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Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 06.10.2009
Aktenzeichen: 3 A 106/09
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 81b |
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss
Az.: 3 A 106/09
In der Verwaltungsrechtssache
wegen erkennungsdienstlicher Behandlung
hier: Antrag auf Zulassung der Berufung
hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Freiherr von Welck, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald und den Richter am Verwaltungsgericht Jenkis
am 6. Oktober 2009
beschlossen:
Tenor:
Der Antrag des Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 18. Dezember 2008 - 3 K 1098/07 - zuzulassen, wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der von ihm geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
Die Darlegung ernstlicher Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert, dass der Antrag einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten so in Frage stellt, dass der Ausgang des Berufungsverfahrens zumindest als ungewiss zu beurteilen ist. Die Antragsbegründung muss sich mit den Argumenten, die das Verwaltungsgericht für die angegriffene Rechtsauffassung oder Sachverhaltsfeststellung und -würdigung angeführt hat, inhaltlich auseinandersetzen und aufzeigen, warum sie aus Sicht des Rechtsmittelführers nicht tragfähig sind (vgl. jüngst SächsOVG, Beschl. v. 15.12.2008 - 3 B 352/06 -; std. Rspr.).
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht Leipzig den Bescheid des Beklagten vom 22.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.10.2007 aufgehoben, weil die Voraussetzungen für die Durchführung präventiv-polizeilicher erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b StPO nicht vorlägen. Es seien keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte ersichtlich, die im Rahmen der zu treffenden Prognoseentscheidung des Beklagten die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger in Zukunft strafrechtlich in einer Weise in Erscheinung treten werde, die die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. StPO begründen könnte. Der Beklagte habe im Rahmen der zu treffenden Entscheidung Art und Schwere der dem Kläger zu Last gelegten Taten nicht ausreichend gewürdigt. Darüber hinaus habe der Beklagte im Rahmen seiner Prognoseentscheidung mit Blick auf künftig zu erwartende Straftaten die Persönlichkeit des Klägers nicht zutreffend gewürdigt.
Das hiergegen gerichtete Vorbringen des Beklagten ist nicht geeignet, die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung in Frage zu stellen.
Gemäß § 81b 2. Alt. StPO dürfen, sofern es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen sowie Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden. Da der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Maßnahmen Beschuldigter eines gerichtlichen Verfahrens war, ist insoweit nicht auf die landesrechtliche Regelung des § 20 SächsPolG abzustellen, auch wenn der Kläger im Verlauf des Verwaltungsverfahrens durch Abschluss des Verfahrens vor dem Strafgericht seine Eigenschaft als Beschuldigter verloren hat (BayVGH, Beschl. v. 17.11.2008 - 10 C 08.2872 -, zitiert nach juris; BVerwG, Urt. v. 23.11.2005, NJW 2006, 1225). Die hiernach möglichen Maßnahmen können allerdings nur angeordnet werden, wenn sie notwendig sind. Dies bemisst sich danach, ob der Sachverhalt, der anlässlich des gegen den Beschuldigten gerichteten Strafverfahrens festgestellt wurde, nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Beschuldigte in den Kreis Verdächtiger einer noch aufzuklärenden anderen strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen - den Beschuldigten letztlich überführend oder entlastend - fördern könnten.
Bei der nach kriminalistischer Erfahrung anzustellenden Prognoseentscheidung, deren gerichtliche Kontrolle sich lediglich darauf beschränkt, ob die Prognose auf zutreffender Tatsachengrundlage beruht und ob sie nach gegebenem Erkenntnisstand unter Einbeziehung des kriminalistischen Erfahrungswissens sachgerecht und vertretbar ist (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 13.3.2009 - 3 B 34/09 -, zitiert nach juris), sind alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Art, Schwere und Begehungsweise der dem Beschuldigten zu Last gelegten Straftaten, seine Persönlichkeit und der Zeitraum, während dessen er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist, als Anhaltspunkte für die Annahme heranzuziehen, ob der Beschuldigte künftig oder gegenwärtig mit guten Gründen in den Kreis Verdächtiger einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden darf. Die Anforderungen an die zu treffende Prognoseentscheidung, insbesondere an die hierbei zu beachtende Wiederholungsgefahr, sind um so geringer, je höherwertiger das gefährdete Rechtsgut ist (BayVGH, Beschl. v. 17.11.2008 - 10 C 08/2872 -, zitiert nach juris). Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der präventive Charakter der erkennungsdienstlichen Maßnahmen verlangen ferner eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und dem Interesse des Beschuldigten, nicht als potenzieller erneuter Rechtsbrecher behandelt zu werden (BVerwG, a. a. O.; NdsOVG, v. 20.11.2008 - 11 ME 297/08 -, zitiert nach juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Leipzig nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat hierzu darauf hingewiesen, dass die Einschätzungsprärogative der Wiederholungsgefahr der Polizei obliege; dabei bildeten die kriminalistischen Erfahrungen den Maßstab und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Grenze der Prognose. Eine Maßnahme sei auch zulässig, wenn der Beschuldigte zum ersten Mal in Erscheinung getreten sei, sofern dies unter den Gesichtpunkten des Einzelfalls durch die konkrete Einschätzung gerechtfertigt erscheine. Nur bei einem offensichtlichen Fehlen einer Wiederholungsgefahr sei die erkennungsdienstliche Maßnahme unzulässig. Hiervon sei vorliegend nicht auszugehen. Die Wiederholungsgefahr bei einem Betäubungsmitteldelikt, insbesondere bei den hier konsumierten Betäubungsmitteln Crystal und Extacy, sei wegen des darin zu Tage tretenden Suchtpotenzials vielmehr besonders hoch. Auch die vom Verwaltungsgericht Leipzig angenommene positive Sozialprognose sei fraglich. Zwar treffe es zu, dass diese für den Kläger günstigen Gesichtspunkte nicht im Rahmen des Strafverfahrens veranlasst und ihm nicht gezwungenermaßen aufgelegt worden seien; es bestünden jedoch erhebliche Zweifel an der Ernstlichkeit des Gesinnungswandels, da die vom Kläger eingegangenen Verpflichtungen in zeitlicher Nähe zum Verhandlungstermin vor dem Strafgericht gestanden hätten und daher eher auf prozesstaktische Erwägungen des Klägers schließen ließen als auf dessen Absicht, "sein Leben in den Griff zu bekommen". Im Übrigen lägen zwischen der mündlichen Verhandlung der Strafsache und dem Erlass des Widerspruchsbescheids nur unwesentlich mehr als drei Monate. Dieser relativ kurze Zeitraum lasse keine fundierten Schlüsse auf eine sich nach der Ansicht des Verwaltungsgerichts Leipzig bereits bewahrheitende positive Sozialprognose zu. Angesichts der im Strafverfahren festgestellten Reifeverzögerung sei es nicht nachvollziehbar, dass das Verwaltungsgericht Leipzig den Gesinnungswandel als erwiesen erachte. Daher lägen beim Kläger hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass er in Bezug auf Betäubungsmitteldelikte erneut straffällig werden könnte. Die geplanten Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. StPO seien dem Kläger auch unter Abwägung der Schwere des Eingriffs zumutbar.
Mit diesem Vorbringen kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Leipzig allerdings nicht in Frage gestellt werden. Es ist zwar allgemein nicht von der Hand zu weisen, dass eine kriminalpolizeiliche Einschätzung auf die besonderen Suchtgefahren bei Betäubungsmittelkonsum und die daraus folgende erhöhte Wiederholungsgefahr abstellen kann. Auch kann aus dem jugendlichen Alter des Beschuldigten und einer Reifeverzögerung auf eine erhöhte Wiederholungsgefahr geschlossen werden (vgl. hierzu BayVGH, Beschl. v. 15.7.2009 - 10 CS 09.1433 -, zitiert nach juris). Schließlich ist auch gerichtlich anerkannt, dass Betäubungsmitteldelikte wegen ihrer statistisch signifikant erhöhten Rückfallgefahr bereits bei erstmaliger Begehung die Annahme einer Wiederholungsgefahr nahelegen (vgl. OVG Saarland, a. a. O.). Allerdings befreit das den Beklagten nicht von der Pflicht, alle Umstände des Einzelfalls in seine Prognoseentscheidung einzubeziehen. In diesem Zusammenhang hat Berücksichtigung zu finden, dass der Kläger zum für die Beurteilung insofern maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Leipzig (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.10.1982, BVerwGE 66, 192; SächsOVG, Beschl. v. 6.1.2009 - 3 D 12/08 -) seit längerem einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist, mit professioneller Unterstützung keine Betäubungsmittel mehr zu sich genommen und augenscheinlich auch keinen Kontakt zu dem entsprechenden Milieu mehr gepflegt hat. Der Hinweis des Beklagten, augenscheinlich sei mit den in Gang gesetzten Resozialisierungsmaßnahmen nur beabsichtigt gewesen, den Ausgang des Verfahrens vor dem Strafgericht im Sinne des Klägers zu beeinflussen, und beruhe eher auf prozesstaktische Erwägungen des Klägers, stellt eine nicht weiter unterlegte Vermutung dar, für die auch angesichts des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraums nichts spricht. Daher ist auch der Hinweis des Verwaltungsgerichts Leipzig nicht zu beanstanden, dass die erfolgreichen Bemühungen des Klägers, sich von Drogen fernzuhalten und ein geregeltes Leben zu führen, durch dessen - im Übrigen nicht weiter unterlegten - "Labilität" in Frage gestellt werden können. Schließlich hatte auch keine hinreichende Würdigung gefunden, dass sich der Kläger mit dem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln einer Straftat schuldig gemacht hat, die nach der Wertung des Gesetzgebers ein geringeres Gefährungspotential aufweist als andere, im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln begangene Straftaten.
Angesichts dessen ist die zusammenfassende Einschätzung des Verwaltungsgerichts Leipzig, die Umstände des Einzelfalls ließen keine auch unter Einbeziehung des kriminalistischen Erfahrungswissen vertretbare Prognose zu, der Kläger werde erneut straffällig werden, nicht zu beanstanden. Angesichts der bisherigen Straftaten des Klägers ist dabei entgegen der Auffassung der Beklagten auch von einer nur theoretisch nicht auszuschließenden, sondern von einer durch die tatsächlichen Gegebenheiten belegbaren Wiederholungsgefahr auszugehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, 2 GKG i. V. m. Nr. 35.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 7./8.7.2004 beschlossenen Änderungen (Streitwertkatalog 2004; abgedruckt in NVwZ 2004, 1327). Hiernach ist der Auffangstreitwert i. H. v. 5.000,00 € anzusetzen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Ende der Entscheidung
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