl I 718) - GKG - <Streitwert>.
Ende der Entscheidung
Bestellung eines bestimmten Dokumentenformates:
Sofern Sie eine Entscheidung in einem bestimmten Format benötigen, können Sie sich auch per E-Mail an info@protecting.net unter Nennung des Gerichtes, des Aktenzeichens, des Entscheidungsdatums und Ihrer Rechnungsanschrift wenden. Wir erstellen Ihnen eine Rechnung über den Bruttobetrag von € 4,- mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und übersenden diese zusammen mit der gewünschten Entscheidung im PDF- oder einem anderen Format an Ihre E-Mail Adresse. Die Bearbeitungsdauer beträgt während der üblichen Geschäftszeiten in der Regel nur wenige Stunden.