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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 04.07.2007
Aktenzeichen: 1 Ws 137/07
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 275a Abs. 5 S. 1
StGB § 66b
StGB § 66b Abs. 1
a. Der Unterbringungsbefehl gemäß § 275a Abs. 5 S. 1 StPO setzt den dringenden Verdacht neuer Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB voraus. Daran fehlt es im Falle einer von den Vollzugsbehörden behaupteten, im Vollzug neu hervorgetretenen Psychose des Betroffenen, wenn eine solche Erkrankung sachverständigerseits zwar nicht ausgeschlossen werden kann, aber andere als die im Erkenntnisverfahren bereits bekannten, zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung Anlass gebenden Befundtatsachen nicht sicher festgestellt werden können.

b. Der Unterbringungsbefehl dient nicht der Gewinnung dringender Anhaltspunkte für eine drohende Unterbringung nach § 66b StGB, sondern gesetzt diese voraus. Er darf deshalb nicht erlassen werden, um die grundsätzlich bereits sechs Monate vor dem Ende des Strafvollzugs mit der Antragstellung abzuschließende Prüfung, ob Tatsachen im Sinne des § 66b StGB vorliegen, zu ermöglichen.


SAARLÄNDISCHES OBERLANDESGERICHT BESCHLUSS

1 Ws 137/07

In der Strafsache

wegen Geiselnahme pp. (hier: Beschwerde gegen den Unterbringungsbefehl)

hat der 1. Strafsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts in Saarbrücken am 4. Juli 2007 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Balbier die Richterin am Oberlandesgericht Burmeister den Richter am Oberlandesgericht Wiesen

nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

beschlossen:

Tenor:

1. Auf die (Haft-)Beschwerde des Betroffenen vom 22. Juni 2007 wird der Unterbringungsbefehl der Jugendkammer II des Landgerichts Saarbrücken vom 22. Juni 2007 aufgehoben,

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die in diesem entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Landeskasse.

Gründe:

Das Landgericht Saarbrücken hatte den Betroffenen am 18. November 2002 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Entziehung Minderjähriger und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (angewendete Vorschriften. §§ 239b Abs. 1, 235 Abs. 1, 113 Abs. 1, 52 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und 3 Monaten verurteilt, die seit dem 25. Juni 2007 voll verbüßt ist. Mit am 10. Mai 2007 bei dem Landgericht eingegangener Antragsschrift vom 19. April 2007 begehrt die Staatsanwaltschaft nunmehr die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB. Mit dem angefochtenen Beschluss hat die zuständige Strafkammer gegen den Betroffenen einen Unterbringungsbefehl gemäß § 275a Abs. 5 S. 1 StPO erlassen.

Die zulässige Beschwerde (§§ 304 Abs. 1, 305 S. 2 StPO) des Betroffenen führt zur Aufhebung des Unterbringungsbefehls, denn es sind derzeit keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden, dass gegen den Betroffenen die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird (§ 275a Abs. 5 S. 1 StPO).

1. Zwar genügt die Anlassverurteilung der in § 66b Abs. 2 StGB genannten Voraussetzung einer Vorverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 5 Jahren, obwohl es sich nur bei der Geiselnahme um ein Verbrechen gegen die persönliche Freiheit und damit um eine Katalogtat handelt, während die beiden anderen zur Aburteilung gelangten Delikte keine Katalogtaten i. S. des § 66b Abs. 2 StGB sind. Klarstellender Ausführungen (vgl. Tröndle-Fischer, StGB, 54. A., § 66b Rn. 11a m.w.N.) dazu, auch ohne die Nichtkatalogtaten wäre eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verhängt wurden, bedurfte es vorliegend entgegen der Auffassung des Verteidigers, der von einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ausgeht, schon deshalb nicht, weil die wegen tateinheitlicher Begehung verhängte Einzelstrafe vorliegend bereits dem Regelstrafrahmen des § 239b Abs. 1 StGB entnommen wurde, der eine Mindeststrafe von 5 Jahren ausweist.

