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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 07.02.2003
Aktenzeichen: 2 M 428/02
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, BImSchG, LSA-VwVfG


Vorschriften:

BauGB § 34 I II
BauNVO § 4
BauNVO § 6
BImSchG § 22
LSA-VwVfG § 48 I
LSA-VwVfG § 48 IV 1
1. Zum "Einfügen" eines Post-"Zustellstützpunkts" innerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile.

2. Ein Lärm verursachender Stützpunkt unmittelbar in der Nähe von Wohnbebauung und von einem Altersheim muss in besonderer Weise Rücksicht nehmen.

3. Gibt die Behörde auf Grund der ihr zu diesem Zeitpunkt bekannten Tatsachen zu erkennen, dass sie die Sachlage noch genauer prüfen wird, so ist sie auch nach Ablauf der Jahresfrist nicht gehindert, diese früheren Tatsachen zu verwerten.

4. Das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts ist erst dann schutzwürdig, wenn die Behörde alle bei ihrem Ermessen zu berücksichtigenden Tatsachen kennt und gleichwohl zu erkennen gibt, dass sie von der Rücknahme keinen Gebrauch machen werde.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 428/02

Datum: 07.02.2003

Tatbestand:

Die Antragstellerin betreibt auf dem Grundstück S-Straße ..., das nicht im Geltungsbereich eines rechtswirksamen Bebauungsplans liegt, einen Zustellstützpunkt für Zustellbezirke im Gebiet des Antragsgegners. Für die Herrichtung und Modernisierung des Zustellstützpunkts erteilte ihr der Antragsgegner mit Bescheid vom 28.12.1999 die erforderliche Baugenehmigung, u. a. mit der Auflage, dass an den maßgeblichen Immissionsorten S-Straße 16, S-Straße 5 und S-Straße 14 die Geräuschimmissions-Grenzwerte von 55 dB(A) tags (06.00 Uhr bis 22.00 Uhr) einzuhalten sind.

Nachdem sich Anwohner wegen der von dem Zustellstützpunkt ausgehenden Lärmbelästigungen mehrfach beschwert hatten, nahm der Antragsgegner mit Bescheid vom 24.05.2002 auf Weisung des Regierungspräsidiums ... die der Antragstellerin erteilte Baugenehmigung zurück, untersagte ihr unter Androhung eines Zwangsgelds von 50.000,00 € die Nutzung als Zustellstützpunkt zum 31.12.2002 und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen an. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Nutzung des Zustellstützpunktes widerspreche dem drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme, weil die störenden Auswirkungen der Nutzung das von den betroffenen Anwohnern hinzunehmende Maß überstiegen. Nach der Stellungnahme des Staatlichen Amts für Umweltschutz Dessau/Wittenberg vom 01.09.1999 liege der Beurteilungspegel von 53,6 dB(A) zwar unterhalb des hier zulässigen Grenzwerts von 55 dB(A); aufgrund des geringen Abstands zwischen Verladezone und Immissionsort (ca. 20 m) sei eine Überschreitung des Maximalpegelkriteriums von 55 dB(A) für kurzzeitige Geräuschspitzen aber zu befürchten. Diese störenden Auswirkungen seien bereits seit Aufnahme der Nutzung ständig Gegenstand von Beschwerden gewesen. Es habe sich gezeigt, dass teilweise zunächst zugesagte, verhaltensbedingte Änderungen der Betriebsabläufe nicht auf Dauer eingehalten würden, so dass auf diese Weise ein zulässiger Nutzungsumfang unter Beachtung nachbarlicher Belange nicht gewährleistet werden könne. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 24.06.2002 Widerspruch, über den - soweit ersichtlich - bislang nicht entschieden worden ist.

