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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 15.06.2007
Aktenzeichen: 1 W 89/07-19-
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 485 Abs. 2
Auch in Arzthaftungssachen scheidet ein rechtliches Interesse an einer vorprozessualen Beweiserhebung i. S. des § 485 Abs. 2 ZPO über das Vorliegen eines Behandlungsfehlers sowie über die Frage nach der Ursächlichkeit der fehlerhaften Behandlung für eingetretene Gesundheitsschäden und das Ausmaß der Schädigung nicht grundsätzlich aus.
1 W 75/07-18- 1 W 89/07-19-

SAARLÄNDISCHES OBERLANDESGERICHT

BESCHLUSS

In Sachen

wegen Arzthaftung

(hier: sofortige Beschwerden gegen die Ablehnung einer Beweisanordnung im selbständigen Beweisverfahren sowie gegen die Entscheidung über die Kosten des Beweisverfahrens)

hat der 1. Zivilsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Theis sowie die Richterinnen am Oberlandesgericht Dr. Kuhn-Krüger und Fritsch-Scherer am 15. Juni 2007 beschlossen:

Tenor:

I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 8. März 2007, eingelegt am 13. März 2007, wird der Beschluss der 16. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 22. Februar 2007 - Az.: 16 OH 37/06 - dahin abgeändert, dass im selbständigen Beweisverfahren Beweis erhoben werden soll über folgende Fragen:

1. War die von den Antragsgegnern am 23.2.2004 gestellte Diagnose über die Verletzungen, die der Antragsteller bei einem Unfall (Sturz) am 21.2.2004 erlitten hat, fehlerhaft und hätte diese fehlerhafte Diagnose bei sorgfältiger Untersuchung, möglicherweise durch Einschaltung eines Radiologen oder Durchführung einer Kernspintomographie, vermieden werden können?

2. War die an die Diagnose der Antragsgegner anschließende therapeutische Heilbehandlung durch die Antragsgegner fehlerhaft und hätte diese fehlerhafte Behandlung bei sorgfältiger Überprüfung der Diagnose und insbesondere unter Beachtung der vermehrten Schmerzzustände des Antragstellers als fehlerhaft erkannt werden können?

3. Wurden durch eine fehlerhafte Diagnose und/oder fehlerhafte Behandlung seitens der Antragsgegner der Heilbehandlungsverlauf und die Schmerzzustände des Antragstellers negativ beeinflusst; wenn ja: für welchen Zeitraum und mit welcher prozentualen Minderung der Erwerbsfähigkeit?

durch Einholung eines schriftlichen medizinischen Sachverständigengutachtens, von dem Antragsteller beantragt.

Die Auswahl des zu beauftragenden Sachverständigen, dessen evtl. Ermächtigung zur Beiziehung einschlägiger Krankenunterlagen sowie die Bestimmung eines von dem Antragsteller zu entrichtenden Auslagenvorschusses bleiben dem Landgericht vorbehalten.

II. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 14. März 2007 wird der Kostenbeschluss der 16. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 5. März 2007 aufgehoben.

III. Ohne Kostenentscheidung.

Gründe:

A.

Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss vom 22. Februar 2007 ist zulässig.

Gegen Entscheidungen, durch die Anträge auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zurückgewiesen werden, ist nach allgemeiner Auffassung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO gegeben (vgl. Zöller-Herget, ZPO, 25. Aufl., Rdnr. 4 zu § 490 ZPO; Musielak-Huber, ZPO, 5. Aufl., Rdnr. 7 zu § 490 ZPO; Thomas-Putzo/Reichold, ZPO, 26. Aufl., Rdnr. 3 zu § 490 ZPO). Die von dem Antragsteller eingelegte sofortige Beschwerde genügt weiterhin den Zulässigkeitserfordernissen des 3 569 ZPO.

Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg und führt zu der mit ihm nachgesuchten Abänderung des angefochtenen Beschlusses.

Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, die von dem Antragsteller unterbreiteten Beweisfragen zu 1) und zu 2) zielten darauf hin, ob dem ihm behandelnden Arzt ein Behandlungsfehler unterlaufen sei. Diese Beweisfrage sei indessen nach einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens nicht zulässig. Gleiches gelte für die Beweisfrage zu 3), die die Ursächlichkeit eines Behandlungsfehlers für gesundheitliche Beeinträchtigungen zum Gegenstand habe.

