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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 27.01.2003
Aktenzeichen: 2 M 445/02
Rechtsgebiete: BauGB, LSA-BauO, VwGO


Vorschriften:

BauGB § 36
LSA-BauO § 74 II 2
LSA-BauO § 74 III 1
VwGO § 146 IV
1. Die Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO ist zulässig, wenn sich das Ziel der Beschwerde und das Begehren erkennen lassen.

2. Die Nachtragsgenehmigung ist nur dann unselbständig, wenn die Änderungen des Gesamtvorhabens unwesentlich sind. Entscheidend ist, ob Belange, welche bei der Baugenehmigung zu berücksichtigen waren, erneut oder andere Belange so erheblich berührt werden, dass sich die Frage der Zulässigkeit des Bauvorhabens neu stellt.

3. Handelt es sich bei der "Nachtragsgenehmigung" in Wahrheit um eine neue Baugenehmigung, so ist die Gemeinde erneut nach § 36 BauGB zu beteiligen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 445/02

Datum: 27.01.2003

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im vorläufigen Rechtsschutzverfahren um die Notwendigkeit einer Beteiligung der Antragstellerin im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens zur Errichtung von zwei Windenergieanlagen.

Die Beigeladene beabsichtigt, auf dem Grundstück in der Gemarkung Zerbst, ... zwei Windenergieanlagen zu errichten. Am 14.08.200 beantragte sie bei dem Antragsgegner die Genehmigung für zwei Windenergieanlagen des Herstellers ENERCON mit der Typenbezeichnung E-66/80.70. Nach den genehmigten Bauvorlagen sollten die Nennleistung dieser Anlagen 1800 kW, deren Rotordurchmesser 70 m und die Nabenhöhe 64,8 m bei einer Gesamthöhe von 99,8 m betragen. Mit Bescheid vom 14.12.2000 lehnte der Antragsgegner diesen Antrag mit der Begründung ab, dem Vorhaben stünden planungs- und flugsicherungsrechtliche sowie flugtechnische Gründe entgegen und die Antragstellerin habe zudem das nach § 36 BauGB erforderliche Einvernehmen versagt. Gegen diesen Bescheid erhob die Beigeladene unter dem 19.12.2000 Widerspruch. Auf Weisung des Regierungspräsidiums Dessau vom 14.06.2001 ersetzte der Antragsgegner mit seinen Bescheiden vom 07.11.2001 das Einvernehmen der Antragstellerin zu dem geplante Bauvorhaben und erteilte der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Gegen beide Bescheide erhob die Antragstellerin unter dem 15. bzw. 16.11.2001 Widerspruch, über die - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden ist. Am 23.10.2002 ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung der Ersetzungsverfügung vom 07.11.2001 gegenüber der Antragstellerin an.

Mit Bescheid vom 22.08.2002 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen antragsgemäß eine "Nachtragsgenehmigung" für die Errichtung von zwei Windenergieanlagen an demselben Standort. Nach den in Bezug genommenen Bauvorlagen handelt es sich um Anlagen des Typs GE Wind Energy 1.5 sl mit einer Nennleistung von 1.500 kW. Gegen diese Genehmigung erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 12.09.2002 Widerspruch, über den bislang nicht entschieden worden ist.

Am 18.10.2002 hat die Antragstellerin bei dem Verwaltungsgericht Dessau um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Az: 1 B 481/02 DE) nachgesucht und zur Begründung ausgeführt, der verfahrensgegenständlichen Baugenehmigung mangele es an einem bestandskräftigen gemeindlichen Einvernehmen nach § 36 BauGB bzw. einer bestandskräftigen Ersetzungsverfügung gemäß § 74 BauO-LSA, so dass die Baugenehmigung bereits aus diesem Grund rechtswidrig sei.

Sie hat u.a. beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 12.09.2002 gegen die der Beigeladenen durch den Antragsgegner erteilte "Nachtragsgenehmigung" vom 22.08.2002 anzuordnen.

Der Antragsgegner und die Beigeladene haben keine Anträge gestellt.

Mit Beschluss vom 21.10.2002 hat das Verwaltungsgericht Dessau diesem Antrag der Antragstellerin stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die "Nachtragsgenehmigung" vom 22.08.2002 stelle der Sache nach eine selbständige Baugenehmigung für eine neues Bauvorhaben dar, welches mit dem zunächst (am 07.11.2001) genehmigten Vorhaben nicht identisch sei. Über die Zulässigkeit des neuen Vorhabens der Beigeladenen hätte gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren im Einvernehmen mit der Antragstellerin entschieden werden müssen. Dieses Einvernehmen sei durch den Antragsgegner nicht eingeholt und von der Antragstellerin nicht erteilt worden. Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen des § 74 Abs. 3 Satz 1 BauO LSA nicht vor, weil nicht ersichtlich sei, dass die Antragstellerin im Sinne des § 74 Abs. 2 Satz 2 BauO LSA angehört worden sei.