Am 05.07.2002 hat die Antragstellerin bei dem Verwaltungsgericht Dessau um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und zur Begründung ausgeführt, die Rücknahme der Baugenehmigung sei unzulässig, da sie nicht innerhalb der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG LSA erfolgt sei. Der Antragsgegner habe bereits im Jahre 2000 Kenntnis von allen Umständen gehabt, welche die Rücknahme der Baugenehmigung rechtfertigten, so dass die Rücknahme bis zum Jahre 2001 hätte erfolgen müssen. Dies ergebe sich zum einen aus einem Schreiben vom 06.06.2000, mit dem der Antragsgegner ihr mitgeteilt habe, dass er den Vorgang aufgrund von Beschwerden der unmittelbaren Anlieger nochmals überprüft habe und zu der Ansicht gelangt sei, der Zustellstützpunkt sei als ein Logistikzentrum einzustufen, das in einem Wohngebiet nicht oder nur eingeschränkt zugelassen werden könne, sowie aus einem internen Vermerk vom 23.10.2000, in dem auf die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung hingewiesen worden sei. Keinesfalls habe die Entscheidungsreife erst am 01.06.2001 nach einem Gespräch zwischen Vertretern des Regierungspräsidiums und des Antragsgegners vorgelegen. Der Zustellstützpunkt füge sich im Übrigen auch als nicht wesentlich störender Gewerbebetrieb gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 6 Abs. 2 BauNVO in die nähere Umgebung ein; denn das zu betrachtende Gebiet komme angesichts der vorhandenen ca. dreißig Büro- und Geschäftsräume eher einem Mischgebiet als einem Allgemeinen Wohngebiet im Sinne der BauNVO gleich. Auch die Untersagungsverfügung sei rechtswidrig, weil eine Verlagerung des Zustellstützpunkts an einen anderen Standort bis zum 31.12.2002 nicht durchführbar sei. Im Übrigen sei für eine sofortige Vollziehung ein überschießendes Vollziehungsinteresse nicht ersichtlich.

Die Antragstellerin hat beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 24. Juni 2002 gegen die mit Bescheid des Antragsgegners vom 24. Mai 2002 verfügte Rücknahme der Baugenehmigung sowie Untersagung der Nutzung wiederherzustellen.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er hat ausgeführt, die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG LSA sei nicht vor dem 01.06.2001 in Gang gesetzt worden, weil erst zu diesem Zeitpunkt alle maßgeblichen Überprüfungen der Betriebsabläufe des Zustellstützpunktes abgeschlossen gewesen seien. Die Rücknahme der Baugenehmigung sei auch im Übrigen rechtmäßig, weil sich der Zustellstützpunkt nicht in das als Allgemeines Wohngebiet zu qualifizierende Gebiet einfüge. Die von der Antragstellerin angeführten gewerblichen Nutzungen in der Schulstraße seien auch in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig. Demgegenüber störe der von der Antragstellerin betriebene Zustellstützpunkt die angrenzende Wohnbebauung ganz gravierend, insbesondere seien die von dem Betrieb ausgehenden Lärmimmissionen als rücksichtslos anzusehen.

Mit Beschluss vom 27.09.2002 (Az: 1 B 408/02 DE), berichtigt durch Beschluss vom 16.10.2002, hat das Verwaltungsgericht Dessau die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Bauordnungsverfügung des Antragsgegners vom 24.05.2002 bis zum 31.03.2003, längstens jedoch bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der vorbezeichneten Ordnungsverfügung, wiederhergestellt bzw. - soweit die Antragsgegnerin ein Zwangsgeld angedroht hat - angeordnet und zur Begründung ausgeführt, nach dem derzeitigen Sach- und Erkenntnisstand sei davon auszugehen, dass die der Antragstellerin erteilte Baugenehmigung rechtswidrig sei, weil sich der genehmigte Zustellstützpunkt nicht gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung, die in ihrer Prägung diffus sei, einfüge. Der Zustellstützpunkt nehme nämlich nicht genügend Rücksicht auf die schutzwürdigen Belange der unmittelbaren Grundstücksnachbarn, insbesondere deren Ruhebedürfnis. Die Betriebsabläufe auf dem streitigen Grundstück verursachten bei dem Wohnhaus S-Straße 14 nach den Feststellungen im Messbericht des Staatlichen Amts für Umweltschutz Dessau/Wittenberg vom 12.05.2000 Lärmimmissionen, die einen Beurteilungspegel von 53,6 dB(A) ergäben. Dieser Wert liege zwar knapp unterhalb des hier maßgeblichen Grenzwerts von 55 dB(A); allerdings habe der Maximalpegel für den Lieferverkehr bis zu 70 dB(A) betragen. Auch wenn zugunsten der Antragstellerin berücksichtigt werde, dass diese mittlerweile weniger schwere Transportfahrzeuge einsetze, werde doch erkennbar, dass im Bereich der unmittelbar benachbarten Wohnbebauung Lärmwerte erreicht würden, die knapp unterhalb der Grenze dessen lägen, was in allgemeinen Wohngebieten als zumutbar angesehen werde. Dies könne in Bereichen tolerabel sein, in denen die unterschiedlichen Nutzungen stärker gemischt seien. In der unmittelbaren Nachbarschaft des strittigen Grundstücks grenzten jedoch ausschließlich Wohngebäude bzw. der verhältnismäßig weitläufige Komplex des Seniorenheims an. Die Nutzer dieser Grundstücke seien in größerem Maße schutzbedürftig.

