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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 06.11.2006
Aktenzeichen: 2 M 311/06
Rechtsgebiete: NatSchG LSA


Vorschriften:

NatSchG LSA § 56 Abs. 4
1. Der Begriff der "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA ist weiter auszulegen als der entsprechende Begriff im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA. Unter "Befreiungen" im Sinne der erstgenannten Vorschrift sind auch solche Ausnahme- und Abweichungsentscheidungen zu verstehen, die sich auf Schutzgebiete im Sinne des § 44 Abs. 3 beziehen.

2. Wird ein erforderliches naturschutzrechtliches Befreiungsverfahren unterlassen und führt dies dazu, dass durch tatsächliches Handeln die Schaffung vollendeter Tatsachen und eine Vereitelung des im Befreiungsverfahren bestehenden Mitwirkungsrechtes eines Naturschutzverbandes droht, kann dieser Verband beanspruchen, dass die zuständige Behörde alle Maßnahmen unterlässt, die ohne das ansich notwendige Beteiligungsverfahren durchgeführt werden (vgl. OVG Thüringen, Urt. v. 02.07.2003 - 1 KO 389/02 -).


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 311/06

Datum: 06.11.2006

Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 123 VwGO liegen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vor.

Der für eine einstweilige Anordnung erforderliche Anordnungsgrund ist gegeben, weil der Bau des geplanten Weges bereits begonnen wurde und daher eine Vereitelung der Beteiligungsrechte des Antragstellers durch die Schaffung vollendeter Tatsachen droht.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung steht ihm ein vorläufiger Anspruch auf Einstellung des streitgegenständlichen Wegebaus zu, weil es der Antragsgegner versäumte, ihm vor dieser Maßnahme Gelegenheit zur Stellungnahme im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA zu geben. Nach dieser Vorschrift ist einem nach Abs. 1 anerkannten Verein - wie hier dem Antragsteller - vor Befreiungen von Verboten und Geboten zum Schutz von Naturschutzgebieten, Nationalparken, Biosphärenreservaten und sonstigen Schutzgebieten im Rahmen des § 44 Abs. 3 Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben, soweit Auswirkungen auf Natur- und Landschaftsschutz nicht nur im geringfügigen Umfang oder Ausmaß zu erwarten sind. Der Senat lässt offen, ob eine Befreiung vom Verbot des § 6 Abs. 1 der Biosphärenreservatsverordnung "Mittlere Elbe" deshalb nicht in Betracht kommt, weil diese Regelung - wie das Verwaltungsgericht unter Berufung auf seine eigene Rechtsprechung ausführt - keine eigenständigen Verbote enthalte, sondern nur regele, dass Bebauungen und Flächennutzungsänderungen solange nicht gestattet seien, wie etwaig - nach anderen Vorschriften - erforderliche Genehmigungen nicht erteilt worden seien. Jedenfalls beruft sich der Antragsteller mit Erfolg darauf, dass ihm ein Beteiligungsrecht nach § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA aufgrund einer zu erteilenden Befreiung von Verboten und Geboten zum Schutz eines sonstigen Schutzgebiets im Rahmen des § 44 Abs. 3 zusteht.

Das Verwaltungsgericht hat ein solches Beteiligungsrecht unter Hinweis auf § 58 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA verneint: Da die Naturschutzbehörden nach dieser Vorschrift zur Gewährung von Befreiungen nur "mit Ausnahme der §§ 44 bis 46" ermächtigt seien, könne eine auf § 44 Abs. 3 bezogene Ausnahmeentscheidung von vornherein keine Befreiung im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA darstellen. Dieser Auslegung vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Gegen sie spricht bereits der Wortlaut des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA, wonach der Begriff der "Befreiung" ausdrücklich auch auf "sonstige Schutzgebiete im Rahmen des § 44 Abs. 3" bezogen wird. Die Auslegung des Verwaltungsgerichts würde - worauf auch der Antragsteller mit Recht hingewiesen hat - dazu führen, dass das in § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA enthaltene Tatbestandsmerkmal der "sonstigen Schutzgebiete im Rahmen des § 44 Abs. 3" - für die nach § 58 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA keine Befreiungen erteilt werden können -überhaupt keinen Anwendungsbereich hätte. Um ein solches "Leerlaufen" dieses Merkmals zu vermeiden, ist der Begriff der "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA weiter auszulegen als der entsprechende Begriff im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA und sind unter "Befreiungen" im Sinne der erstgenannten Vorschrift auch solche Ausnahme- und Abweichungsentscheidungen zu verstehen, die sich auf Schutzgebiete im Sinne des § 44 Abs. 3 beziehen.