Diese Auffassung vermag der erkennende Senat sich nicht anzuschließen. Er sieht im Gegenteil die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines sog. "streitschlichtenden Beweisverfahrens (vgl. zur Terminologie Musielak-Huber a.a.O., Rdnr. 2 zu § 485 ZPO) nach § 485 Abs. 2 ZPO als gegeben an und geht davon aus, dass in Anwendung dieser Vorschrift dem Antrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens im selbständigen Beweisverfahren zu entsprechen ist.

Nach § 485 Abs. 2 Nr. 2 ZPO kann eine Partei, sofern noch kein Rechtsstreit anhängig ist, eine schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran hat, dass die Ursache eines Personenschadens festgestellt wird. Dabei ist der Begriff des rechtlichen Interesses im Sinne der Vorschrift weit zu interpretieren (vgl. Musielak-Huber a.a.O., Rdnr. 13 zu § 485 ZPO; Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 65. Aufl., Rdnr. 8 zu § 485 ZPO; BGH NJW 2004, 3488; OLG Karlsruhe VersR 2003, 375) und jedenfalls dann vom Vorliegen dieser Voraussetzung auszugehen, wenn die beantragte Begutachtung durch einen Sachverständigen der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann (§ 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

Von einer derartigen Sachlage aber ist im vorliegenden Fall auszugehen. Dem Antragsteller geht es um eine sachverständige Abklärung der von ihm aufgeworfenen Beweisfragen, um evtl. Ansprüche aus dem Gesichtspunkt der Arzthaftung hinreichend begründen und belegen zu können. Er geht dabei davon aus, dass durch die von ihm angestrebte Klärung der Beweisfrage ein sonst erforderlicher Rechtsstreit u.U. vermieden werden kann, und zwar auch dann, wenn die Ergebnisse der Begutachtung ihm ungünstig sein sollten. Damit ist hinreichend begründet, dass die beantragte Beweiserhebung im selbständigen Beweisverfahren im vorliegenden Fall § 485 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entspricht.

Allerdings wird verschiedentlich die Auffassung vertreten (vgl. Gehrlein, Grundriss der Arzthaftungspflicht, 2. Aufl., S. 206 f.; OLG Köln MDR 1998, 224 f.; OLG Nürnberg MDR 1997, 501), das selbständige Beweisverfahren sei grundsätzlich ungeeignet, in Arzthaftungssachen das Vorliegen eines Behandlungsfehlers sowie die Frage der Ursächlichkeit der fehlerhaften Behandlung für eingetretene Gesundheitsschäden und das Ausmaß der Schädigung abzuklären; entsprechend fehle in diesen Fällen ein rechtliches Interesse im Sinne des § 485 A bs. 2 ZPO an einer vorprozessualen Beweiserhebung.

Dieser Meinung vermag der Senat sich jedoch nicht anzuschließen. Vielmehr ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH MDR 2003, 590 f. = BGH Rep 2003, 515 f.) sowie mehrerer Oberlandesgerichte (vgl. etwa OLG Koblenz MDR 2002, 352 f.; OLG Düsseldorf NJW 2000, 3438 f.; OLG Düsseldorf MDR 1998, 1241 f.; OLG Saarbrücken NJW 2000, 3439) und mit einer verbreiteten Auffassung in der rechtswissenschaftlichen Literatur (vgl. etwa Zöller-Herget a.a.O., Rdnr. 9 zu § 485 ZPO; Thomas-Putzo/Reichold a.a.O., Rdnr. 7 zu § 485 ZPO) davon auszugehen, dass in Arzthaftungssachen das rechtliche Interesse an einer Beweiserhebung im selbständigen Beweisverfahren nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ohne Einzelfallprüfung verneint werden kann. Der Wortlaut des § 485 Abs. 2 ZPO lässt eine Ausnahme für Ansprüche aus dem Arzthaftungsrecht nicht zu. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts sind nicht gegeben. Weder die Entstehungsgeschichte des § 485 Abs. 2 ZPO, noch sein Sinn und Zweck oder der Gesamtzusammenhang mit der Regelung in § 485 Abs. 1 ZPO sprechen gegen eine generelle Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens bei Arzthaftungsansprüchen. Darüber hinaus ist es gerade der Sinn und Zweck der vorprozessualen Beweiserhebung nach § 485 Abs. 2 ZPO, die Gerichte von Prozessen zu entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer raschen und Kosten sparenden Einigung zu bringen (Zöller-Herget a.a.O., Rdnr. 2 vor § 485 ZPO; Musielak-Huber a.a.O., Rdnr. 2 zu § 485 ZPO). Dies berücksichtigend muss es nahe liegen, auch in Arzthaftungssachen grundsätzlich von der Zulässigkeit eines Verfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO auszugehen, wenn die von der Vorschrift geforderten Voraussetzungen gegeben sind.

