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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 07.09.2004
Aktenzeichen: 2 R 240/04
Rechtsgebiete: VwGO, EGBGB
Vorschriften:
VwGO § 42 II | |
VwGO § 47 II 1 | |
VwGO § 47 VI | |
VwGO § 80 V | |
EGBGB Art. 233 § 10 |
2. § 47 Abs. 6 VwGO verlangt regelmäßig eine Abwägungsentscheidung.
3. Geräuschreflexionen durch eine etwa 100 m entfernte Bundesstraße werden im Allgemeinen nicht ins Gewicht fallen.
4. Der "Separationsinteressent" kann nicht verhindern, dass die Gemeinde - im mutmaßlichen Interesse aller Beteiligten handelnd - eine Fläche zu Bauzwecken zur Verfügung stellt.
OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS
Aktenz.: 2 R 240/04
Datum: 07.09.2004
Gründe:
I.
Der Antragsteller ist Eigentümer einer an sein Wohngrundstück angrenzenden landwirtschaftlichen Nutzfläche (...). Mit seinem Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO begehrt er die Außervollzugsetzung eines Vorhaben- und Erschließungsplans zur Errichtung einer Lagerhalle auf dem Nachbargrundstück (...). Zur Begründung trägt er vor, die Antragsgegnerin habe bei der Abwägung des vorhabenbezogenen Bebauungsplans nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt, dass die geplante Lagerhalle Rückschallemissionen der nahegelegenen Bundesstraße ... sowie ein erhöhtes Aufkommen an Niederschlagswasser auf seinem Grundstück verursache, die Zuwegung zu der Lagerhalle und die sonstige Erschließung nicht gesichert sei und dass die Antragsgegnerin dem Vorhabenträger zu Unrecht eine Separationsfläche im Sinne des Art. 233 § 10 EGBGB als Grünausgleichsfläche zur Verfügung gestellt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Er ist zwar gemäß § 47 Abs. 6 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere fehlt dem Antragsteller entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht bereits deshalb das Rechtsschutzinteresse für seinen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO, weil er sich gegen die geplante Lagerhalle als Grundstücksnachbar auch dadurch zur Wehr setzen kann, dass er die vor ihrer Errichtung zu erteilende Baugenehmigung anficht und insoweit gemäß §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO um einstweiligen Rechtsschutz nachsucht; denn die Möglichkeit, sich im Wege eines derartigen Individualrechtsschutzes gegen eine Baugenehmigung zu wenden, schließt die Rechtsschutzmöglichkeit des § 47 Abs. 6 VwGO gegenüber dem der Baugenehmigung zu Grunde liegenden Bebauungsplan nicht aus. Dies lässt sich bereits damit begründen, dass die beiden Rechtsschutzformen unterschiedliche Streitgegenstände mit einem jeweils unterschiedlichen gerichtlichen Prüfungsprogramm betreffen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 28.07.1999 - 1 NE 99.813 -, NVwZ-RR 2000, 416; NdsOVG, Beschl. v. 30.08.2001 - 1 MN 2456/01 -, NVwZ 2002, 109, jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). So kann ein Antragsteller beispielsweise zwar durch einen mit Abwägungsmängeln im Sinne des § 1 Abs. 6 BauGB behafteten Bebauungsplan, nicht aber zugleich durch die auf ihm beruhende(n) Baugenehmigung(en) rechtlich betroffen sein, mit der Folge, dass er zwar für einen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO, nicht aber für einen solchen nach §§ 80 Abs. 5, 80 a VwGO antragsbefugt ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 47 RdNr. 149, mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Das mithin für einen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO auch mit Blick auf die Möglichkeit des Individualrechtsschutzes nach §§ 80 Abs. 5; 80a VwGO grundsätzlich zu bejahende Rechtsschutzinteresse ist zwar im Einzelfall beispielsweise dann zu verneinen, wenn auf der Grundlage des Bebauungsplans, der vorläufig außer Vollzug gesetzt werden soll, bereits eine Baugenehmigung erteilt worden ist; denn eine solche bereits erteilte Baugenehmigung bleibt von der späteren Außervollzugsetzung des Bebauungsplans unberührt (vgl. BayVGH, Beschl. v. 28.07.1999 - 1 NE 99.813 -, a.a.O.; OVG NW, Beschl. v. 09.12. 1996 - 11a B 1710/96.NE -, NVwZ 1997, 1006). Ein derartiger Fall ist hier aber nicht gegeben; denn für die geplante Lagerhalle ist bislang zumindest nach Aktenlage keine Baugenehmigung erteilt worden.
