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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 30.11.2004
Aktenzeichen: 2 O 559/04
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO, LSA-BauO


Vorschriften:

VwGO § 166
ZPO § 114
LSA-BauO § 6 II
LSA-BauO § 7 I
LSA-BauO § 75 I
1. Hinreichende Erfolgsaussicht ist zu bejahen, wenn der Rechtsstandpunkt ohne Überspannung der Anforderungen zutreffend oder bei schwieriger Rechtslage zumindest vertretbar erscheint (st Rspr d Senats).

2. § 75 Abs. 1 BauO LSA ermächtigt zu einer "intendierten Ermessensentscheidung".


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 O 559/04

Datum: 30.11.2004

Gründe:

I.

Die Klägerin hat bei dem Verwaltungsgericht Magdeburg die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren beantragt, mit dem sie die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses begehrt.

Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag mit Beschluss vom 16.09. 2004 (Az.: 4 A 506/02 MD) abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klage habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das Vorhaben der Klägerin sei nicht genehmigungsfähig, weil es die nach § 6 BauO LSA erforderliche Abstandfläche nicht einhalte. Die Vorschrift des § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO LSA, wonach die Abstandfläche zum Teil auf öffentlichen Verkehrsflächen liegen dürfe, sei auf den vorliegenden Privatweg nicht entsprechend anwendbar. Insoweit fehle es an einer unbeabsichtigten Regelungslücke. Die In-Anspruch-Nahme dieses Weges sei auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 BauO LSA gestattungsfähig. Hierfür sei die erforderliche öffentlich-rechtliche Sicherung nicht vorhanden.

Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin am 01.10.2004 Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat sie u. a. geltend gemacht: Hier komme die Zulassung einer Abweichung gemäß § 75 Abs. 1 BauO LSA in Betracht. Dies habe das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsvorgänge und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Die in § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO geregelten Voraussetzungen für die Erteilung der beantragten Prozesskostenhilfe liegen vor.

Insbesondere bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hinreichende Aussicht auf Erfolg. Für eine hinreichende Erfolgsaussicht genügt zwar nicht jede entfernte Erfolgschance (BVerfG, Beschl. v. 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 -, NJW 1991, 413). Die Anforderungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen aber auch nicht überspannt werden (BVerfG, Beschl. v. 30.10.1991 - 1 BvR 1386/91 -, NJW 1992, 889). Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 166 RdNr. 8). Vielmehr genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs (BVerwG, Beschl. v. 08.03.1999 - BVerwG 6 B 121.98 -, NVwZ-RR 1999, 587). Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist mithin in der Regel bereits dann zu bejahen, wenn der Rechtsstandpunkt des Rechtsschutzsuchenden ohne Überspannung der Anforderungen zutreffend oder bei schwieriger Rechtslage zumindest vertretbar erscheint (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B.: OVG LSA, Beschl. v. 06.04. 1998 - F 2 S 366/96 -; Beschl. v. 19.05.2003 - 2 O 145/03 -).

Gemessen an diesem Maßstab hat die Rechtssache hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das Vorhaben der Klägerin weicht zwar von den Anforderungen des § 6 BauO LSA ab, weil es die danach erforderliche Abstandfläche nicht einhält und auch eine analoge Anwendung der §§ 6 Abs. 2 und 7 Abs. 1 BauO LSA nicht in Betracht kommen dürfte. Die Klägerin kann die begehrte Baugenehmigung aber möglicherweise gleichwohl verlangen; denn es besteht eine hinreichende Aussicht darauf, dass diese Abweichung gemäß § 75 Abs. 1 BauO LSA zuzulassen ist. Nach dieser Vorschrift kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen der BauO LSA und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind, soweit in diesem Gesetz oder in aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften nichts anderes geregelt ist. Bei § 75 Abs. 1 BauO LSA handelt es sich um eine intendierte Ermessensentscheidung, d. h. sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abweichung gegeben, ist diese regelmäßig zuzulassen, es sei denn, es lägen besondere Umstände vor, die (ausnahmsweise) dem entgegenstünden (OVG LSA, Beschl. v. 29.10.2003 - 2 L 3/02 -). Zu den Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 BauO LSA hat der Senat in seinem Beschluss vom 04.11.2004 (2 M 277/04) folgende Grundsätze aufgestellt:

"Aus den tatbestandlichen Merkmalen des § 75 Abs. 1 BauO LSA ergeben sich hinreichend klare Maßstäbe, wann eine Abweichung zugelassen werden darf. Maßgebend ist entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen unter Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen, wobei die tatbestandlichen Voraussetzungen restriktiv zu handhaben sind. Dies gebietet allein schon der Umstand, dass durch die baurechtlichen Vorschriften die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Belange und Interessen regelmäßig bereits in einen gerechten Ausgleich gebracht worden sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.1991 - BVerwG 4 C 17.90 -, BVerwGE 88, 191) und die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Vorschriften der Landesbauordnung nicht gestattet. Angesichts dessen lässt das Merkmal der "Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung" eine Abweichung nur dann zu, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist. Eine derartige Lage ist gegeben, wenn aufgrund der besonderen Umstände der Zweck, der mit einer Vorschrift verfolgt wird, die Einhaltung der Norm nicht erfordert oder wenn deren Einhaltung aus objektiven Gründen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die mit einer Versagung der Abweichung verbunden wäre. Um dies sachgerecht beurteilen zu können, sind stets die mit der gesetzlichen Anforderung verfolgten Ziele zu bestimmen und den Gründen gegenüberzustellen, die im Einzelfall für die Abweichung streiten. Ebenso sind die betroffenen nachbarlichen Interessen zu gewichten und angemessen zu würdigen. Je stärker die Interessen des Nachbarn berührt sind, um so gewichtiger müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe sein. Soll gar von einer nachbarschützenden Vorschrift abgewichen werden, sind die entgegenstehenden Rechte des Nachbarn materiell mitentscheidend. Eine Abweichung kommt in einer derartigen Situation nur in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles der Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für eine Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen."

In Anwendung dieser Grundsätze ist hier zumindest nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin die Abweichung ihres Vorhabens von den Anforderungen des § 6 BauO LSA zuzulassen ist; denn nach summarischer Prüfung spricht Einiges dafür, dass der mit § 6 BauO LSA verfolgte Zweck (Sicherung einer ausreichenden Besonnung, Belichtung und Belüftung sowie des Wohnfriedens) durch das an einen Privatweg angrenzende Vorhaben der Klägerin nicht beeinträchtigt wird. Ob dies einer näheren Prüfung im Klageverfahren Stand hält, insbesondere auch unter Berücksichtigung einer möglicherweise auf der gegenüberliegenden Seite des streitgegenständlichen Privatweges vorhandenen Bebauung so zu beurteilen ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls reicht die aufgezeigte Möglichkeit einer Abweichungszulassung im Sinne des § 75 BauO LSA für die Bejahung einer hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO aus.

Die übrigen Voraussetzungen des § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO liegen ebenfalls vor. Die Klägerin hat ihre Bedürftigkeit nachgewiesen. Auch erscheint die von ihr beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 1 GKG i. V. m. § 118 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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