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Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 15.12.2004
Aktenzeichen: 5 U 752/03
Rechtsgebiete: AUB 88, ZPO, VVG


Vorschriften:

AUB 88 § 1 Abs. 3
AUB 88 § 1 Abs. 4
AUB 88 § 1 Abs. 4 (2)
ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1
VVG § 179 Abs. 1
a) Einen Korbhenkelriss des Meniskus durch erhöhte Kraftanstrengung ist nicht versichert.

b) Führt ein Gebirgsschlag unter Tage zu einer unwillkürlichen Bewegung des Versicherten, die eine Knieschädigung zur Folge hat, so liegt ein versicherter Unfall auch dann vor, wenn der Versicherte nicht mit äußeren Hindernissen in Kontakt gekommen ist.


Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 2.12.2003 - 14 O 139/03 - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 9.110,40 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

I. Der Kläger ist Bergmann. Er nimmt die Beklagte aus einem Unfallversicherungsvertrag in Anspruch, der die AUB 88 (Bl. 22) zugrunde liegen.

Der Kläger zog sich in der Nacht vom 5. zum 6.12.2002 während der Arbeit bei einem Gebirgsschlag - die genauen Umstände des Verletzungshergangs sind zwischen den Parteien streitig - einen Korbhenkelriss im rechten Innenmeniskus zu.

Nachdem er die Beklagte mit Schreiben vom 7.2.2003 zur Leistung von Krankenhaustagegeld, Genesungsgeld sowie Invaliditätsentschädigung aufgefordert hatte, lehnte diese ihre Einstandspflicht mit Schreiben vom 1.4.2003 mit der Begründung ab, dass kein Unfall vorliege.

Der Kläger hat behauptet, dass sich der Gebirgsschlag in der Nachtschicht im Bergwerk ereignet habe, während er auf einem Trippelschildstoßfänger einen Bolzen ausgewechselt habe. Zum Zeitpunkt des Gebirgsschlags habe er auf den Knien gesessen, wobei er durch den Gebirgsschlag derart erschrocken sei, dass er eine Ausweichbewegung zur Seite gemacht und sich dabei das Knie verdreht habe.

Der Kläger hat beantragt festzustellen, dass die Beklagte als Unfallversicherer verpflichtet ist, ihm im Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 6.12.2002 im Bergwerk Versicherungsschutz aus dem Versicherungsvertrag zu gewähren.

Dem ist die Beklagte entgegengetreten.

Die Beklagte hat die Meinung vertreten, dass kein versichertes Unfallereignis vorliege, da nach den - dem Vertrag unstreitig zugrundeliegenden - AUB 88 ein Unfall ein plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis sei, die Verletzung des Klägers jedoch auf eine ungeschickte eigene Körperbewegung zurückzuführen sei.

Auch ein Unfallereignis nach § 1 Abs. 4 AUB 88 scheide aus, da eine Verletzung des Meniskus nicht hierunter falle.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen vorgetragenen Sach- und Streitstandes wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat - nach Beweiserhebung - der Klage stattgegeben und hierzu ausgeführt, dass ein Unfall im Sinne des § 1 Abs. 3 AUB 88 vorliege. Auch eigene Bewegungen des Verletzten könnten einen Unfall darstellen, wenn sie in ihrem Verlauf nicht willensgesteuert seien und die Gesundheitsbeschädigung zusammen mit einer äußeren Einwirkung ausgelöst worden sei. Davon sei hier auszugehen, weil der Kläger aufgrund des Gebirgsschlags erschrocken sei und eine Ausweichbewegung vorgenommen habe, um nicht durch Berge am Kopf verletzt zu werden. Dies stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest. Damit sei die Eigenbewegung des Klägers nicht willensgesteuert, sondern durch ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, den Gebirgsschlag, ausgelöst worden.

Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung und eine fehlerhafte Rechtsanwendung rügt. Die Beklagte ist der Ansicht, dass das Landgericht zu Unrecht angenommen habe, dass ein Unfallereignis im Sinne des § 1 Abs. 3 AUB 88 vorliege, da der Kläger hier nicht reflexhaft auf den Gebirgsschlag reagiert, sondern es sich um eine rational überlegte Ausweichbewegung gehandelt habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken vom 2.12.2003 - 14 O 139/03 - die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Sachverständigen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten sowie das Sitzungsprotokoll vom 24.112004 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

II. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Der Kläger kann dem Grunde nach Versicherungsschutz aus seiner bei der Beklagten unterhaltenen Unfallversicherung verlangen, weil er einen versicherten "Unfall" erlitten hat.

1. Das folgt allerdings nicht aus § 1 IV (2) AUB 88. Danach "gilt" als Unfall auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden.

Die Verletzung des Klägers, ein Korbhenkelriss im Innenmeniskus, stellt weder die Verrenkung eines Gelenks (§ 1 Abs. 4 Nr. 1 AUB 88) noch die Zerrung oder den Riss von Muskeln, Sehnen, Bändern oder Kapseln dar. Der Meniskus zählt histologisch nicht zu diesen abschließend aufgeführten Geweben; vielmehr handelt es sich bei ihm um einen Knorpel. Der Sachverständige hat in seiner Anhörung vor dem Senat nicht nur dies bestätigt sondern zugleich erläutert, dass sich aus den ihm vorliegenden Befunden ausschließlich ein Riss in diesem Knorpel ohne Beteiligung von Sehnen oder Bändern ergibt. Solche reinen Meniskusschäden sind von dem Risikoeeinschluss des § IV (2) AUB 88 nicht erfasst (Prölls/Martin, a.a.O., § 1 AUB, Rdn. 25; Grimm, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 1 AUB, Rdn. 52).