Am 30.10.2002 hat die Beigeladene gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt und zur Begründung am 21.11.2002 ausgeführt, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stelle die Nachtragsgenehmigung keine selbständige Baugenehmigung für eine neues Bauvorhaben dar, weil es vom Grundsatz her mit dem genehmigten Vorhaben identisch sei; denn eine gravierende Abweichung, die die Zulässigkeitsfrage des geplanten Bauvorhabens neu stelle, liege nicht vor. Zum einen handele es sich als privilegiertes Vorhaben im Außenbereich nicht um ein Vorhaben mit städtebaulicher Relevanz und zum anderen liege ein "Minus" gegenüber dem ursprünglich geplanten Vorhaben vor. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Windenergieanlagen könne es zudem nicht auf den Anlagentyp ankommen. Rein tatsächlich habe sich lediglich eine rechnerische Erhöhung der Windenergieanlagen um 10 cm ergeben. Mithin habe es einer erneuten Einholung des Einvernehmens durch die Antragstellerin nicht bedurft. Da die Antragstellerin sich mit allen Mitteln gegen die Baugenehmigung zur Wehr setze, sei die Einholung des Einvernehmens im Übrigen als bloße Förmelei entbehrlich gewesen.

Die Beigeladene beantragt sinngemäß,

den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Dessau vom 21. Oktober 2002 - 1 B 481/02 DE insoweit zu ändern, als die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen durch den Antragsgegner erteilte Nachtragsgenehmigung vom 07.11.2002 angeordnet worden ist,

und auch insoweit den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen.

Die Antragstellerin hat beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie führt aus, die Beschwerde sei bereits unzulässig, da es dem Antrag der Beigeladenen vom 21.11.2001 am Bestimmtheitserfordernis des § 146 VwGO mangele, da Gegenstand und Reichweite der eingelegten Beschwerde nicht ersichtlich seien. Die Beschwerde sei aber auch unbegründet, weil die Beigeladene verkenne, dass allein die im Vergleich zur Genehmigung vom 07.11.2001 mit Bescheid vom 22.08.2002 genehmigte Vergrößerung des Rotordurchmessers um 7m auf 77m ein neues Vorhaben darstelle, weil u. a. angesichts der Immissionen bei Windenenergieanlagen ein um 10% vergrößerter Rotordurchmesser eine qualitative Änderung der Anlage darstelle.

Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt, sich aber den Ausführungen der Beigeladenen angeschlossen.

Mit Schreiben vom 11.11.2002 hat der Antragsgegner die Antragstellerin um die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens gebeten; dieses hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 03.12.2002 versagt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners sowie die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen; diese sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Gründe:

II.

Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO - zulässig, insbesondere erfüllt der Antrag der Beigeladenen in ihrer Beschwerdeschrift vom 21.11.2002 die Bestimmtheitsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO; denn dieser bezieht sich allein auf den Tenor des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses, durch den die Beigeladene beschwert ist, so dass der Gegenstand des Beschwerdeverfahrens eindeutig zu bestimmen ist.

Die Beschwerde ist aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat, weil sich die der Beigeladenen erteilte "Nachtragsgenehmigung" vom 22.08.2002 bei der hier allein in Betracht kommenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache als rechtswidrig erweist.

Der Auffassung der Beigeladenen, die Nachtragsgenehmigung stelle keine selbständige Baugenehmigung für eine neues Bauvorhaben dar, weil es vom Grundsatz her mit dem genehmigten Vorhaben identisch sei, ist nicht zu folgen.

Mit einer unselbständigen Nachtragsgenehmigung werden nämlich nur solche Änderungen eines bereits genehmigten, aber noch nicht oder nicht vollständig ausgeführten Vorhabens genehmigt, die das Gesamtvorhaben in seinen Grundzügen nur unwesentlich berühren. Sie stellt sich nicht als rechtserhebliche Änderung des gesamten Bauvorhabens und damit als aliud zu der ursprünglichen Bauplanung dar, sondern ergänzt oder konkretisiert die Planungen des Bauherrn lediglich um unwesentliche Merkmale. Kennzeichnend für eine solche Nachtragsgenehmigung ist, dass sie einer isolierten bebauungsrechtlichen Beurteilung nicht zugänglich ist, sondern nur in Verbindung mit der bestehen bleibenden ursprünglichen Baugenehmigung Geltung beanspruchen kann. Die gegenseitige Ergänzung von ursprünglicher Baugenehmigung und Nachtragsgenehmigung hat notwendig zur Folge, dass das Gesamtvorhaben nur dann ausgeführt werden darf, wenn im Zeitpunkt des Beginns der Bauarbeiten beide Genehmigungen noch gültig sind (vgl. Urteil des Senats vom 26.06.2002 - A 2 S 711/99 -).