Die Rücknahme sei nicht gemäß § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA ausgeschlossen; denn es sei dem derzeitigen Akteninhalt nicht zu entnehmen, dass der Antragsgegner sich vor dem 27.05.2001 der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung bewusst gewesen sei. Weder das Schreiben vom 06.06.2000 noch der Vermerk vom 23.10.2000 ließen erkennen, dass der Antragsgegner abschließend zu der Erkenntnis gelangt sei, die Baugenehmigung sei insgesamt rechtswidrig. Vielmehr habe der Antragsgegner immer wieder über denkbare Vorschläge zur Lösung des Streitfalls nachgedacht. Zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Wohnruhe sei es notwendig gewesen, die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung anzuordnen.

Am 14.10.2002 hat die Antragstellerin gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt und zur Begründung am 31.10.2002 ausgeführt, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA nicht eingehalten worden; denn dem Antragsgegner seien ausweislich seines Schreibens vom 06.06.2000, spätestens aber mit Erstellen der schriftlichen Stellungnahme vom 23.10.2000 alle Tatsachen bekannt gewesen, die zu einer Rücknahme der Baugenehmigung berechtigt hätten. Dem weiteren Verfahrensgang lasse sich auch nicht entnehmen, dass der Antragsgegner es für erforderlich gehalten habe, weitere Ermittlungen vorzunehmen. Vielmehr habe er mit Schreiben vom 20.11.2000 allen Anwohnern mitgeteilt, dass er sich ein sehr umfassendes Bild von der tatsächlichen Situation und den in der zurückliegenden Zeit getroffenen Entscheidungen gemacht habe und eine Verlagerung des Zustellstützpunkts in ein anderes Gebiet aus rechtlichen Gründen weder gefordert noch durchgesetzt werden könne. Auch das Regierungspräsidium habe ausweislich eines Vermerks vom 01.06.2001 die Auffassung vertreten, dass die Jahresfrist bereits abgelaufen sei. Schließlich füge sich der Zustellstützpunkt in die nähere Umgebung ein; insbesondere werde das Ruhebedürfnis der Grundstücksnachbarn ausreichend berücksichtigt. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme liege nicht vor. Zwar habe die Messung des Staatlichen Umweltamtes einen Beurteilungspegel von 53,6 dB(A) ergeben. Insoweit dürfe aber nicht übersehen werden, dass diesem Beurteilungspegel eine sehr großzügige Betrachtungsweise des Umweltamtes zu Grunde liege und die tatsächliche, von dem Zustellstützpunkt ausgehende Immissionsbelastung sogar unterhalb des berechneten Pegels von 53,6 dB(A) und der Maximalpegel deutlich unter dem zulässigen Wert für kurzzeitige Geräuschspitzen anzusiedeln seien. Dies werde vom Staatlichen Umweltamt auch ausdrücklich bestätigt. Insgesamt werde damit der Immissionsrichtwert für allgemeine Wohngebiete deutlich unterschritten. Zudem liege der Umgebungslärmpegel in der Zeit zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr im Bereich der Schulstraße bei Werten über 55 dB(A), d. h. der Geräuschimmissionsrichtwert werde allein durch die Fremdgeräuschbelastung erreicht oder überschritten. Die von dem Zustellstützpunkt ausgehenden Geräusche dürften hierin weitgehend untergehen. Zudem sei die Rücknahmeentscheidung unverhältnismäßig und ermessensfehlerhaft, weil eine Verlagerung des Zustellstützpunkts zum 31.03.2003 tatsächlich gar nicht durchführbar sei, mit der Folge, dass Postsendungen verspätet erfolgen müssten. Schließlich sei auch ein überschießendes Vollziehungsinteresse nicht ersichtlich; denn die Wohnqualität der Anwohner werde durch den Zustellstützpunkt nicht unzumutbar beeinträchtigt.

