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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 24.11.2008
Aktenzeichen: 3 M 558/08
Rechtsgebiete: LSA-Verf, SchulG, VersetzVO


Vorschriften:

LSA-Verf § 79 Abs. 1 S. 3
SchulG § 5 Abs. 2 S. 3
SchulG § 5 Abs. 9 Nr. 2
VersetzVO § 6 Abs. 1
§ 6 Abs. 1 der Versetzungsverordnung vom 12.07.2004 (GVBl. LSA, S. 392) zuletzt geändert durch VO vom 02.08.2005 (GVBl. LSA, S. 494) erweist sich wegen Missachtung des Zitiergebots des Art. 79 Abs. 1 Satz 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt als verfassungswidrig und entfaltet im Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten keine Rechtswirkung.
Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin, die sich gegen die Versagung der begehrten einstweiligen Anordnung, nicht aber gegen die Prozesskostenhilfeentscheidung und die Festsetzung des Streitwertes richtet, hat in der Sache Erfolg.

Dabei lässt der Senat dahingestellt, ob das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin, insbesondere in Bezug auf den Parlamentsvorbehalt und den fehlenden Maßstab für die Einstufungsentscheidung gem. § 5 Abs. 2 Satz 3 SchulG LSA durchzugreifen vermag. Denn auch wenn § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO regelt, dass das Oberverwaltungsgericht in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur die vom Beschwerdeführer dargelegten Gründe prüft, ist das Gericht aufgrund der ihm obliegenden Verpflichtung, durch eine in der Sache richtige Entscheidung effizienten Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 4 GG) jedenfalls nicht gehindert, auch andere entscheidungserhebliche Gründe zu berücksichtigen, wenn sie ohne weiteres zu ersehen sind. Der Sinn des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO liegt darin, dass das Gericht nicht von sich aus in eine zu einer Verzögerung des Beschwerdeverfahrens führenden umfassenden Überprüfung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzentscheidung eintreten soll, wenn die Beschwerdebegründung hierfür keinen Anlass bietet. Diese ratio greift aber nicht in den Fällen ein, in denen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung ohne weiteres erkennbar ("evident") ist und es damit keiner weiteren gerichtlichen Nachprüfung bedarf, um deren Unrichtigkeit festzustellen (so Hess. VGH, Beschl. v. 18.01.2006 - 5 TG 1493/05 - NVwZ-RR 2006, 846). Letzteres ist hier der Fall.

Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 SchulG LSA ist die Einstufung in die abschlussbezogenen Klassen oder Kurse am Ende des 6. Schuljahrganges (der Sekundarschule) von der Erfüllung bestimmter Leistungsvoraussetzungen abhängig. § 6 Abs. 1 der Versetzungsverordnung (VersetzVO) vom 12. Juli 2004 (GVBl. LSA, S. 392), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. August 2005 (GVBl. LSA, S. 494) regelt diese Leistungsvoraussetzungen für den auf den Realschulabschluss bezogenen Unterricht. Die vorgenannte Regelung der Versetzungsverordnung erweist sich indes wegen Missachtung des Zitiergebotes des Art. 79 Abs. 1 Satz 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt als verfassungswidrig und entfaltet danach im Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten ("inter partes") keine Rechtswirkung (vgl. Fehling/Kastner/Wahrendorf, Hrsg., Nomos-Kommentar, § 47 VwGO, Rdnr. 4). Ein Rückgriff auf ältere Fassungen der Versetzungsverordnung (z. B. aus dem Jahre 1999 und 2000) scheidet bereits aufgrund der Novellierung des § 5 SchulG LSA durch das 8. Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt vom 27. Februar 2003 (GVBl. LSA, S. 42) aus.