Auf der Grundlage dieses Normverständnisses beruft sich der Antragsteller mit Erfolg auf die Verletzung eines Beteiligungsrechts nach § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA, weil der Antragsgegner nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung vor der weiteren Durchführung des geplanten Wegebaus eine als "Befreiung" im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG LSA zu qualifizierende Abweichungsentscheidung bezogen auf ein Schutzgebiet im Sinne des § 44 Abs. 3 NatSchG LSA treffen muss. Das Erfordernis einer solchen Abweichungsentscheidung ergibt sich aus § 45 Abs. 3 NatSchG LSA i.V.m. §§ 44 Abs. 3 und 45 Abs. 1 und 2 NatSchG LSA. Gemäß § 44 Abs. 3 NatSchG LSA werden Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung und Vogelschutzgebiete nach Maßgabe der in dieser Vorschrift bezeichneten Richtlinien zu geschützten Teilen von Natur und Landschaft im Sinne des Abschnitts 5 erklärt. Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 NatSchG LSA sind Projekte in solchen Gebieten vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen des Gebietes zu prüfen. Ergibt die Prüfung der Verträglichkeit, dass das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen eines solchen Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann, ist es unzulässig (§ 45 Abs. 2 NatSchG LSA). Gemäß § 45 Abs. 3 NatSchG LSA darf ein Projekt abweichend von Abs. 2 nur zugelassen oder durchgeführt werden, soweit es - 1. - aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art, notwendig ist und - 2. - zumutbare Alternativen, den mit dem Projekt verfolgten Zweck an anderer Stelle ohne oder mit geringeren Beeinträchtigungen zu erreichen, nicht gegeben sind.

Die Voraussetzungen für das Erfordernis einer Abweichungsentscheidung nach § 45 Abs. 3 NatSchG LSA sind nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung gegeben. Bei dem streitgegenständlichen Bereich handelt es sich nach dem glaubhaften und nicht bestrittenen Vortrag des Antragstellers um ein Schutzgebiet im Sinne der §§ 44 Abs. 3, 45 Abs. 1 NatSchG LSA. Es spricht auch Überwiegendes dafür, dass der geplante Wegebau zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebietes im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA führen kann. Der Antragsteller hat insoweit substantiiert dargelegt, dass der streitgegenständliche Uferbereich der Elbe zahlreichen, z.T. geschützten und bedrohten Vogelarten (u.a. See-, Schrei- und Fischadler, Eisvogel, Kranich, Tüpfelsumpfhuhn) Lebensraum und Brutplätze bietet und dass das Verbleiben der Vögel und der Bruterfolg Schutzflächen erheblichen Ausmaßes erfordert, die von Menschen weitgehend ungestört bleiben. Er hat weiter dargelegt, dass die zu erwartende Benutzung des Weges durch Wanderer, Spaziergänger und Radfahrer empfindliche Störungen für die Vögel mit sich bringen kann, weil der Weg die erforderlichen Schutzabstände zu Brutplätzen nicht einhalte und zudem - wie dies nicht selten geschehe - zusätzliche Störungen durch frei laufende Hunde zu erwarten seien. Diese Einwände sind zumindest im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht von der Hand zu weisen und rechtfertigen eine für das Eilverfahren hinreichende Wahrscheinlichkeit dahingehend, dass das Projekt im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA zu erheblichen Beeinträchtigungen führen "k a n n". Die von dem Antragsgegner hiergegen vorgebrachten Argumente haben den Senat nicht vom Gegenteil zu überzeugen vermocht. Insbesondere stellt sich der bereits begonnene Wegebau entgegen der Darstellung des Antragsgegners nicht als bloße Instandsetzung eines bereits vorhandenen Weges dar. Nach den vom Antragsteller vorgelegten Lichtbildern handelte es sich bei dem Weg vormals um einen nicht durchgängig vorhandenen, schmalen, unbefestigten und weitgehend mit Gras bewachsenen Feldweg, während nunmehr mit Baggern eine tiefe Trasse gezogen wurde, die offenbar der Anlage eines mehrere Meter breiten, befestigten Weges dient. Der Antragsgegner hat zwar vorgetragen, die geplante Maßnahme bringe gerade keine Störungen in dem Gebiet mit sich, sondern führe im Gegenteil durch eine Besucherlenkung zu einer Beruhigung der sensiblen Bereiche und werde als Bestandteil eines Pflege- und Entwicklungsplanes eine günstige Wirkung auf die Umwelt haben. Der Senat kann zwar nicht ausschließen, dass diese Einschätzung, die der Darstellung des Antragstellers geradezu entgegengesetzt ist, im Ergebnis zutrifft. Im vorliegenden Eilverfahren erscheint aber der wesentlich substantiiertere Vortrag des Antragstellers glaubhafter. Auch kommt den Argumenten des Antragstellers im Rahmen der vom Senat vorzunehmenden Interessenabwägung ein größeres Gewicht zu; denn der mögliche Schaden für Natur und Umwelt bei einer Schaffung vollendeter Tatsachen durch eine sofortige Verwirklichung des Wegeprojektes erscheint größer als der Schaden, der durch eine Prüfung der Umweltverträglichkeit des Projekts unter Beteiligung des Antragstellers und der damit einhergehenden Verzögerungen zu erwarten ist.

