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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 01.08.2003
Aktenzeichen: 2 M 339/03
Rechtsgebiete: AuslG, GG, VwGO


Vorschriften:

AuslG §§ 49 ff
GG Art. 6 I
VwGO § 80 VII
VwGO § 123 I
VwGO § 146 IV
1. Wird im Beschwerdeverfahren eine Änderung entweder der Sachlage oder der Rechtslage oder der Verfahrenslage dargelegt, so ist das Rechtsmittel in der Regel als unzulässig zu verwerfen. Mit neuem Vortrag kann nicht dargelegt werden, dass die angefochtene Entscheidung unrichtig ergangen ist. Neues Vorbringen muss in einem Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO oder nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemacht werden.

2. Eine Ausnahme kann für ein ärztliches Attest anerkannt werden, das sich als bloße Ergänzung und Erläuterung einer schon vorhandenen Stellungnahme verstanden werden kann, die in erster Instanz bereits verwertet worden ist.

3. Familienangehörige von Ausländern, die selbst nicht abgeschoben werden können, bleiben von der Abschiebung verschont, soweit sie innerhalb der Familie, die als "Beistandsgemeinschaft" zu qualifizieren ist, notwendige Hilfe leisten (z. B. bei schwerer Erkrankung).

4. Im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO ist eine Abwägungsentscheidung zu treffen, wenn die Erfolgsaussichten der Hauptsache offen sind.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 339/03

Datum: 01.08.2003

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO 02 -, sowie auf §§ 154 Abs. 2; 159 VwGO <Kosten> und auf §§ 13 Abs. 1 Satz 2; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]) <Streitwert>.

1. Die uneingeschränkt eingelegte Beschwerde ist mit Rücksicht auf den gestellten Antrag dahin auszulegen (§ 88 VwGO), dass sie nur für die Antragsteller zu 2 bis zu 4 erhoben wird.

2. Sie ist in diesem Rahmen zulässig, obgleich die Antragsteller zu 2 bis zu 4 zunächst pauschal auf das Antragsvorbringen Bezug nehmen (2.1.) und eine neue Bescheinigung der Klinik B. (bezogen auf den Antragsteller zu 1) einführen (2.2.).

2.1. Die bloße Bezugnahme auf den Antragsschriftsatz müsste an sich zur Verwerfung des Rechtsmittels führen, weil die Argumente bei Einleitung des Verfahrens nicht geeignet sein können, sich mit der später getroffenen Entscheidung auseinander zu setzen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO).

Die Beschwerdeschrift greift aber nach dem Obersatz, die Begründung (des angefochtenen Beschlusses) überzeuge nicht (Seite 2 der Beschwerdeschrift) den Gedankengang des Verwaltungsgerichts mit Rechtsgründen an, was § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt.

2.2. Wie der Senat gerade jüngst betont hat, kann die Beschwerde mit "neuem Vorbringen" insoweit nicht geführt werden, als damit eine Änderung der Sach-, Rechts- oder Verfahrenslage dargetan wird (OVG LSA, Beschl. v. 31.07.2003 - 2 M 337/03 -); denn mit "neuem Vortrag" kann nicht belegt werden, dass die angegriffene Entscheidung unrichtig ergangen ist; das ist deshalb vorauszusetzen, weil nur solcher Vortrag zulässigerweise geleistet werden kann, welcher sich mit der Entscheidung auseinander setzt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO), die auf einer früheren Sach-, Rechts- oder Prozesslage ergangen ist. "Neue" Umstände sind beim vorläufigen Rechtsschutz in Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO oder in Änderungsverfahren zu Beschlüssen nach § 123 Abs. 1 VwGO einzubringen.

Bei dem "Ärztlichen Attest" vom 01.08.2003 der Klinik B. handelt es sich allerdings dann - und nur so wird der Inhalt vom Senat verwertet - um keine in diesem Sinne "neue" Darlegung, wenn es als bloße Ergänzung und Erläuterung der bisherigen Stellungnahme verstanden wird, die in erster Instanz bereits vorgelegen hatte.

3. Die Beschwerde ist begründet.

In Ansehung der Garantie des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) können Familienmitglieder von Personen, die selbst nicht abgeschoben werden, in Ausnahmefällen geltend machen, selbst von einer Abschiebung verschont zu bleiben (3.1.). Der Senat trifft eine Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Antragsteller zu 2 bis zu 4, deren Interessen in diesem Fall die öffentlichen Belange überwiegen (3.2.).

3.1. Art. 6 Abs. 1 GG entfaltet eine Schutzwirkung für Familienangehörige einer Person, die ihrerseits nicht in das Ausland abgeschoben werden darf, dies indessen ausnahmsweise nur für den Fall, dass eine sog. "Beistandsgemeinschaft" und dass die Notwendigkeit einer Hilfe (z. B. bei schwerer Erkrankung) besteht (ThürOVG, Beschl. v. 15.11.2002 - 3 EO 438/02 -; VGH BW, Beschl. v. 05.07.1999 - 13 S 1101/99 - ["unzumutbare Trennung"]; ebenso: OVG Saarld, Beschl. v. 24.01.2003 - 9 W 50/02 -).

3.2. Nach der gegenwärtigen Aktenlage spricht Überwiegendes dafür, dass Leben und Gesundheit des Antragstellers zu 1 in erheblichem Maß in Gefahr sind, was - wie im Beschwerdeverfahren außer Streit ist - seine Abschiebung hindert. Es ist auch nicht in Abrede zu stellen, dass zwischen den Antragstellern eine Beistandsgemeinschaft besteht. Der Senat hält nach der gutachterlichen Stellungnahme des Oberarztes der Klinik B. vom 30.07.2003 (Suicid-Gefahr; stabilisierende Anwesenheit der Familie) auch für überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller zu 1 wenigstens auf den Beistand der Antragstellerin zu 2 angewiesen ist. Gleichwohl ist die Frage noch offen, weil sie nur durch ein ausführliches ärztliches Gutachten und/oder durch Hinzuziehung des Amtsarztes geklärt werden kann. Dazu besteht in der kurzen Zeit bis zur vorgesehenen Abschiebung keine Möglichkeit mehr.

Bei letztlich offenem Ausgang und höherer Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der in das Verfahren eingeführten Krankheitssymptome ist die notwendige Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsteller zu treffen. Würde nämlich abgeschoben, so wären der Tod oder schwere Gesundheitsschäden des Antragstellers zu 1 nicht rückgängig zu machen, wenn sich die ärztliche Begutachtung als richtig herausstellte. Umgekehrt ist eine spätere Abschiebung möglich, wenn sich die ärztliche Beurteilung nicht bewahrheiten lässt.

Diese Abwägung bezieht sich zunächst nur auf die Antragstellerin zu 2. Besteht aber bei den Eltern ein Abschiebungshindernis, so verlangt Art. 6 Abs. 1 GG, dass die Kinder nicht allein in ihr Heimatland zurückgeführt werden dürfen.

Ende der Entscheidung

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