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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 21.01.2005
Aktenzeichen: 2 M 477/04
Rechtsgebiete: BauGB, VwGO


Vorschriften:

BauGB § 14 II 2
BauGB § 36
VwGO § 108
1. Die Fiktion, dass nach Fristablauf das verweigerte Einvernehmen i. S. des § 36 BauGB als erteilt gilt, erstreckt sich nicht auf § 14 Abs. 2 Satz 2 BauGB.

2. Die Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB steht nicht zur Disposition der Beteiligten; der Bauherr darf deshalb darauf vertrauen, dass über das Einvernehmen innerhalb der Frist Klarheit geschaffen worden ist. Die Frist verlängert sich auch bei Zustimmung des Bauherrn nicht.

3. Die Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB wird erst in Lauf gesetzt, wenn und sobald der Antrag der Gemeinde eine hinreichende und abschließende planungsrechtliche Beurteilung des Bauvorhabens ermöglicht.

4. Der Grundsatz, dass bei Anfechtung einer Baugenehmigung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt ihrer Erteilung gilt, hindert nicht, nachträgliche Änderungen zu Gunsten des Bauherrn zu berücksichtigen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 477/04

Datum: 21.01.2005

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO -, diese in der jeweils gültigen Fassung, sowie auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO <Kosten> und auf §§ 47 Abs. 1; 52 Abs. 1; 53 Abs. 3 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. des Art. 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes v. 05.05.2004 (BGBl I 718) - GKG - i. V. m. Abschnitt II Nrn. 1.5 und 9.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327) <Streitwert>.

Die Beschwerde, die seit der am 01.01.2002 in Kraft getretenen Änderung des § 146 VwGO durch das RmBerinVpG nicht mehr der Zulassung bedarf, bleibt ohne Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.

Ohne Erfolg wendet die Antragstellerin ein, das Verwaltungsgericht habe die Bedeutung der von ihr im April 2003 beschlossenen Veränderungssperre für den Bereich des Bebauungsplans Nr. 29 ... unberücksichtigt und dabei insbesondere außer Acht gelassen, dass sie nicht nur das Einvernehmen zu den Vorhaben der Beigeladenen nach § 36 BauGB, sondern auch das Einvernehmen für die Gewährung von Ausnahmen von der Veränderungssperre nach § 14 Abs. 2 BauGB versagt habe. Zutreffend geht die Antragstellerin zwar davon aus, dass die Fiktion des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB, wonach das Einvernehmen bei fehlender Verweigerung mit Ablauf der zweimonatigen Frist als erteilt gilt, sich nicht auf das Einvernehmen § 14 Abs. 2 Satz 2 BauGB erstreckt (vgl. Bielenberg/Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 14 RdNr. 51; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 14 RdNr. 87). Die Nichterteilung des Einvernehmens nach § 14 Abs. 2 Satz 2 BauGB kann aber im konkreten Fall nicht zur Aufhebung der angegriffenen Baugenehmigungen führen, weil die Rechtmäßigkeit der Genehmigungen nicht (mehr) die Erteilung von Ausnahmen durch die Baugenehmigungsbehörde nach § 14 Abs. 2 BauGB voraussetzt. Wie der Senat mit Beschluss vom 04.08.2004 (2 R 31/04) entschieden hat, ist die in Rede stehende Veränderungssperre der Antragstellerin offensichtlich rechtswidrig, so dass sie dem Vorhaben der Beigeladenen nicht entgegen gehalten werden kann. Mit dem genannten Beschluss hat der Senat zudem die Veränderungssperre außer Vollzug gesetzt, was zur Folge hat, dass sie (vorläufig) als nicht vorhanden zu behandeln und nicht (mehr) rechtens zur Grundlage von Verwaltungsentscheidungen gemacht werden kann (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 47 RdNr. 105); BayVGH, Beschl. v. 14.02.1984 - Nr. 1 S 83A.2169 -, BayVBl 1984, 370). Zwar beurteilt sich die Frage, ob eine angefochtene Baugenehmigung einen Dritten in seinen Rechten verletzt, grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung; nachträgliche Änderungen zu Gunsten des Bauherrn sind aber zu berücksichtigen (BVerwG, Beschl. v. 23.04.1998 - BVerwG 4 B 40.98 -, NVwZ 1998, 1179, m. w. Nachw.). Dem entsprechend ist auch im Beschwerdeverfahren die - der Antragstellerin bekannte - Außervollzugsetzung der Veränderungssperre zu berücksichtigen.