Die Antragstellerin beantragt,

den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Dessau vom 27. September 2002 - 1 B 408/02 DE -, berichtigt durch Beschluss vom 16. Oktober 2002, zu ändern

und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 24. Juni 2002 gegen die Bauordnungsverfügung des Antragsgegners vom 24. Mai 2002 wiederherzustellen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er führt aus, die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA sei nicht versäumt; denn für ihn habe erstmals im Februar 2002 festgestanden, dass die Baugenehmigung vom 28.12.1999 zurückzunehmen sei. Die von der Antragstellerin zitierten Schreiben und Vermerke vom 06.06.2000, 23.10.2000 und 01.06.2001 ließen nicht erkennen, dass eine abschließende Sachverhaltsaufklärung und Meinungsbildung bereits stattgefunden habe. Tatsächlich habe auch der weitere Verfahrensablauf gezeigt, dass weitere Sachverhaltsermittlungen notwendig gewesen und auch durchgeführt worden seien. Das Logistikzentrum der Antragstellerin füge sich zudem nicht in die nähere Umgebung ein, die entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 4 BauNVO als Allgemeines Wohngebiet zu qualifizieren sei. Aber selbst wenn auf § 34 Abs. 1 BauGB abzustellen sei, sei der Zustellstützpunkt angesichts der überwiegenden Wohnbebauung im unmittelbaren Auswirkungsbereich der Nutzung wegen Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot unzulässig. Soweit die Antragstellerin auf die nicht repräsentativen Messergebnisse des staatlichen Amts für Umweltschutz vom 12.05.2000 hinweise, sei darauf hinzuweisen, dass die TA-Lärm lediglich Richtwerte für Schallpegel bestimme und in jedem Fall eine einzelfallbezogene Bewertung erforderlich sei. Tatsächlich würden die Immissionen über den gesamten Zeitraum der postalischen Nutzung des Grundstücks durch die Anwohner als unzumutbare Störungen wahrgenommen. Das Vorhaben der Antragstellerin sei damit nicht nur rücksichtslos, sondern erzeuge im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen, so dass ein Planungsbedürfnis bestehe. Weiter sei die Rücknahme der Baugenehmigung weder unverhältnismäßig noch ermessensfehlerhaft; insbesondere seien der Antragstellerin die Probleme bei der Grundstücksnutzung über Jahre hinweg bekannt gewesen, so dass eine Verlängerung des Betriebs über den 31.03.2003 hinaus nicht in Betracht komme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners sowie die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen; diese sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Gründe:

II.

Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2001 (BGBl I 3987), zulässig, aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat, weil bei der hier allein in Betracht kommenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Überwiegendes dafür spricht, dass die mit Bescheid vom 24.05.2002 verfügte Rücknahme der Baugenehmigung vom 28.12.1999 rechtmäßig ist.

Rechtsgrundlage des Rücknahmebescheides des Antragsgegners vom 24.05.2002 ist § 48 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Sachsen-Anhalt i. d. F. d. Bek. v. 07.01.1999 (LSA-GVBl., S. 3) - VwVfG LSA -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 07.12.2001 (LSA-GVBl., S. 540 [542]). Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt; denn die der Antragstellerin erteilte Baugenehmigung vom 28.12.1999 ist rechtswidrig (1.) und der Antragsgegner war nicht wegen Ablaufs der in § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA bestimmten Jahresfrist an der Rücknahme der Baugenehmigung gehindert (2.).

1. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Zustellstützpunkts nach § 29 Abs. 1 i. V. m. § 34 des Baugesetzbuchs - BauGB 98 - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1997 (BGBl I 2141, ber.: BGBl. 1998 I 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.07.2002 (BGBl I 2850 [2852]), beurteilt, da ein rechtsgültiger qualifizierter Bebauungsplan nicht vorhanden ist (§ 30 BauGB 98). Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB 98). Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, beurteilt sich die Zulässigkeit des Bauvorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre (§ 34 Abs. 2 Satz 1 BauGB 98).

Unter Beachtung dieser rechtlichen Vorgaben ist dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass die Eigenart der näheren Umgebung des streitgegenständlichen Baugebiets hier nicht gemäß § 34 Abs. 2 BauGB 98 einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung, insbesondere nicht § 4 oder § 6 der Baunutzungsverordnung i. d. F. d. Bek. v. 23.01.1990 (BGBl I 132) - BauNVO -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.04.1993 (BGBl I 466), entspricht, sondern sich in ihrer Prägung als diffus darstellt.

