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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 04.06.2007
Aktenzeichen: 2 O 86/07
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 54 Nr. 1
1. Regelfälle im Sinne von § 54 Nr. 1 AufenthG sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden, während Ausnahmefälle durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Es müssen besondere Umstände gegeben sein, die den Ausländer entlasten oder aufgrund derer seine Ausweisung als unangemessene Härte erscheint.

2. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aussetzung des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe, die in der Regel verfügt wird, stellt keinen besonderen Umstand dar, der sich von der Normallage unterscheidet und eine Entscheidung über die Ausweisung nach Ermessensgesichtspunkten gebietet.

3. Auch der Umstand, dass der ausländische Straftäter an einer Alkoholentziehungstherapie teilgenommen hat, die positiv verlaufen ist, stellt keinen vom Regelfall abweichenden Geschehensablauf dar, wenn diese Therapie auf einer gerichtlichen Anordnung beruhte, da diese in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle stattfindet. Ein Ausnahmefall kommt allenfalls dann in Betracht, wenn anzunehmen ist, dass es dem Straftäter gelungen ist, seine Alkoholabhängigkeit auch außerhalb der ihn schützenden Therapie in den Griff zu bekommen und er (deshalb) keine weiteren Straftaten mehr begehen wird.


Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Nach § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint.

Die angefochtene Ausweisungsverfügung des Antragsgegners dürfte rechtlich nicht zu beanstanden sein. Der Antragsteller erfüllt den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 1 AufenthG, da er mit Urteil des Amtsgerichts Zerbst vom 20.05.2003 zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Aussetzung des Restes der Jugendstrafe nach § 88 JGG, wie sie hier durch Beschluss des Amtsgerichts Bernburg vom 10.03.2005 erfolgte, stellt keine "Bewährung" im Sinne von § 54 Nr. 1 AufenthG dar (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.06.1997 - 1 C 23.96 -, InfAuslR 1997, 390). Das Verwaltungsgericht hat ferner zutreffend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 47 Abs. 2 AuslG ausgeführt, dass Regelfälle im Sinne dieser Vorschrift solche sind, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden, während Ausnahmefälle durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Bei dieser Prüfung sind alle Umstände des strafbaren Verhaltens, aber auch die sonstigen Verhältnisse einschließlich der familiären Situation von Bedeutung. Es müssen besondere Umstände gegeben sein, die den Ausländer entlasten oder aufgrund derer seine Ausweisung als unangemessene Härte erscheint (vgl. Urt. d. Senats v. 11.09.2003 - 2 L 222/01 -, Juris, m. w. Nachw.). Diese Voraussetzungen dürften hier nicht vorliegen.

Ein atypischer Fall folgt insbesondere nicht daraus, dass das Amtsgericht Bernburg mit Beschluss vom 10.03.2005 die weitere Vollstreckung der mit Urteil vom 12.05.2003 verhängten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Rest der Jugendstrafe zur Bewährung aussetzte, weil der Antragsteller nach der Auffassung des Gerichts während der Zeit des Maßregelvollzugs seine Alkoholproblematik in einer Weise aufgearbeitet habe, dass er sehr wahrscheinlich vor künftigem Alkoholmissbrauch und den damit - jedenfalls in der Vergangenheit - zusammenhängenden Straftaten bewahrt werde. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall die Umstände, die eine Aussetzung des Strafrestes rechtfertigen, namentlich die "besonderen Umstände" im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB, zugleich einen Ausnahmefall kennzeichnen und deswegen die Behörde im Ermessenswege von einer Ausweisung absehen darf (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.03.1994 - 1 B 30.94 -, InfAuslR 1994, 311). Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aussetzung des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe, die in der Regel verfügt wird, stellt hingegen keinen besonderen Umstand dar, der sich von der Normallage unterscheidet und eine Entscheidung über die Ausweisung nach Ermessensgesichtspunkten gebietet (Hailbronner, Ausländerrecht, A 1 § 54 AufenthG RdNr. 51, m. w. Nachw.). Im konkreten Fall führten keine "besonderen Umstände" zu einer Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Vollstreckung des Strafrests. Gemäß § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB setzt das Gericht, wenn keine Höchstfrist vorgesehen oder die Frist noch nicht abgelaufen ist, die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Nach § 88 Abs. 1 JGG kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann. Beide hier vom Amtsgericht Bernburg angewandten Vorschriften setzen also gerade keine "besonderen Umstände" voraus.