Soweit die Antragstellerin für "klärungsbedürftig" hält, ob die Genehmigungsbehörde im Einverständnis mit der Gemeinde das Ersuchen um die Erteilung des Einvernehmens zurücknehmen kann und ob eine Gemeinde "zweimal beteiligt" werden darf, führt auch dies nicht zum Erfolg der Beschwerde. Zunächst lässt sich den vom Antragsgegner übersandten Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen, dass er sein erstes Ersuchen um Erteilung des Einvernehmens vom 27.05.2003 zurückgenommen hat. Er hat lediglich nicht beanstandet, dass die Antragstellerin die Bauunterlagen an ihn zurückgesandt hat, und unter Datum vom 07.07.2003 ein zweites Ersuchen an sie gerichtet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass für den Lauf der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB allein das erste Ersuchen maßgeblich ist. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, steht die Zweimonatsfrist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten (BVerwG, Urt. v. 12.12.1996 - BVerwG 4 C 24.95 -, BauR 1997, 444). Die genannte Fristenregelung ist eingefügt worden, um das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen; der Bauherr darf darauf vertrauen, dass über eine Teilfrage des Genehmigungsverfahrens - nämlich über die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens - innerhalb der Frist Klarheit geschaffen wird (BVerwG, Urt. v. 12.12.1996, a. a. O.; Urt. v. 19.02.2004 - BVerwG 4 CN 16.03 -, ZfBR 2004, 460). Eine Verlängerung der Frist, die vornehmlich dem Schutz des Bauherrn dient, kommt auch im Falle seiner Zustimmung nicht in Betracht (BVerwG, Urt. v. 12.12.1996, a. a. O.). Scheidet aber eine solche einvernehmliche Fristverlängerung aus, konnte die Antragstellerin die Einvernehmensfrist auch nicht dadurch verlängern, dass sie - mit oder ohne Einverständnis des Antragsgegners - ihm die ihr zur Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens erforderlichen Unterlagen ungeprüft zurück gereicht hat mit der Begründung, eine Entscheidung (ihres Bauausschusses) sei erst dann möglich, wenn ein gewisser Planungsstand erreicht sei. Mit der Schutzfunktion der Fristenregelung für den Bauherrn wäre es ebenso wenig vereinbar, wenn die erneute Übersendung der Bauunterlagen an die Antragstellerin hätte bewirken können, dass die Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB neu zu laufen begann, auch wenn das Anschreiben des Antragsgegners vom 07.07.2003 diesen Eindruck erweckt haben sollte. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin wird sie durch das Vorgehen des Antragsgegners auch nicht schutz- und wehrlos gestellt. Die Gemeinde, deren Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt, erleidet keine schweren Nachteile, auch wenn sie erst nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist zu der Erkenntnis kommt, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben planungsrechtlich unzulässig ist; die Möglichkeit, ihren Rechtsstandpunkt zur Geltung zu bringen, wird ihr durch diese Regelung nicht endgültig abgeschnitten (BVerwG, Urt. v. 12.12.1996, a. a. O.). Zwar ist sie aufgrund der Fiktion dem Bauantragsteller gegenüber gebunden; solange noch keine Entscheidung über die Baugenehmigung ergangen ist, bleibt es der Gemeinde indes unbenommen, der Genehmigungsbehörde gegenüber ihre Bedenken vorzubringen; erweisen sich die Gründe, die sie gegen die Zulässigkeit des Vorhabens ins Feld führt, als stichhaltig, kann sie ungeachtet des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB damit rechnen, dass der Bauantrag abgelehnt wird (BVerwG, Urt. v. 12.12.1996, a. a. O.).

Die Antragstellerin kann auch nicht damit gehört werden, sie sei deshalb nicht ordnungsgemäß nach § 36 BauGB am Genehmigungsverfahren beteiligt worden, weil die ihr übersandten Bauantragsunterlagen unvollständig gewesen seien. Zu Recht geht die Antragstellerin zwar davon aus, dass die Einreichung des Bauantrags bei der Gemeinde die Einvernehmensfrist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB grundsätzlich nur dann auslöst, wenn und sobald der Antrag der Gemeinde eine hinreichende und abschließende planungsrechtliche Beurteilung des Bauvorhabens ermöglicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.09.2004 - BVerwG 4 C 7.03 -, JURIS). Damit hat es aber nicht sein Bewenden. Die Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen ist mit der Obliegenheit der Gemeinde verbunden, im Rahmen der Möglichkeiten, die ihr das Landesrecht eröffnet, innerhalb der zweimonatigen Einvernehmensfrist gegenüber dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde auf die Vervollständigung des Bauantrags hinzuwirken; lässt sie die Frist verstreichen, ohne dass sie einen Anlass sieht, auf das Nachreichen bestimmter Unterlagen hinzuwirken, gilt ihr Einvernehmen als erteilt (BVerwG, Urt. v. 16.09.2004, a. a. O.). Da die Antragstellerin das Fehlen von Bauvorlagen innerhalb der Einvernehmensfrist nicht gerügt, sondern lediglich auf den - aus ihrer Sicht für die Beurteilung der Vorhaben noch nicht ausreichenden - Planungsstand sowie auf die von ihr beschlossene Veränderungssperre verwiesen hat, kann sie sich im gerichtlichen Verfahren nicht mehr auf (vermeintlich) fehlende Bauvorlagen berufen, die für die Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens von Bedeutung gewesen seien.