Zwar sprechen nach Auffassung des Senats die überwiegende Wohnbebauung und die vorhandenen ca. dreißig Büro- und Geschäftsräume für die Annahme eines Allgemeinen Wohngebiets i. S. v. § 4 BauNVO; denn als Schank- und Speisewirtschaften bzw. als nicht störende Handwerksbetriebe sind diese gewerblichen Nutzungen gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO auch in einem Allgemeinen Wohngebiet zulässig. Allerdings befindet sich in der näheren Umgebung des Zustellstützpunkts unter der Anschrift Zepziger Straße 23 eine Tischlerei, die - ebenso wie Tischlerwerkstätten oder Schreinereien - in Wohngebieten aufgrund ihres möglichen Störgrades grundsätzlich nicht zulässig sind (BVerwG, Urt. v. 07.05.1971 - BVerwG IV C 76.68 -, BauR 1971, 182; Boeddinghaus, BauNVO, 4. Aufl., § 5 RdNr. 16 und § 6 RdNr. 19; Fickert/Fieseler, BauNVO, 8. Aufl., § 4 BauNVO RdNr. 25.4). Inwieweit die Tischlerei als nicht prägend - wie der Antragsgegner meint - für die Eigenart der Umgebung angesehen werden kann, lässt sich nicht abschließend beurteilen; jedenfalls nach Aktenlage ist die hier maßgebliche Umgebung keinem der Baugebiete der BauNVO zuzuordnen, so dass das Bauvorhaben der Antragstellerin am Maßstab des § 34 Abs. 1 BauGB 98 zu messen ist.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Zustellstützpunkt sich deswegen nicht in die nähere Umgebung i. S. d. § 34 Abs. 1 BauGB 98 einfügt, weil er nicht genügend Rücksicht auf die schutzwürdigen Belange der Grundstücksnachbarn nimmt, mithin das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens verankerte Rücksichtnahmegebot verletzt ist (BVerwG, Beschl. v. 06.12.1996 - BVerwG 4 B 215.96 -, BRS 58 Nr. 164, m. w. N.). Für eine solche Verletzung reicht es nicht aus, dass ein Vorhaben sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, der durch die Bebauung der Umgebung gebildet wird. Hinzukommen muss vielmehr bereits objektivrechtlich, dass es im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, die potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich ziehen. Auch ein Vorhaben, das den durch seine Umgebung gesetzten Rahmen überschreitet, kann sich i. S. v. § 34 Abs. 1 BauGB 98 einfügen, wenn das Vorhaben keine bodenrechtlich beachtlichen Spannungen begründet oder schon vorhandene noch erhöht (BVerwG, Urt. v. 17.06.1993 - BVerwG 4 C 17.91 -, NVwZ 1994, 294; Urt. v. 26.05.1978 - BVerwG 4 C 9.77 -, BVerwGE 55, 369 [386]). Ein solcher Fall ist gegeben, wenn das Vorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet. Stiftet es in diesem Sinne Unruhe, so lassen sich die Voraussetzungen für seine Zulassung nur unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung schaffen. Ein Planungsbedürfnis besteht, wenn durch das Vorhaben schutzwürdige Belange Dritter mehr als geringfügig beeinträchtigt werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 09.11.1979 - BVerwG 4 N 1.78 u.a. -, BVerwGE 59, 87). Wann insoweit die bauplanungsrechtliche Relevanzschwelle im Einzelnen erreicht ist, lässt sich nicht anhand von verallgemeinerungsfähigen Maßstäben feststellen, sondern hängt von den jeweiligen konkreten Gegebenheiten ab (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.04.1987 - BVerwG 4 B 60.87 -, Buchholz 406.11 [BBauG] § 34 Nr. 119). Vorliegend sprechen allerdings gewichtige Gründe dafür, dass das streitige Bauvorhaben im Verhältnis zu der unmittelbar angrenzenden Wohnbebauung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, denen der Antragsgegner nur unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung hätte begegnen können.

Letztlich kann die Frage aber offen bleiben, weil das Vorhaben jedenfalls - subjektivrechtlich - die gebotene Rücksichtnahme speziell auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung vermissen lässt (BVerwG, Beschl. v. 06.12.1996, a. a. O., m. w. N.). Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme hiernach im Einzelnen begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen; je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, desto weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (OVG LSA, Beschl. v. 04.01.2000 - A 2 S 158/98 -, m. w. N.). Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - BVerwG 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122).

Vor diesem Hintergrund ist die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Würdigung, das streitige Vorhaben erweise sich gegenüber den Grundstücksnachbarn als rücksichtslos, nicht zu beanstanden.