Kann der streitgegenständliche Wegebau mithin zu erheblichen Beeinträchtigungen im Sinne des § 45 Abs. 2 NatSchG LSA führen, ist auch davon auszugehen, dass er im Sinne des § 56 Abs. 4 NatSchG LSA Auswirkungen auf Natur- und Landschaftsschutz in nicht nur geringfügigem Umfang oder Ausmaß erwarten lässt.

Als Folge des fehlenden Befreiungsverfahrens und der deshalb auch fehlenden Beteiligung des Antragstellers ist diesem ein vorläufiger Unterlassungsanspruch hinsichtlich der geplanten Maßnahme zuzusprechen. Wird ein erforderliches naturschutzrechtliches Befreiungsverfahren unterlassen und führt dies dazu, dass durch tatsächliches Handeln die Schaffung vollendeter Tatsachen und eine Vereitelung des im Befreiungsverfahren bestehenden Mitwirkungsrechtes eines Naturschutzverbandes droht, kann dieser Verband beanspruchen, dass die zuständige Behörde alle Maßnahmen unterlässt, die ohne das ansich notwendige Beteiligungsverfahren durchgeführt werden (vgl. OVG Thüringen, Urt. v. 02.07.2003 - 1 KO 389/02 - mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Dem Antragsgegner ist danach die aus dem Tenor ersichtliche Sicherstellung aufzugeben (Einstellung der Bauarbeiten solange, bis der Antragsteller Gelegenheit erhalten hat, seine Beteiligungsrechte im Sinne des § 56 Abs. 4 Nr. 5 NatSchG i.V.m. §§ 44 Abs. 3 und der nach § 45 Abs. 1 bis 3 NatSchG LSA durchzuführenden Prüfung wahrzunehmen). Die sich daraus ergebende zeitliche Befristung entspricht nicht nur der Natur des auf eine einstweilige Regelung gerichteten Anordnungsverfahrens nach § 123 VwGO, sondern auch dem Begehren des Antragstellers. Zwar enthält der von ihm formulierte Antrag keine derartige zeitliche Befristung. Der Vortrag insgesamt lässt jedoch erkennen, dass er mit seinem einstweiligen Rechtsschutzantrag gerade das Ziel verfolgt, im Rahmen eines durchzuführenden Befreiungsverfahrens beteiligt zu werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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