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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 28.04.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 72/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 35 a
StPO § 44 S. 1
StPO § 473 Abs. 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SAARLÄNDISCHES OBERLANDESGERICHT BESCHLUSS

1 Ws 72/03

Strafsache

gegen ..., geboren am ... wohnhaft: ...

wegen Betruges

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 20, März 2003 gegen den Beschluss der 6. Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 7. März 2003

hat der 1. Strafsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts in Saarbrücken am 28. April 2003 durch

die Richterin am Oberlandesgericht Morgenstern-Profft den Richter am Oberlandesgericht Sittenauer die Richterin am Landgericht Burmeister

nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

beschlossen:

Tenor:

1. Dem Angeklagten wird unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil des Amtsgerichts Homburg vom 28. Oktober 2002 gewährt.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.

Gründe:

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts Homburg vom 28. 10. 2002 wurde der Angeklagte wegen Pfandkehr und Betruges in 3 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach Verkündung des Urteils wurde dem in der Hauptverhandlung anwaltlich nicht vertretenen Angeklagten ausweislich der Sitzungsniederschrift mündlich Rechtsmittelbelehrung erteilt; ein Merkblatt mit einer schriftlichen Rechtsmittelbelehrung wurde ihm nicht ausgehändigt.

Am 12. 11. 2003 legte der Angeklagte durch seinen Verteidiger "Rechtsmittel" gegen das vorgenannte Urteil ein und beantragte zugleich, ihm Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil zu gewähren. Unter Vorlage eines fachärztlichen Attestes vom 19. 8. 2002, in dem eine "hochgradig kombinierte Schwerhörigkeit beidseits" mit beidseitigen Ohrgeräuschen nach zwei Hörstürzen diagnostiziert wird, macht er geltend, er habe zu Beginn der Hauptverhandlung darauf hingewiesen, schwer zu hören. Der Vorsitzende Richter habe diese Mitteilung auch verstanden, denn er habe ihn aufgefordert: "Dann machen sie den Kopf hoch und die Brust raus (bzw. den Oberkörper gerade), dann können sie besser hören".

Die ihm erteilte mündliche Rechtsmittelbelehrung habe er dahin verstanden, dass ein Rechtsmittel erst nach Zustellung des schriftlichen Urteils einzulegen sei und deshalb nichts unternommen. Anlässlich eines am 5. 11. 2002 mit Rechtsanwalt geführten Telefonats habe er erfahren, dass die Rechtsmittelfrist bereits am Vortag abgelaufen sei, weshalb er am 8. 11. 2002 seinen Verteidiger mit der Einlegung des Rechtsmittels und der Stellung des Wiedereinsetzungsantrags beauftragt habe.

Mit Beschluss vom 7. 3. 2003 hat das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet verworfen. Gegen den seinem Verteidiger am 19. 3. 2003 zugestellten Beschluss hat der Angeklagte am 2l. 3. 2003 sofortige Beschwerde eingelegt.

II.

Die statthafte (§ 46 Abs. 3 StPO) und fristgerecht eingelegte (§ 311 Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, denn der Wiedereinsetzungsantrag ist zulässig und begründet.

1. Der Antrag ist innerhalb der Frist von einer Woche nach Wegfall des der Fristwahrung entgegenstehenden Hindernisses - des Irrtums des Angeklagten über den Beginn der Rechtsmittelfrist - bei dem zuständigen Amtsgericht eingegangen (§ 45 Abs. 1 StPO), die den Antrag begründenden Tatsachen sind glaubhaft gemacht (§ 45 Abs. 2 S. 1 StPO), und die versäumte Handlung ist fristgerecht nachgeholt worden (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO).

2. Gemäß § 44 S. 1 StPO ist Wiedereinsetzung wegen der Versäumung einer Frist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten. Das Vorbringen des Angeklagten rechtfertigt die Wiedereinsetzung.

Zwar schreibt § 35 a StPO für Rechtsmittelbelehrungen keine bestimmte Form vor. Es entspricht jedoch ständiger, vom Schrifttum gebilligter höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, dass ein nicht anwaltlich vertretener, rechtsunkundiger Angeklagter ergänzend durch Aushändigung eines Merkblattes zu belehren ist, wenn es sich um eine schwierige Rechtsmittelbelehrung handelt; dies folgt aus der richterlichen Fürsorgepflicht (BVerfG NStZ 1996, 1811; Meyer-Goßner, StPO, 46. A., § 44 Rn m.w.N.).

Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob nach Unterlassen der - nach dem Wortlaut der Nr. 142 Abs. 1 S. 2 RiStBV generell empfohlenen - Aushändigung eines Merkblatts mit schriftlicher Rechtsmittelbelehrung die Fristversäumung im Strafverfahren regelmäßig nicht als selbstverschuldet anzusehen ist (so für das Bußgeldverfahren OLG Köln, NStZ 1997, 404; OLG Hamm VRS 59, 347; OLG Düsseldorf VRS 96, 111).

Der Nichtaushändigung des Merkblatts kommt vorliegend jedoch im Hinblick auf die Schwerhörigkeit des Angeklagten besondere Bedeutung zu. Nachdem der Angeklagte - wie er durch die Dienstliche Äußerung des Vorsitzenden glaubhaft gemacht hat - zu Beginn der Sitzung auf eine Frage des Gerichts nicht reagiert und anschließend auf seine Schwerhörigkeit hingewiesen hatte, bestand ihm gegenüber bei Erteilung der Rechtsmittelbelehrung eine gesteigerte Fürsorgepflicht. Hinzu kommt, dass die nach einer Verurteilung durch das Amtsgericht zu erteilende - nach der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 274 StPO) vorliegend auch richtig und vollständig erteilte (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 274 Rn 13) -Rechtsmittelbelehrung für einen Rechtsunkundigen durchaus schwierig zu verstehen ist. Der Angeklagte ist danach nämlich über die Rechtsmittel der Berufung und Revision sowie die erst nach Zustellung des schriftlichen Urteils zu erfüllenden Begründungserfordernisse der Revision belehrt worden. Dass er bei der nur mündlich erteilten umfänglichen, eine Vielzahl rechtstechnischer Einzelheiten enthaltenden Belehrung infolge seiner Schwerhörigkeit einem Irrtum über den Beginn der Rechtsmittelfrist unterlegen ist, kann ihm nicht als selbstverschuldet vorgeworfen werden.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Fristversäumung auch nicht deshalb als verschuldet anzusehen, weil der Angeklagte es unterlassen hat, durch rechtzeitiges Nachfragen oder Einholen rechtskundigen Rates von sich aus zum Wegfall des Hindernisses beizutragen, das der Wahrung der Frist entgegenstand. Es liegt nämlich in der Natur des Missverständnisses, dass der Betreffende glaubt, er habe alles richtig verstanden. Da der Angeklagte nicht erkannt hat, dass er die Rechtsmittelbelehrung nicht richtig verstanden hatte, kann ihm nicht vorgeworfen werden, er habe es unterlassen, sein Missverständnis anzuzeigen (vgl. OLG Hamm VRS 59, 347).

Dem Angeklagten war daher unter Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 7 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Rechtsmittelfrist zu gewähren.

Die Kostenentscheidung betreffend das Beschwerdeverfahren folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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