Der Antrag ist aber nicht begründet.
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen geboten ist. Bei einer einstweiligen Anordnung nach dieser Vorschrift haben Gründe, welche der Antragsteller für die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Rechtsnorm anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (BVerfG, Beschl. v. 24.07.1957 - 1 BvL 23/52 -, BVerfGE 7, 89 [104], zu einer vergleichbaren Rechtslage), es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet (OVG LSA, Beschl. v. 02.02.2002 - 2 R 878/03 -). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Normenkontrolle aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrolle aber der Erfolg zu versagen wäre (LVerfG LSA, Beschl. v. 24.07.2001 - LVG 10/01 -, zu einer vergleichbaren Rechtslage). Wenn der Normenkontrollantrag mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird und wenn durch den Vollzug der Rechtsnorm vollendete, nach Lage der Dinge nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen werden, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung hingegen aus wichtigen Gründen geboten.
In dem hier zu beurteilenden Verfahren wird der von der Antragstellerin bereits gestellte Normenkontrollantrag in der Hauptsache (- 2 K 230/04 -) mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben.
Der angefochtene Vorhaben- und Erschließungsplan leidet aller Voraussicht nach nicht unter den geltend gemachten Abwägungsfehlern im Sinne des § 1 Abs. 6 BauGB.
Der Antragsteller rügt insoweit insbesondere ohne Erfolg, die Antragsgegnerin habe bei ihrer Abwägung nicht hinreichend berücksichtigt, dass von der geplanten Lagerhalle "Rückschallemissionen" durch die nahegelegene Bundesstraße ... ausgehen und die Halle das Aufkommen an Niederschlagswasser auf seinem Grundstück vergrößern werde. Die Antragsgegnerin hat diese Belange in ihre Abwägung eingestellt, ihnen aber kein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die von dem Antragsteller befürchteten Geräuschreflexionen dürften bei einer Entfernung der Bundesstraße von etwa 100 m aller Voraussicht nach äußerst gering sein. Gleiches gilt für die Auswirkungen hinsichtlich des Oberflächenwassers. Abgesehen davon sind aufgrund der geltend gemachten negativen Auswirkungen des Vorhabens auf das Grundstück des Antragstellers "schwere Nachteile" im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO auch deshalb nicht zu befürchten, weil der Vollzug des angefochtenen Vorhaben- und Erschließungsplans, d. h. die Erteilung der Baugenehmigung für das Vorhaben, insoweit noch keine vollendeten Tatsachen schafft. Der Antragsteller hat nämlich als Nachbar insoweit die Möglichkeit, sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a VwGO) gegen eine etwaige Baugenehmigung zu wenden. Dies beseitigt zwar - wie dargelegt - nicht das Rechtsschutzinteresse für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO, steht aber regelmäßig der Annahme eines "schweren Nachteils" im Sinne dieser Bestimmung entgegen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 11.02.1977 - III 88/77 -, NJW 1977, 1212, v. 18.07.1996 - 8 S 1911/96 -, DÖV 1997, 556 und v. 18.02.1997 - 3 S 3419/96 -, DÖV 1997, 1056).
Soweit sich die Einwände des Antragstellers auf das Fehlen einer hinreichenden wegemäßigen und sonstigen Erschließung des Vorhabengrundstücks beziehen, bleibt er hiermit ebenfalls ohne Erfolg. Der angefochtene vorhabenbezogene Bebauungsplan sieht eine Erschließung des Baugrundstücks (...) über das hieran angrenzende, straßenseitige und ebenfalls im Eigentum des Vorhabenträgers stehende Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung ... vor. Angesichts dessen ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Abwägung eine mangelhafte Erschließung und darauf beruhende negative Auswirkungen auf das Grundstück des Antragstellers verneint hat.