Dem steht nicht entgegen, dass die im selbständigen Beweisverfahren zu treffenden Feststellungen nach § 485 Abs. 2 ZPO häufig keine abschließende Entscheidung im späteren Arzthaftpflichtprozess ermöglichen werden, weil sie etwa die Frage eines Verschuldens des Arztes ungeklärt lassen. Dieser Gesichtspunkt kann schon deshalb nicht entscheidend sein, weil die im selbständigen Beweisverfahren zu treffenden Feststellungen zu dem Gesundheitsschaden des Antragstellers und den hierfür maßgeblichen Gründen typischerweise erkennen lassen werden, ob und ggf. in welcher Schwere ein Behandlungsfehler unterlief und inwieweit die geltend gemachten Nachteile eben hierauf zurückzuführen sind. Es spricht im Übrigen nichts dagegen, diese Fragestellungen im Interesse einer sachdienlichen Aufklärung in die Beweisthematik des vorprozessualen Beweisverfahrens einzuschließen.

Ausgehend hiervon muss ein rechtliches Interesse des Antragstellers an der von ihm nachgesuchten Beweiserhebung im selbständigen Beweisverfahren bejaht werden. Die von dem Antragsteller aufgeworfenen Beweisfragen entsprechen im Kern und in ihrem Gesamtzusammenhang § 485 Abs. 2 Nr. 1, 2 ZPO. Sie erscheinen auch bereits im selbständigen Beweisverfahren auf der Grundlage der verfügbaren einschlägigen Behandlungsunterlagen (Krankenblätter, Röntgenaufnahmen etc.) durch einen medizinischen Sachverständigen abklärbar. Darüber hinaus hat der Antragsteller - wie bereits oben erwähnt - dargetan, dass nach der Vorlage des im selbständigen Beweisverfahren zu erstattenden Gutachtens ein Rechtsstreit u.U. vermieden werden könnte.

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist daher die von diesem nachgesuchte Beweisanordnung zu erlassen.

B.

Die sofortige Beschwerde vom 14. März 2007 ist gleichfalls gemäß §§ 567 ff. ZPO zulässig.

Sie führt schon deshalb zur Aufhebung des mit ihr angefochtenen Kostenbeschlusses vom 5. März 2007, weil diesem durch die unter Ziffer I. des Tenors erfolgte Abänderung des Beschlusses vom 22. Februar 2007 die Grundlage entzogen wurde. Das Landgericht hat dem Antragsteller die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens auferlegt, weil seinem Antrag nicht entsprochen wurde. Für diese Kostenbelastung des Antragstellers gemäß § 91 ZPO ist kein Raum mehr, nachdem seinem Antrag zweitinstanzlich entsprochen wurde.

Eine Entscheidung über die erstinstanzlichen Kosten ist bei dem derzeitigen Verfahrensstand nicht veranlasst (vgl. Zöller-Herget a.a.O., Rdnr. 5 zu § 490 ZPO; Thomas-Putzo/Reichold a.a.O., Rdnr. 5 zu § 494 a ZPO).

C.

Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat zu unterbleiben.

Nach allgemeiner Auffassung hat eine Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren nicht zu erfolgen, wenn die erstinstanzlich zu erlassende Entscheidung wie im vorliegenden Fall keine Kostenentscheidung enthalten durfte (vgl. Musielak-Ball a.a.O., Rdnr. 24 zu § 572 ZPO; Thomas-Putzo/Reichold a.a.O., Rdnr. 24 zu § 572 ZPO).



Ende der Entscheidung

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