Gemäß Art. 79 Abs. 1 Satz 3 der Verfassung LSA ist die Rechtsgrundlage in der Rechtsverordnung anzugeben. Art. 80 Abs. 1 GG, dessen unmittelbare Anwendung auf die Landesgesetzgebung und im Rang darunter stehender Rechtsvorschriften - wie hier - zwar ausscheidet, der aber einen aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem folgenden Grundsatz enthält, der auch für die Landesgesetzgebung bzw. Verordnungsgebung verbindlich ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981 - 1 BvR 640/80 - BVerfGE 58, 257), enthält in Satz 3 eine entsprechende Regelung. Hinsichtlich der Anforderungen an das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 6. Juli 1999 (- 2 BvF 3/90 - BVerfGE 101, 1) ausgeführt:

"Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG ist in einer bundesrechtlichen Verordnung deren Rechtsgrundlage anzugeben. Das erfordert, dass nicht nur das ermächtigende Gesetz als solches, sondern die ermächtigende Einzelvorschrift aus diesem Gesetz in der Verordnung genannt wird. Will der Verordnungsgeber nach seinem erkennbar geäußerten Willen von mehreren Ermächtigungsgrundlagen Gebrauch machen, so muss er diese vollständig in der Verordnung angeben.

1. Im gewaltenteilenden System des Grundgesetzes dient das Zitiergebot dem Zweck, die Delegation von Rechtssetzungskompetenz auf die Exekutive in ihren gesetzlichen Grundlagen verständlich und kontrollierbar zu machen.

Nach der rechtsstaatlichen-demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes bedarf die Rechtssetzung durch die Exekutive einer besonderen Ermächtigung durch die Legislative. Art. 80 Abs. 1 GG legt fest, welchen Anforderungen solche Ermächtigungen und die auf ihrer Grundlage erlassenen Verordnungen genügen müssen.

Das Zitiergebot des Art. 80 Abs.1 Satz 3 GG soll nicht nur die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage kenntlich und damit auffindbar machen. Es soll auch die Feststellung ermöglichen, ob der Verordnungsgeber beim Erlass der Regelungen von einer gesetzlichen Ermächtigung überhaupt Gebrauch machen wollte...Die Exekutive muss durch Angabe ihrer Ermächtigungsgrundlage sich selbst des ihr aufgegebenen Normsetzungsprogramms vergewissern und hat sich auf dieses zu beschränken. Es kommt daher nicht nur darauf an, ob sie sich überhaupt im Rahmen der delegierten Rechtssetzungsgewalt bewegt, vielmehr muss sich die in Anspruch genommene Rechtssetzungsbefugnis gerade aus den von ihr selbst angeführten Vorschriften ergeben...

Außerdem dient Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG der Offenlegung des Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Adressaten der Verordnung. Das soll ihm die Kontrolle ermöglichen, ob die Verordnung mit dem ermächtigenden Gesetz übereinstimmt. Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG statuiert insoweit ein rechtsstaatliches Formerfordernis, das die Prüfung erleichtern soll, ob sich der Verordnungsgeber beim Erlass der Verordnung im Rahmen der ihm erteilten Ermächtigung gehalten hat...

2. Hiervon ausgehend muss eine Verordnung, die auf mehreren Ermächtigungsgrundlagen beruht, diese vollständig zitieren und bei inhaltlicher Überschneidung mehrerer Ermächtigungsgrundlagen diese gemeinsam angeben. Allerdings muss nicht zu jeder Bestimmung der Verordnung im Einzelnen angegeben werden, auf welcher der Ermächtigungen sie beruht...

3. Das Zitiergebot erfordert vor allem, dass die einzelne Vorschrift des Gesetzes genannt wird, in welcher die Ermächtigung enthalten ist. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Adressaten einer Verordnung deren Rechtsgrundlagen erkennen und ihre Einhaltung durch den Verordnungsgeber nachprüfen können...

4. Eine Missachtung des Zitiergebots verletzt ein "unerlässliches Element des demokratischen Rechtsstaates"... Ein solcher Mangel führt deshalb zur Nichtigkeit der Verordnung..."