Der weitere Einwand der Antragstellerin, die Baugenehmigung sei auch deshalb rechtswidrig und verletzte sie in ihren Rechten, weil nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 30.06.2004 - BVerwG 4 C 9.03 -, NVwZ 2004, 1235) die Errichtung der insgesamt vier Windenergieanlagen nur in einem immissionsschutzrechtlichen Verfahren hätten genehmigt werden dürfen, kann im Beschwerdeverfahren schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil er erst nach Ablauf der Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgebracht wurde. Diesen neuen Umstand kann die Antragstellerin lediglich mit einem Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO beim Verwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache geltend machen.

Unabhängig davon dürfte die Antragstellerin nicht dadurch in eigenen Rechten verletzt sein, dass lediglich ein Baugenehmigungsverfahren an Stelle eines immissionsschutzrechtlichen Verfahrens durchgeführt wurde. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, welche Vorschriften, die der Antragstellerin zu dienen bestimmt sind, wegen der Durchführung (nur) des Baugenehmigungsverfahrens verletzt sein könnten. Der einzelne Betroffene kann die Einhaltung von Verfahrensvorschriften grundsätzlich nicht um ihrer selbst willen ohne Rücksicht darauf erzwingen, ob er in einem materiellen Recht verletzt ist oder nicht; ein subjektiv-öffentliches Recht lässt sich aus einer verfahrensrechtlichen Regelung nur dann ableiten, wenn die Verfahrensvorschrift dem Betroffenen in spezifischer Weise und unabhängig vom materiellen Recht eine eigene, selbständig durchsetzbare verfahrensrechtliche Rechtsposition gewähren will (BVerwG, Beschl. v. 15.10.1998 - BVerwG 4 B 94.98 -, NVwZ 1999, 876, m. w. Nachw.). Die Regelungen in § 4 BImSchG und der 4. BImSchV über die (immissionsschutzrechtliche) Genehmigungsbedürftigkeit von Anlagen gewährt den betroffenen Gemeinden keine solche Rechtsposition. Aus dem Regelungsgehalt dieser Vorschriften lässt sich keine eigene Schutzfunktion zu ihren Gunsten herleiten. Die Gemeinden sind sowohl im Baugenehmigungsverfahren als auch im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren nach § 36 BauGB dergestalt zu beteiligen. dass die Erteilung der jeweiligen Genehmigung ihres Einvernehmens bedarf. Nach § 36 Abs. 1 Satz 2 BauGB ist das Einvernehmen der Gemeinden auch dann erforderlich, wenn in einem anderen Verfahren über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB entschieden wird. Das immissionsschutzrechtliche Verfahren ist ein "anderes Verfahren" im Sinne dieser Regelung (vgl. BayVGH, Beschl. v. 14.03.1991 - 22 CS 90.3224 -, NVwZ-RR 1991, 523, m. w. Nachw.; HessVGH, Beschl. v. 16.03.1994 - 14 UE 1702/88 -, NVwZ-RR 1995, 60). Bei ihrer Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens können die Gemeinden ihre materiellen planungsrechtlichen Rechtspositionen geltend machen.

Auch der Umstand, dass bei Durchführung eines immissionsschutzrechtlichen Verfahrens nicht der Antragsgegner als untere Bauaufsichtsbehörde, sondern die Immissionsschutzbehörde - auch für das Ersuchen um Erteilung des Einvernehmens - zuständig gewesen wäre, lässt nach den dargelegten Grundsätzen eine Rechtsverletzung der Antragstellerin nicht erkennen. Es ist nicht ersichtlich, dass die einschlägigen Zuständigkeitsvorschriften auch den Interessen Dritter dienen könnten; sie verfolgen vielmehr ausschließlich den Zweck, Verwaltungsvorgänge in sinnvoller Weise dafür kompetenten Behörden innerhalb der Behördenhierarchie zuzuordnen (vgl. VGH BW, Urt. v. 21.10.1991 - 5 S 3088/88 -, NVwZ-RR 1992, 304; OVG NW, Beschl. v. 01.07.2002 - 10 B 788/02 -, NVwZ 2003, 361). Der von der Antragstellerin zitierten Entscheidung des Bayerischen VGH (Beschl. v. 13.08.1996 - 20 CS 96.2369 -, BRS 58 Nr. 184) vermag sich der Senat deshalb nicht anzuschließen.

Die auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.06.2004 ergangenen Hinweise des Ministeriums für Bau und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt vom 07.10. 2004 zur Rücknahme von Baugenehmigungen in Rechtsbehelfsverfahren, auf die sich die Antragstellerin schließlich beruft, können ebenso nicht berücksichtigt werden, weil auch sie erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist vorgetragen wurden. Zu diesem Einwand ist ergänzend zu bemerken, dass das vorliegende Verfahren nicht die Rücknahme von (rechtswidrigen) Baugenehmigungen zum Gegenstand hat, wo unter anderem zu prüfen wäre, ob die Behörde im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtet hat, sondern einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen Baugenehmigungen, dem das Gericht nur dann stattgeben darf, wenn eigene Rechte des Antragstellers verletzt sind.

Ende der Entscheidung

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