Für die Beurteilung der Frage, wann eine Nachtragsgenehmigung hinsichtlich der Identität und der Wesensmerkmale so erheblich von der erteilten Baugenehmigung abweicht, dass sie nicht das zugelassene, sondern ein "anderes" Bauvorhaben betrifft, ist im Ansatz davon auszugehen, dass mit der Erteilung der Baugenehmigung alle Aussagen der Bauvorlagen über das betreffende Vorhaben vorbehaltlich nur ihrer offenkundigen Bedeutungslosigkeit für die Entscheidung der Behörde von dem jeweiligen Genehmigungsvermerk erfasst und damit Genehmigungsinhalt werden. Dementsprechend führen selbst geringfügige Über- oder Unterschreitungen der in den Bauvorlagen angegebenen und mit den Genehmigungsvermerken "gebilligten" Maße dazu, dass jede spätere Veränderung aus dem Rahmen der Genehmigung herausfällt. Gleichwohl mag es im Einzelfall je nach Bedeutung des Gegenstands der Abweichung unterschiedlich zu ziehende Grenzen geben, innerhalb deren über die gewöhnlichen Maß- und/oder Fertigungstoleranzen hinaus in der Baupraxis gelegentlich vorkommende Verschiebungen mangels irgendeiner rechtlichen oder tatsächlichen Erheblichkeit keinen Grund darstellen, die betreffende Anlage als ein im Vergleich zu dem bereits genehmigten Projekt "anderes" Vorhaben anzusehen (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 26.06.2002 - A 2 S 711/99 -). Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich - was gegebenenfalls in einem erneut einzuleitenden Genehmigungsverfahren zu überprüfen ist - die Abweichungen letztlich als genehmigungsfähig oder als unzulässig erweisen. Diesem Gesichtspunkt kann allenfalls Indizwirkung zukommen (BayVGH, Beschl. v. 26.07.1991- 20 CS 89.1224 -, BRS 52 Nr. 147). Entscheidend ist vielmehr, ob durch die Abweichungen Belange, die bei der Baugenehmigung zu berücksichtigen waren, erneut oder andere Belange so erheblich berührt werden, dass sich die Frage der Zulässigkeit des Bauvorhabens als solches neu stellt.

Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die "Nachtragsgenehmigung" vom 22.08.2002 der Sache nach eine selbständige Baugenehmigung für ein neues Bauvorhaben darstellt, welches mit dem zunächst am 07.11.2001 genehmigten Vorhaben nicht identisch ist. Dabei kann entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht allein die Gesamthöhe der Windenergieanlagen ausschlaggebend sein, sondern es sind sämtliche Veränderungen des Bauvorhabens in den Blick zu nehmen. Danach unterscheiden sich die beiden Vorhaben deutlich in ihrem Aussehen, in ihrer Wirkungsweise und hinsichtlich ihrer statischen Anforderungen. So ergibt sich - worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hinweist - bereits aus dem Text der "Nachtragsgenehmigung", dass der Anlagentyp gewechselt hat und sowohl die Nabenhöhe von ursprünglich 64,8 m auf 61,4 m, die Leistung von ursprünglich 1800 kW auf 1500 kW sowie die Art und Weise der Gründung geändert worden sind. Insbesondere die Erhöhung des Rotordurchmessers von ursprünglich 70 m auf 77 m wirft die bauplanungs- und bauordnungsrechtliche Zulässigkeitsfrage des Bauvorhabens erneut auf, weil angesichts der von Windenergieanlagen ausgehenden Immissionen durch diese Vergrößerung eine qualitative Änderung der Anlage anzunehmen ist.

Mithin hätte über die Zulässigkeit des neuen Vorhabens der Beigeladenen gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 des Baugesetzbuchs - BauGB 98 - i. d. F. d. Bek. v. 27.08.1997 (BGBl I 2141, ber.: BGBl. 1998 I 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 15.12.2001 (BGBl I 3762), im bauaufsichtlichen Verfahren im Einvernehmen mit der Antragstellerin entschieden werden müssen; insbesondere konnte auf die Einholung des Einvernehmens nicht verzichtet werden, weil § 36 BauGB eine zwingende Regelung enthält, die die Planungshoheit der Gemeinde als Teil der verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungsrechts sichern soll (Schrödter, Kommentar zum BauGB, 6. Aufl., § 36 RdNrn. 1 f.). Dass der Antragsgegner die Antragstellerin während des laufenden Beschwerdeverfahrens am 11.11.2002 um die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens ersucht hat, ist unerheblich; denn die Antragstellerin hat mit Schreiben vom 03.12.2002 ihr gemeindliches Einvernehmen verweigert, und eine Ersetzung dieses Einvernehmens ist bisher - soweit ersichtlich - nicht erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 13 Abs. 1 Satz 1; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.12.2001 (BGBl I 3638 [3639]); insoweit schließt sich der Senat dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwert an.



Ende der Entscheidung

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