Zwar liegt der vom Staatlichen Amt für Umweltschutz Dessau/Wittenberg ermittelte Beurteilungspegel von 53,6 dB(A) unterhalb des Grenzwerts von 55 dB(A), der nach der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm) vom 26.08.1998 hier maßgeblich sein dürfte. Allerdings können die Richtwerte der TA-Lärm für Anlagen, die gemäß § 22 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - BImSchG - i. d. F. d. Bek. v. 26.09.2002 (BGBl I 3830) keiner immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfen, als Anhalt dienen (vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO, 8. Aufl. 1995, § 15 Rn. 17). Insoweit können diese Richtwerte auch bei der Beurteilung, ob sich ein Vorhaben gemäß § 34 Abs. 1 BauGB "einfügt" oder ob es wegen der von ihm ausgehenden Emissionen gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt, berücksichtigt werden. Allerdings ist durch die Richtwerte für Schallpegel nach der TA-Lärm nicht abschließend bestimmt, ob eine geltend gemachte Beeinträchtigung durch Geräusche von einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsfreien Anlage die für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots maßgebliche Zumutbarkeitsschwelle überschreitet (BVerwG, Beschl. v. 20.01.1989 - BVerwG 4 B 116.88 -, Buchholz 406.11 [BBauG/BauGB] § 34 Nr. 129). Ob die Anlage in einer die Rechte des Nachbarn verletzenden Weise rücksichtslos ist, kann vielmehr nur aufgrund einer einzelfallbezogenen Bewertung aller ihrer Auswirkungen beurteilt werden. Eine derartige Beurteilung hat das Verwaltungsgericht hier vorgenommen. Seine Rechtsauffassung, dass der Zustellstützpunkt aufgrund seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu Wohngebäuden und einem Seniorenheim in größerem Maße Rücksicht zu nehmen hat und sich nach Aktenlage die von dem Betrieb ausgehenden Geräuschbelästigungen gegenüber den unmittelbaren Anwohnern als rücksichtslos darstellen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Die von der Antragstellerin in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände gegen die Geräuschmessung des Staatlichen Amts für Umweltschutz vom 12.05.2000 greifen im Rahmen des hier anhängigen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nicht durch; denn nach Aktenlage dürfte die Geräuschmessung des Amts insgesamt repräsentativ sein. Den Beschreibungen der genehmigten Betriebsabläufe (Bl. 116-122 und Bl. 141-143), die im Laufe des Jahres 2001 angefertigt worden sind, lässt sich nämlich entnehmen, dass sich die Betriebsgeräusche entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht nur auf den Zu- und Abgangsverkehr der LKWs und den Ladelärm reduzieren lassen, sondern zahlreiche Lärmquellen auf und um den Zustellstützpunkt auf die unmittelbare Umgebung einwirken. So kommt das Staatliche Amt für Umweltschutz bereits in einer Stellungnahme vom 01.09.1999 zu dem Ergebnis, dass auf Grund des geringen Abstands zwischen Verladezone und Immissionsort (20 m) eine Überschreitung des Maximalpegelkriteriums für kurzzeitige Geräuschspitzen zu befürchten sei. Insofern lässt sich jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand feststellen, dass von dem Zustellstützpunkt unzumutbare Belästigungen und Störungen ausgehen, die sich gegenüber der Nachbarschaft als rücksichtslos darstellen.

2. Der Antragsgegner war auch nicht wegen Ablaufs der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA daran gehindert, die Rücknahme der Baugenehmigung zu verfügen. Nach dieser Vorschrift ist die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt zulässig, zu dem die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhält, welche die Rücknahme rechtfertigen. Diese Frist beginnt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der erkennende Senat anschließt, zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984 - BVerwG Gr.Sen. 1 und 2.84 -, BVerwGE 70, 356).

Wie auch das Verwaltungsgericht nicht übersehen hat, waren dem Antragsgegner die von dem Zustellstützpunkt ausgehenden Lärmbelästigungen bereits im Jahre 2000 bekannt. Allerdings ist nach Aktenlage nicht davon auszugehen, dass der Antragsgegner bereits vor dem 27.05.2001 einen Verstoß der Baugenehmigung gegen § 34 Abs. 1 BauGB 98 erkannt und ihm alle für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt waren.