Hieran gemessen wird die Versetzungsverordnung den vorgenannten Anforderungen hinsichtlich der Angabe der Rechtsgrundlage jedenfalls insoweit nicht gerecht, als § 5 Abs. 9 Nr. 2 SchulG LSA die oberste Schulbehörde ermächtigt, durch Verordnung die Leistungsvoraussetzungen für die Einstufung in die abschlussbezogenen Klassen oder Kurse sowie für die Umstufungen zwischen den Klassen oder Kursen zu regeln. Die Versetzungsverordnung nennt als Ermächtigungsgrundlage in ihrem Vorspruch lediglich § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 i. V. m. § 82 Abs. 3 des SchulG LSA (Verordnung v. 12.07.2004) bzw. § 4 Abs. 3 Satz 3 und § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 i. V. m. § 82 Abs. 2 des SchulG LSA (Verordnung v. 02.08.2005), nicht aber die Ermächtigungsnorm des § 5 Abs. 9 Nr. 2 SchulG LSA. Da der Verordnungsgeber nicht frei ist, von mehreren Ermächtigungsgrundlagen auf denen die Verordnung beruht, nur eine zu benennen, kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob auch die im Vorspruch genannten Ermächtigungsgrundlagen die Exekutive zur Regelung der Leistungsvoraussetzungen für die Einstufung in die abschlussbezogenen Klassen oder Kurse gem. § 5 Abs. 2 Satz 3 SchulG LSA ermächtigen. Ohne Angabe der in § 5 Abs. 9 Nr. 2 SchulG LSA normierten Ermächtigungsgrundlage weist der Verordnungsgeber seine Rechtssetzungsbefugnis nicht (vollständig) nach. Er verhindert oder erschwert damit auch die Kontrolle, ob die Grenzen seiner Rechtssetzungsmacht gewahrt sind.

Fehlt es hiernach an einer wirksamen Regelung der Leistungsvoraussetzungen für die Einstufungsentscheidung i. S. des § 5 Abs. 2 Satz 3 SchulG LSA, hat dies indes nicht zur Folge, dass der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch für den begehrten vorläufigen Besuch des auf den Realschulabschluss bezogenen Unterrichts abzusprechen ist. Im Schulverhältnis spielt die Grundrechtsrelevanz eine erhebliche Rolle und berührt u. a. das Persönlichkeitsrecht des Kindes gem. Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 58, 257; BVerwGE 56, 155). Unbeschadet der Frage, ob auch der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berührt wird, ist die streitgegenständliche Einstufungsentscheidung jedenfalls geeignet, die Antragstellerin in ihrem Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit und damit ihrer Anlagen und Befähigungen zu behindern, das nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch Elemente eines Rechts auf Bildung enthält (vgl. BVerwGE 56, 155 unter Verweis auf BVerwGE 47, 201 zur Nichtversetzung). Die Einstufungsentscheidung kann wesentlichen Einfluss auf den weiteren Bildungsgang der Antragstellerin haben, deren Lebenschancen und Berufschancen dadurch maßgeblich beeinträchtigt werden können.

Mit Blick auf diese Grundrechtsrelevanz ist es bei einer - wie hier - unwirksamen Regelung über die Leistungsvoraussetzungen der Einstufungsentscheidung Sache des Gerichts, im Rahmen einer Notkompetenz die äußersten Grenzen der Leistungsanforderungen zu bestimmen (vgl. Thür. OVG, Beschl. v. 22.10.1996 - 1 EO 539/96 - LKV 1997, 291; Sächs. OVG, Beschl. v. 10.11.1992 - 2 S 228/92 - SächsVBl. 1993, 42). Diese dürften darin bestehen, dass der Schüler das Bildungsziel des von ihm bzw. seinen Eltern gewählten Schulabschlusses - hier des Realschulabschlusses - erreichen kann. Soweit die Abschlussverordnung - Sekundarstufe I vom 17. Dezember 2001 (GVBl. LSA, S. 607), zuletzt geändert durch die 2. Verordnung zur Änderung der Abschlussverordnung - Sekundarstufe I vom 18. Dezember 2003 (GVBl. LSA, S. 376) im Wesentlichen ausreichende, teilweise befriedigende Leistungen verlangt (vgl. § 5 Abs. 2, 3 der Abschlussverordnung - Sekundarstufe I), sieht der Senat angesichts der Noten der Antragstellerin im Jahreszeugnis 2007/2008 (vgl. Bl. 15 d. Beiakte A), das lediglich in den Fächern Mathematik und Englisch ausreichende Leistungen, ansonsten befriedigende und bessere Leistungen ausweist, keinen Anhalt für die Annahme, dass die Antragstellerin die Mindestanforderungen für einen Realschulabschluss nicht zu erreichen vermag.