2. Nach dem Inhalt der nach Erlass des Unterbringungsbefehls eingegangenen schriftlichen Sachverständigengutachten fehlt es aber derzeit an den erforderlichen gewichtigen, den massiven Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) rechtfertigenden Anhaltspunkten dafür, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird.

Dringende Gründe, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Strafprozessordnung ausnahmsweise die Anordnung vorläufiger, sichernder Maßnahmen rechtfertigen (vgl. §§ 111a Abs. 1, 111b Abs. 3 S. 1, 126a Abs. 1, 132a Abs. 1 S. 1StPO), erfordern nämlich dringenden Tatverdacht i. S. der jeweiligen Vorschrift und einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht die endgültige Maßnahme anordnen wird (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. A., § 126a Rn. 4, § 111a Rn. 2). Vorliegend fehlt es bereits am dringenden Verdacht im Hinblick auf die gemäß § 66b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StGB erforderlichen neuen Tatsachen.

a) Neue Tatsachen i. S. des § 66b Abs. 1 StGB sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind. Demgegenüber können Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren oder die er bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und erforderlichenfalls näher aufklären müssen, im Verfahren nach § 66b StGB keine Berücksichtigung finden (BGHSt 50, 180, 187; 373, 378f.; Tröndle-Fischer, a.a.O., § 66b Rn. 14 ff.). Im Falle psychischer Auffälligkeiten des Verurteilten kommt es dabei nicht darauf an, wann diese Auffälligkeiten erstmals zur Diagnose einer psychischen Störung oder psychiatrischen Erkrankung geführt haben; maßgeblich ist vielmehr, ob die der psychologischen oder medizinischen Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen und bekannt oder zumindest erkennbar waren (BGHSt 50, 275, 278f.; 373, 379, 383; BGH NStZ-RR 2006, 170 und 302; BGH NJW 2007, 1074-1077). Eine erstmalige oder neue Bewertung derartiger Tatsachen stellt selbst keine neue Tatsache im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB dar (BGHR StGB § 66b Neue Tatsachen 3 (Gründe)). Eine bloße Änderung der psychiatrischen Diagnose kann daher nicht als neue Tatsache gelten, wenn sie nicht auf einer neuen tatsächlichen Grundlage - neuen Anknüpfungstatsachen - beruht (BGH NStZ-RR 2006, 172).

Als weitere Voraussetzung für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten und in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (BGH NStZ 2006, 155, 156). In Anbetracht der Schwere des den Betroffenen treffenden Eingriffs, der nach dem Willen des Gesetzgebers restriktiv, auf wenige Einzelfälle beschränkt gehandhabt werden soll (BT-Drucks 15/2887, S. 10, 12f.; BVerfGE 109, 190, 236, 242), müssen neue Tatsachen schon für sich Gewicht haben und auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung der in § 66b genannten Schutzgüter hindeuten. Im Falle der (neuen) psychischen Erkrankung des Betroffenen ist daher zu verlangen, dass diese sich während der Strafhaft in prognoserelevantem Zusammenhang nach außen manifestiert hat (BGHR a.a.O.).

b) Vor diesem Hintergrund ist die dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende Annahme dringenden (Tat-)Verdachts, der Betroffene leide nicht lediglich an der zuvor bereits bekannten, im Anlassurteil vom 18. November 2002 nach sachverständiger Beratung ausdrücklich festgestellten Persönlichkeitsstörung (UA S. 22 sowie das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. R. vom 2. September 2002), sondern an einer erst im Strafvollzug aufgetretenen Psychose und die Auffälligkeiten während des Vollzugs seien Ausdruck dieser Erkrankung und stünden mit der Anlasstat in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang bei der gebotenen vorläufigen Bewertung derzeit nicht gerechtfertigt.

Als neue Tatsache wird in dem angefochtenen Beschluss die ernsthafte diagnostische Überlegung des Sachverständigen Prof. Dr. R2 für eine Geisteskrankheit des Verurteilten und zwar eine solche aus dem psychotischen Bereich mit paranoider Symptomatik bezeichnet. Der Betroffene habe sich zwar von dem Sachverständigen nicht untersuchen lassen, aber bei einem Vorgespräch entsprechende Auffälligkeiten gezeigt.