Zu den weiteren für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen im Sinne des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA gehören nämlich insbesondere auch die für die Ermessensbetätigung wesentlichen Umstände (BVerwG, Beschl. v. 05.05.1988 - BVerwG 7 B 8.88 -, Buchholz 421.11 [GfaG] § 4, S. 1 [5]). Diente z. B. eine Anhörung (§ 28 Abs. 1 VwVfG LSA) des Betroffenen der Ermittlung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen, beginnt die Jahresfrist erst danach zu laufen (BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984, a. a. O.). Folglich wird die Jahresfrist erst in Lauf gesetzt, wenn die Behörde positive Kenntnis von den Tatsachen, welche die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen, erhalten hat. Die Auffassung, zur Auslösung der Jahresfrist genüge, dass die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigenden Tatsachen aktenkundig - d. h. aus den Akten ersichtlich - seien, wird dem Charakter der Frist nicht gerecht, die der Behörde zur sachgerechten Entscheidung über die Rücknahme eingeräumt ist und deshalb nicht in Lauf gesetzt wird, bevor sich die Behörde der Notwendigkeit bewusst geworden ist, über die Rücknahme entscheiden zu müssen. Die Jahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn diese Tatsachen vollständig, uneingeschränkt und zweifelsfrei ermittelt sind (BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984, a. a. O.). Eine schuldhafte Unkenntnis der Behörde genügt nicht (BVerwG, Urt. v. 24.01.2001 - BVerwG 8 C 8.00 - [juris]).

Davon ausgehend ist es nicht zu beanstanden, wenn sich der Antragsgegner nicht bereits im Hinblick auf sein Schreiben vom 06.06.2000 zu einer abschließenden Beurteilung über eine Rücknahme der Baugenehmigung in der Lage gesehen, sondern die Antragstellerin aufgefordert hat, Vorschläge für ein tragfähiges Konzept vorzulegen, um den Zustellstützpunkt doch noch an dem derzeitigen Standort betreiben zu können. Diese Prüfung war offensichtlich für die Frage einer möglichen Ergänzung der Baugenehmigung mit Auflagen einerseits oder einer Rücknahme der Baugenehmigung andererseits erheblich; denn der Antragsgegner bringt in dem Schreiben vom 06.06.2000 zum Ausdruck, dass er nicht die Schließung des Zustellstützpunkts beabsichtige, vielmehr ein vertretbares Zusammenleben von Wohnen und Gewerbe erreichen wolle. All dies zeigt, dass der Antragsgegner die Notwendigkeit einer Rücknahme der Baugenehmigung vom 28.12.1999 gerade noch nicht erkannt hatte, mit der Folge, dass die Jahresfrist nicht bereits mit dem Schreiben vom 06.06.2000 zu laufen begonnen hat.

Gleiches gilt für die Stellungnahme des Antragsgegners vom 23.10.2000; denn ausweislich dieser Stellungnahme war der Antragsgegner nach wie vor an einer Ergänzung der Baugenehmigung durch Auflagen interessiert (Bl. 95 der Beiakte A), "um die derzeitige Situation für die Anwohner spürbar zu verändern". Die Jahresfrist zur Rücknahme einer rechtswidrigen Baugenehmigung nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA wird aber nicht in Lauf gesetzt, wenn die Behörde im Rahmen des ihr zustehenden Aufklärungsermessens prüft, ob durch die Ergänzung der Baugenehmigung mit Auflagen die Voraussetzungen für eine Rücknahme entfallen können (so für das Zuwendungsrecht: OVG LSA, Beschl. v. 22.04.1999 - A 1 S 780/98 -).

Schließlich belegt auch das Schreiben des Antragsgegners vom 20.11.2000 an die Anwohner nicht, dass der Antragsgegner bereits zu diesem Zeitpunkt abschließend zu der Auffassung gelangt war, die Baugenehmigung vom 28.12.1999 sei rechtswidrig. Vielmehr lässt das Schreiben genau den gegenteiligen Schluss zu; denn der Antragsgegner teilte den Anwohnern ausdrücklich mit, dass eine Verlagerung des Zustellstützpunktes in ein anderes Gebiet aus rechtlichen Gründen weder gefordert noch durchgesetzt werden könne.