Soweit die Notkompetenz des Gerichts auch die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der auf den Realschulabschluss bezogenen Klassen oder Kurse der Sekundarschule zu berücksichtigen hat, erscheint diese vorliegend nicht in Frage gestellt und rechtfertigt nicht die Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm des § 6 Abs. 1 VersetzVO für eine Übergangszeit, um dem Verordnungsgeber Gelegenheit zu einer rechtsförmigen Regelung zu geben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die vorliegende Entscheidung nicht nur eine vorläufige Regelung trifft, sondern - soweit ersichtlich - bislang auch Einzelfallcharakter hat. Es ist nicht ersichtlich, dass durch die vorläufige Teilnahme der Antragstellerin am Unterricht der auf den Realschulabschluss bezogenen Klassen oder Kurse der Aus- und Fortbildungsanspruch der Mitschüler in beträchtlichem Umfang verletzt oder die geordnete Weiterführung eines funktionsfähigen Anstaltsbetriebes gefährdet wird. Die Verfassungswidrigkeit des § 6 Abs. 1 VersetzVO (in der hier anzuwendenden Fassung) kann zudem künftig nur noch im Einzelfall im Wege einer Inzidentprüfung durch die Fachgerichte festgestellt werden, weil einer prinzipalen abstrakten Normenkontrolle (gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 10 AG VwGO LSA) die zweijährige Antragsfrist der §§ 47 Abs. 2 Satz 1, 195 Abs. 7 VwGO (für vor dem 1. Januar 2007 bekannt gemachte Rechtsvorschriften) entgegensteht.

Im Übrigen bleibt eine verfassungswidrige Regelung innerhalb einer Übergangsfrist nicht ohne weiteres so anwendbar, als sei sie verfassungsrechtlich unbedenklich. Bis zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber reduzieren sich vielmehr die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was "im konkreten Fall für die geordnete Weiterführung eines funktionsfähigen Betriebs unerlässlich ist". Dabei muss insbesondere geprüft werden, ob nicht auch schonendere Maßnahmen ausreichen, die Funktionsfähigkeit sicherzustellen (so BVerfGE 58, 257).

Geht man von diesen Grundsätzen aus, besteht für den Senat kein Anhalt für die Annahme, dass der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch versagt werden müsste, weil dies für einen funktionsfähigen Schulbetrieb der Antragsgegnerin unerlässlich wäre. Die Antragstellerin erweist sich zur Mitarbeit an den auf den Realschulabschluss bezogenen Klassen oder Kursen nicht in einer Weise ungeeignet, dass sie hiervon zur Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben der Schulen und zum Schutz der Rechte der anderen Schüler auszuschließen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, 52 Abs. 2, 47 Abs. 1 Satz 1 GKG, wobei der Senat eine Reduzierung des Streitwertes für das vorläufige Rechtsschutzverfahren im Hinblick auf die faktische Vorwegnahme der Hauptsache nicht als angemessen erachtet (vgl. Ziff. 38.4 i. V. m. Ziff. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit v. 07./08. Juli 2004, NVwZ 2004, 1327 f.).

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG.

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