Die Abwägung der Antragsgegnerin im Sinne des § 1 Abs. 6 BauGB ist entgegen der Ansicht des Antragstellers auch nicht deshalb fehlerhaft, weil sie dem Vorhabenträger gemäß § 1 Nr. 2 des Durchführungsvertrages vom 04.08.2003 das 1.600 m² große Grundstück ... für die Vornahme von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Verfügung gestellt hat. Auch wenn es sich bei diesem Grundstück - wie der Antragsteller geltend macht - um eine "Separationsfläche" im Sinne des Art. 233 § 10 EGBGB handelt, an der unter anderem er - der Antragsteller - als Separationsinteressent beteiligt ist, fehlte es insoweit nicht an der Befugnis der Antragsgegnerin, dem Vorhabenträger das genannte Grundstück zu überlassen. Nach Art. 233 § 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EGBGB ist die Gemeinde in den Fällen, in denen ein dingliches Recht an einem Grundstück - wie hier - einem Personenzusammenschluss zusteht, dessen Mitglieder nicht namentlich im Grundbuch aufgeführt sind, grundsätzlich gesetzliche Vertreterin des Personenzusammenschlusses und insoweit auch zur Verfügung über das Grundstück befugt. Nach Art. 233 § 10 Abs. 2 Satz 3 EGBGB übt die Gemeinde die Vertretung des Personenzusammenschlusses so aus, wie es dem mutmaßlichen Willen der Mitglieder unter Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit entspricht. Dafür, dass diese materiellen Voraussetzungen für eine Verfügungsbefugnis der Antragsgegnerin im vorliegenden Falle nicht vorliegen, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Allein der Umstand, dass die Antragsgegnerin das Grundstück im Sinne des Art. 233 § 10 EGBGB für eine Ausgleichsmaßnahme zugunsten des streitgegenständlichen Plangrundstücks überließ, dessen Bebauung der Antragsteller verhindern will, steht jedenfalls der Annahme nicht entgegen, dass sie hierbei gleichwohl "dem mutmaßlichen Willen der Mitglieder unter Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit" entsprochen hat. Der Sinn und Zweck des Art. 233 § 10 EGBGB besteht darin, auch solche Grundstücke im Einigungsgebiet verfügbar zu machen, die im Eigentum altrechtlicher Personenzusammenschlüsse stehen, deren Organe nicht mehr handlungsfähig sind, weil die sie tragenden Personen verstorben sind und Nachfolgeregelungen nicht getroffen wurden (vgl. Rauscher, in: Staudinger, BGB, 12. Aufl., Art. 233 § 10 EGBGB, RdNr. 1; Quack, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 11, 3. Aufl., Art. 233 § 10 EGBGB, RdNr. 1; Hartmann, in: Soergel, BGB, Bd. 10, 12. Aufl., Art. 233 EGBGB § 10 RdNr. 81). Soweit die hierfür in Art. 233 § 10 EGBGB vorgesehene Notgeschäftsführung der Gemeinde gemäß Art. 233 § 10 Abs. 2 Satz 3 EGBGB an den "mutmaßlichen Willen der Mitglieder" anknüpft, kommt es in erster Linie auf den Willen des (nicht mehr handlungsfähigen) zuständigen Organs an (Quack, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 11, 3. Aufl., Art. 233 § 10 EGBGB, RdNr. 5). Diesem entsprechen im Zweifel nicht die Sonderinteressen einzelner Mitglieder wie hier des Antragstellers, sondern der mutmaßliche Wille der Mitgliedermehrheit. Dafür, dass die streitgegenständliche Verfügung einem solchermaßen ermittelten Willen widerspricht, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Hinsichtlich der Streitwertfestsetzung wird auf die §§ 13 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. d. Bek. v. 15.12.1975 (BGBl I 3047) - GKG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.03.2003 (BGBl I 345 [349]), und den Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom 07./08. Juli 2004 (zur Veröffentlichung vorgesehen) verwiesen. Dieser sieht unter Nr. 9.8.1 für Normenkontrollen von Privatpersonen gegen einen Bebauungsplan einen Wert von 7.500,- € bis 60.000,- € vor. Der Senat geht hierbei unter Berücksichtigung des Umfangs und der Bedeutung des streitgegenständlichen Vorhaben- und Erschließungsplans von einem Wert von 15.000,- € aus. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren war dieser Wert in Anwendung von Nr. 1.5 des Streitwertkataloges zu halbieren.
Ende der Entscheidung
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