Dem Verwaltungsgericht ist ferner im Ergebnis darin beizupflichten, dass auch die Alkoholabhängigkeit des Antragstellers keinen vom "Normalfall" abweichenden Sachverhalt darstellen dürfte. Es ist nicht atypisch, dass die Straftaten, deretwegen der Antragsteller verurteilt wurde (räuberischer Diebstahl, gemeinschaftlicher Wohnungseinbruchsdiebstahl, Diebstahl geringwertiger Sachen, (gefährliche) Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Sachbeschädigung, Trunkenheit im Verkehr, Fahren ohne Fahrerlaubnis) auf Alkoholeinfluss oder Alkoholabhängigkeit zurückzuführen sind. Der Antragsteller trägt selbst vor, angesichts der Unmöglichkeit, den Alkoholkonsum aus seinen geringen Einkünften aus Sozialleistungen zu finanzieren, sei er infolge seiner Alkoholkrankheit "quasi zur Begehung von Straftaten verdammt" gewesen.

Auch der Umstand, dass der Antragsteller an einer Therapie im Landeskrankenhaus für forensische Psychiatrie D-Stadt teilgenommen hat, die nach Angaben der behandelnden Ärzte vom 09.02.2005 positiv verlaufen ist, stellt keinen vom Regelfall abweichenden Geschehensablauf dar; denn diese Therapie beruhte auf einer gerichtlichen Anordnung, die in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle stattfindet (vgl. BayVGH, Beschl.v. 09.05.2005 - 24 C 05.526 -, Juris). Ein Ausnahmefall käme allenfalls dann in Betracht, wenn anzunehmen wäre, dass es dem Antragsteller gelungen ist, seine Alkoholabhängigkeit auch außerhalb der ihn schützenden Therapie in den Griff zu bekommen und er (deshalb) keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Dies war aber im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchbescheids am 21.02.2006 noch nicht feststellbar. Nach der Mitteilung des Landeskrankenhauses vom 09.02.2005 zeigte der Antragsteller zwar nach seiner Therapie ein ernsthaftes Bemühen, in Zukunft ein straffreies und abstinentes Leben führen zu wollen. Einschränkend wird aber weiter ausgeführt, entscheidend hierbei würden die Rahmenbedingungen nach seiner Entlassung sein. Ein Zusammenleben mit Frau K. (seiner Lebensgefährtin) sei schon aus Gründen der Unterbringung empfehlenswert; ferner könne sie das Krankenhaus - unter Beachtung, dass der Antragsteller auf Bewährung aus der Einrichtung entlassen werde - in Konfliktsituationen sofort kontaktieren, was eine schnelle Intervention vereinfache. Daraus folgt, dass die Widerspruchsbehörde im Zeitpunkt Ihrer Entscheidung noch nicht verlässlich davon ausgehen konnte, der Antragsteller werde sein Leben in Freiheit auf Dauer ohne Alkoholkonsum und ohne Begehung weiterer Straftaten führen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin nicht fortbestehen sollte. Insgesamt dürfte der Zeitraum zwischen Entlassung aus der Entziehungsanstalt und Ergehen des Widerspruchsbescheids von etwa einem Jahr zu kurz gewesen sein, um die erforderliche Stabilisierung der Lebensverhältnisse des Antragstellers zu belegen.

Eine andere Beurteilung dürfte sich daher auch dann nicht ergeben, wenn der vom Antragsteller zitierten Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 21.02.2001 - 11 S 369/00 -, InfAuslR 2001, 121) zu folgen sein sollte, nach der eine positive Entwicklung des Straftäters anzeigende Erkenntnisse bei der Beurteilung der Frage, ob eine Ausnahme von der Regel des § 54 Nr. 1 AufenthG vorliege, ein besonderes Gewicht beizumessen sei, insbesondere wenn die den Anlass der Ausweisung darstellenden Straftaten im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung bereits mehrere Jahre zurückliegen. In dem vom VGH Baden-Württemberg entschiedenen Fall befand sich der Betroffene im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung nach der Haftentlassung bereits seit etwa 2 1/2 Jahren auf freiem Fuß; für diese Zeit wurde ihm von den Strafgerichten eine positive Entwicklung bescheinigt. Eine vergleichbare "Bewährungszeit" war im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

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