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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 22.10.2003
Aktenzeichen: 2 M 497/03
Rechtsgebiete: VwGO, GG, EMRK, AuslG


Vorschriften:

VwGO § 123 I
GG Art. 6 I
GG Art. 6 II 1
EMRK Art. 8 I
AuslG § 54
AuslG § 55 II
1. Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO kann nicht ergehen, wenn das erforderliche Rechtsverhältnis nicht durch einen Antrag bei der Behörde begründet worden ist.

2. Die Entscheidung nach § 123 Abs. 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer Interessenabwägung, wenn die Erfolgsaussichten nicht in der einen oder anderen Richtung offensichtlich sind.

3. Die Abschiebung ist rechtlich unmöglich, wenn sich der Ausländer auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. auf Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen kann.

4. Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet nicht, die Eheführung einer rein ausländischen Ehe im Bundesgebiet zu gewährleisten. Ein Schutz ist aber zu berücksichtigen, wenn ein Ehegatte ein auf Dauer gesichertes Aufenthaltsrecht besitzt.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 497/03

Datum: 22.10.2003

Gründe:

Der Beschluss beruht auf § 146 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung i. d. F. d. Bek. v. 19.03.1991 (BGBl I 686) - VwGO -, in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2001 (BGBl I 3987) - VwGO 02 -, sowie auf § 154 Abs. 2 VwGO <Kosten> und auf §§ 13 Abs. 1 S. 1 ; 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]) <Streitwert>.

Die zulässige Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen. Voraussetzung des Erlasses ist, dass der Antragsteller darlegt und glaubhaft macht, es bestehe ein Recht oder ein rechtlich geschütztes Interesse (Anordnungsanspruch), das durch das Verhalten der öffentlichen Gewalt gefährdet sei (Anordnungsgrund). Die Entscheidung beruht auf einer Abwägung der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen, die nach den gleichen Grundsätzen erfolgt, welche bei der Aussetzung des sofortigen Vollzugs nach § 80 Abs. 5 VwGO gelten (BVerfG, Beschl. v. 12.08.1977 - 1 BvR 699/77 -, BVerfGE 51, 268 [280]). Sie fällt zugunsten des Antragstellers aus, wenn die Abwägung ergibt, dass die Folgen, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung verweigert wird und die Behörde später in der Hauptsache zur Vornahme der begehrten Handlung verpflichtet wird, schwerer wiegen als die Folgen, die eintreten, wenn das Rechtsverhältnis einstweilen geregelt und die Ablehnung der begehrten Handlung später in der Hauptsache bestätigt wird. Hat das Hauptsacheverfahren überwiegende Erfolgsaussichten, dann überwiegen die Interessen des Antragstellers, im anderen Fall diejenigen des Antragsgegners. Bei offenem Prozessausgang kommt es allein auf die Gewichtung der widerstreitenden Nachteile an.

Dem Antragsteller ist mit der für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Wahrscheinlichkeit ein Duldungsanspruch zuzubilligen, weil seine Abschiebung aus Gründen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG; 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 - EMRK - (BGBl 1952 II 686, 953; 1968 II 1116, 1120; 1989 II 547) rechtlich unmöglich ist (§ 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes - AuslG - (= Art. 1 des Gesetzes vom 09.07.1990 [BGBl I 1354], geändert durch Gesetz vom 30.06.1993 [BGBl I 1062], zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.01.2002 [BGBl I 361 <368>]).

Nach § 55 Abs. 2 AuslG wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 53 Abs. 6 oder § 54 AuslG ausgesetzt werden soll. Dem Antragsteller dürfte wegen seiner Beziehung zu seiner vietnamesischen Ehefrau ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG zur Seite stehen.

Eine Abschiebung ist dann rechtlich unmöglich, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf, etwa weil ein Abschiebungsverbot (§ 51 Abs. 1 AuslG) oder ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG oder aufgrund vorrangigen Rechts, namentlich der Grundrechte, gegeben ist. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt insbesondere auch dann vor, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen (BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - BVerwG 1 C 9.95 -, InfAuslR 1997, 355). Ein solches Abschiebungshindernis dürfte hier bestehen.

Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt und nicht auf Deutsche beschränkt ist, kann unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Abschiebungshindernis im vorbezeichneten Sinne führen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386 [396 f.]; Beschl. v. 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81 [93]) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 22.02.1995 - BVerwG 1 C 11.94 -, BVerwGE 98, 31 [46]; Urt. v. 27.08.1996 - BVerwG 1 C 8.94 -, BVerwGE 102, 12 [19]) gewährt Art. 6 GG nicht unmittelbar einen Anspruch auf Aufenthalt. Die entscheidende Behörde hat aber die familiären Bindungen des Antragstellers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (BVerfGE 80, 81 [93]; BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - BVerwG 1 C 9.95 -, InfAuslR 1997, 355). Dies gilt auch bei der Prüfung der rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 55 Abs. 2 AuslG.

Indes gebietet es die Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern, regelmäßig nicht, dem Wunsch eines Ausländers nach ehelichem und familiärem Zusammenleben im Bundesgebiet zu entsprechen, wenn sein Verbleib im Bundesgebiet oder der des Familienangehörigen nicht durch eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung aufenthaltsrechtlich auf Dauer gesichert ist oder ein Anspruch auf Einräumung eines Daueraufenthaltsrechts besteht (BVerfG, Beschl. v. 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83, 101,313/84 -, BVerfGE 76, 1 [55]; vgl. auch BVerwG, Beschl. vom 09.01.1990 - BVerwG 1 B 134.89 -, Buchholz 402.24 [AuslG] § 7 Nr. 35).

Dass die vietnamesische Ehefrau einen solchen Aufenthaltsstatus besitzt, hat der Antragsteller - vom Antragsgegner unwidersprochen - vorgetragen.

Zweifel an der rechtlichen Wirksamkeit der Ehe des Antragstellers hat der Antragsgegner nicht geltend gemacht; im Gegenteil hat er aufgrund der Eheschließung des Antragstellers sogar die Ausweisungsverfügung gegen ihn aufgehoben.

Der Senat geht davon aus, dass eine gemeinsame Lebensführung und eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Eheleuten weiterhin besteht.

Aus dem Umstand, dass der Antragsgegner am 13. und 16.10.2003 weder den Antragsteller noch seine Ehefrau und deren Kinder in der gemeinsamen Familienwohnung angetroffen hat, kann der Antragsgegner nicht den Schluss herleiten, dass eine gemeinsame Lebensführung und familiäre Lebensgemeinschaft nicht mehr gegeben ist.

Die Erklärung der Beschwerdeschrift, die Eheleute hätten wegen der Baustellentätigkeit ihre Familienwohnung verlassen und hielten sich vorübergehend gemeinsam bei Freunden in Magdeburg auf, deren Anschrift der Antragsteller auch angegeben hat, hat der Antragsgegner nicht widerlegt. Die Erklärung des Antragstellers, deren Wahrheitsgehalt seine Ehefrau an Eides statt versichert hat, kann der Antragsgegner im "Pendlerland" Sachsen-Anhalt nicht mit dem Hinweis, es sei nicht nachvollziehbar, dass die Eheleute vorübergehend in M. wohnen, während die Ehefrau in A. arbeitet, entkräften.

Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.

Das Gericht kann den Antragsgegner schon deshalb nicht verpflichten, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen, weil er einen Antrag bei der Ausländerbehörde weder gestellt hat noch ein solcher vom Antragsgegner bisher abgelehnt worden ist.

Ende der Entscheidung

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