Schließlich kommt es auf den Umstand, dass das Regierungspräsidium im Rahmen einer Besprechung vom 01.06.2001 die Auffassung geäußert hat, die Jahresfrist sei abgelaufen, nicht entscheidend an; denn die zur Rücknahme berufene Behörde (hier der Antragsgegner) erhält die Kenntnis im Sinne von § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA erst dann, wenn der nach der innerbehördlichen Geschäftsverteilung zur Rücknahme berufene Amtswalter oder ein sonst innerbehördlich zur rechtlichen Prüfung des Verwaltungsakts berufener Amtswalter positive Kenntnis erlangt hat (BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984, a. a. O.). Das Regierungspräsidium war aber nicht der zur rechtlichen Prüfung berufene Amtswalter. Würde die Jahresfrist dadurch verkürzt oder beseitigt, dass der zuständigen Behörde die Kenntnisse anderer Behörden zugerechnet werden, würde das mit § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA verfolgte Ziel, der zuständigen Behörde eine hinreichend lange Zeit für eine Prüfung und Entscheidung zu gewähren, verfehlt (BVerwG, Urt. v. 20.12.1999 - BVerwG 7 C 42.98 -, BVerwG 110, 226 [234]).

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Antragsgegner nicht bereits im Jahr 2000 die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung erkannt hat und sich der Notwendigkeit bewusst war, über die Rücknahme zu entscheiden. Diese Notwendigkeit erkannte er vielmehr erst nach weiteren Aufklärungsmaßnahmen über die Lärmbelästigung in dem betroffenen Gebiet, die ausweislich des Verwaltungsvorgangs jedenfalls nicht vor dem 24.05.2001 abgeschlossen waren, so dass die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG LSA bei Erlass des Rücknahmebescheides am 24.05.2002 noch nicht abgelaufen war.

3. Ferner erweist sich der Einwand der Antragstellerin, die Rücknahme sei unverhältnismäßig, weil sie auf den Bestand der Baugenehmigung vertraut habe und ihr Vertrauen auch schutzwürdig sei, weil die Erteilung der Baugenehmigung auf eine fehlerhafte Prüfung des Antragsgegners zurückzuführen sei, als nicht begründet.

Zwar mag es Fallgestaltungen geben, bei denen der Begünstigte tatsächlich darauf vertraut hat, dass die Rücknahmebefugnis nicht mehr ausgeübt werde und dieses Vertrauen in einer Weise betätigt hat, dass ihm mit der sodann gleichwohl erfolgten Rücknahme ein unzumutbarer Nachteil entstünde (sog. Verwirkung; BVerwG, EuGH-Vorlage v. 28.09.1994 - BVerwG 11 C 3.93 -, NJW 1995, 703 [706]). Allerdings setzt das Entstehen eines derartigen Vertrauenstatbestands voraus, dass die Behörde die Rücknehmbarkeit, also die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsakts erkannt und dennoch ein Verhalten gezeigt hat, aus dem der Begünstigte berechtigterweise den Schluss ziehen konnte, die Behörde wolle eine ihr an sich zustehende Rücknahmebefugnis im Blick auf eine beim Begünstigten entstandene schützenswerte Vertrauensposition nicht ausüben (BVerwG, Urt. v. 20.12.1999 - BVerwG 7 C 42.98 -, NJW 2000, 1512 [1514]). Dies ist aber vorliegend nicht der Fall; denn - wie oben bereits ausgeführt - hat der Antragsgegner vor Juni 2001 weder die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung vom 28.12.1999 erkannt noch der Antragstellerin zu erkennen gegeben, er werde auf eine Rücknahme verzichten.

Die Rücknahmeentscheidung des Antragsgegners erweist sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin auch nicht deswegen als ermessensfehlerhaft, weil für sie eine Verlagerung des Zustellstützpunkts an einen anderen Standort bis zum 31.03.2003 nicht durchführbar sei; denn die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert nachgewiesen, dass es ihr innerhalb eines Zeitraums von fast einem Jahr seit Erlass des Rücknahmebescheides am 24.05.2002 nicht möglich war, ein Ersatzobjekt zu finden.

4. Schließlich ist dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im öffentlichen Interesse geboten war; denn das besondere öffentliche Interesse, rechtmäßige Zustände herzustellen, überwiegt das Interesse der Antragstellerin, auf der Grundlage einer rechtswidrigen Baugenehmigung zum Nachteil der unmittelbaren Anlieger einen Zustellstützpunkt für die postalische Versorgung des Kreisgebiets zu betreiben; insbesondere ist der Auffassung der Antragstellerin nicht zu folgen, die Wohnqualität der Anwohner werde durch den Zustellstützpunkt nicht unzumutbar beeinträchtigt. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen des Senats verwiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.12.2001 (BGBl I 3638 [3639]).



Ende der Entscheidung

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