Unabhängig davon, ob die "diagnostische Überlegung" eines Sachverständigen den vorgenannten Anforderungen überhaupt genügen kann, ist der dringende Verdacht einer im Vollzug neu aufgetretenen Geisteskrankheit bereits deshalb nicht begründ-bar, weil der Sachverständige seine diagnostischen Überlegungen inzwischen nach erneuter Überprüfung erheblich relativiert hat. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 3. Juli 2007 führt Prof. Dr. R2 aus, anlässlich seiner an diesem Tag möglichen Teilnahme an einer 90 Minuten dauernden Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht im Rahmen des dort anhängigen Verfahrens nach dem Saarländischen Unterbringungsgesetz keine psychopathologischen Phänomene gefunden zu haben, die geeignet wären, ohne jeden Zweifel das Vorliegen einer Geisteskrankheit (z.B. Schizophrenie) anzuzeigen. Es blieben zwar gewisse Verdachtsmomente, dass eine derartige Störung vorliegen könnte, indessen fehle es an einer hinreichenden diagnostischen Sicherheit. Zusammenfassend hat er ausgeführt, es sei nicht befriedigend sicher, ob es heute legitim sei, von anderen diagnostischen Voraussetzungen auszugehen als bei der Indexbegutachtung am 2. 8. 2002 durch Prof. R..

Diese Einschätzung deckt sich mit der des weiteren von der Strafkammer bestellten Sachverständigen Prof. Dr. D. in seinem schriftlichen Gutachten vom 22. Juni 2007, eingegangen am 26. Juni 2007. Auch von diesem Sachverständigen hat sich der Betroffene nicht untersuchen lassen, so dass der Sachverständige seine ausdrücklich als vorläufig bezeichneten Überlegungen nur aufgrund der Akten anstellen konnte. Zwar konnte auch Prof. Dr. D. das Vorliegen einer wahnhaften Störung und einer Psychose nicht sicher ausschließen, hat aber ebenfalls keine eindeutig neuen medizinischen Befunde erkennen können, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen hinweisen, die nicht schon bei der Verurteilung bekannt waren (Bl. 448 d.A.).

3. Bei dieser Sachlage war der auf § 275a StPO gestützte Unterbringungsbefehl ungeachtet dessen aufzuheben, dass beide Sachverständige den Betroffenen weiterhin für gefährlich und weitere - ev. im Rahmen einer nach dem Saarländischen Unterbringungsgesetz anzuordnenden Unterbringung - anzustellende Untersuchungen für erforderlich halten. Denn der Unterbringungsbefehl nach § 275a StPO dient nicht der Gewinnung dringender Anhaltspunkte für eine drohende Unterbringung nach § 66b StGB, sondern setzt diese voraus (vgl. OLG Koblenz NStZ 2005, 97).

Er darf daher nicht etwa schon deshalb erlassen oder aufrechterhalten werden, weil sonst die - grundsätzlich bereits sechs Monate vor dem Ende des Strafvollzugs mit der Antragstellung abzuschließende (§ 275a Abs. 1 S. 3 StPO; s.a. Folkers NStZ 2006, 426f.), vorliegend zu spät eingeleitete - Prüfung, ob Tatsachen i.S. des § 66b StGB vorliegen, erschwert oder gar vereitelt würde (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 275a Rn. 16), geschweige denn, um eine solche Prüfung überhaupt erst zu ermöglichen.

Nach dem systematischen Zusammenhang mit der Fristenregelung des § 275a Abs. 1 S. 3 StPO sollte sich der Erlass eines Unterbringungsbefehls nach § 275a Abs. 5 S. 1 StPO nämlich regelmäßig nur dann als notwendig erweisen, wenn sich erst gegen Ende der Strafhaft herausstellt, dass eine nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. Eine solche Fallgestaltung ist vorliegend nicht gegeben.

Der Unterbringungsbefehl war daher mit der Kostenfolge aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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