2. Der Kläger hat jedoch, wie die angefochtene Entscheidung zu Recht annimmt, einen "Unfall" (§ 1 III AUB 88) erlitten.

a.) Nach § 1 Abs. 3 AUB 88 liegt ein Unfall vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis, das sogenannte Unfallereignis, unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

Die Gesundheitsschädigung muss also ihre Ursache in Kräften finden, die von außerhalb des Körpers auf den Körper einwirken. Gesundheitsschädigungen aufgrund reiner Eigenbewegungen sind vom Versicherungsschutz nicht erfasst (vgl. Prölss/Martin/Knappmann, § 1 AUB 94 Rdn.7 m.w.N.; Grimm, Unfallversicherung, 3.Aufl., § 1 Rdn. 28, 30; VersR-Handbuch/Mangen, § 57 Rdn. 14 ff.). Das äußere Ereignis, das auf den körperlichen Zustand des Versicherten eingewirkt hat, muss allerdings nicht - wie Teilen der Rechtslehre (Prölss/Martin/Knappmann, a.a.O., Rdn.6) entnommen werden könnte, "unmittelbar" physisch oder mechanisch, gewissermaßen als "letzte" Ursache der gesundheitlichen Wirkung, den Körper des Versicherten "getroffen" haben. Eine solche "Unmittelbarkeit" des "Kontakts" zwischen Unfallereignis und Körper wird weder von § 1 III AUB 88 noch von § 179 Abs.1 VVG verlangt. Sowohl das Gesetz als auch die AVB übernehmen vielmehr den allgemeinen Sprachgebrauch, nach dem als "Unfall" ein den normalen Ablauf des Geschehens plötzlich unterbrechender, ungewollter Vorfall zu verstehen ist, "bei dem" ein Mensch verletzt oder getötet worden ist. Dem folgend hat die höchstrichterliche Rechtsprechung schon immer einen "Zusammenstoß" des Körpers des Versicherten mit einer Sache oder einer Person zwar für die regelmäßige Erscheinungsform eines Unfalls, nicht aber für seine zwingende Voraussetzung gehalten (BGH VersR 1962, 341, 342 - Verhängen eines Seils beim Bergsteigen und nachfolgendes Erfrieren; VersR 1972, 582 - Steinschlag auf eine Windschutzscheibe und Herztod). Für die Fälle von Meniskusverletzungen in der Folge des Aufrichtens aus der Hocke macht die obergerichtliche Rechtsprechung darauf aufmerksam, dass eine solche Verletzung dann nicht durch einen Unfall verursacht ist, wenn die Bewegung willensgesteuert - gewissermaßen regulär (Grimm, a.a.O. Rdn. 30) gewesen ist (OLG Hamm OLGR 1997, 305).

Nur das entspricht auch dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers bei einer den Sinn und Zweck der Unfallversicherung würdigenden Lektüre des § 1 III AUB 88. Für ihn ist erkennbar, dass ein plötzliches der Außenwelt zugehöriges Ereignis seinen Körper betroffen und zu einer unfreiwilligen Gesundheitsschädigung geführt haben muss. Von ihm beherrschbare, von seinem Willen und dem von ihm gesteuerten Einsatz seiner körperlichen Kräfte abhängige Bewegungen und ihre Folgen wird er nicht als Unfallgeschehen betrachten. Demgegenüber wird er als mehr oder weniger zufällig und für seinen Versicherungsschutz irrelevant ansehen, ob sein Körper von einem Gegenstand der Außenwelt berührt worden ist oder er dies durch gute Reflexe - "geistesgegenwärtig" - gerade noch vermeiden konnte, auch wenn er physische Folgen nicht gänzlich zu verhindern vermochte.

Das zeigt gerade der Unfall des Klägers. Es wäre für einen verständigen Versicherungsnehmer geradezu unverständlich, genösse er Versicherungsschutz bei einem Gebirgsschlag, wenn seine reaktionsschnelle Ausweichbewegung von äußeren Hindernissen - einer Unglätte der Arbeitsplatte, die seine Bewegung gestoppt hätte - behindert worden wäre oder wenn ihn Teile der Berge wenn auch nur geringfügig getroffen hätten, bevor er ausgewichen war, er jedoch keine Ansprüche erheben könnte, wenn es ihm gelungen wäre, in einem in Sekundenbruchteilen ablaufenden Geschehen physischen Hindernissen auszuweichen oder dies allein auf Zufall beruhte. Auch würde die Redlichkeit eines Versicherungsnehmers auf eine schwer verständliche Probe gestellt, würde er Versicherungsschutz genießen, wenn er nur - schwer widerlegbar - vortrüge, Bergeteile hätten ihn getroffen und daraufhin sei er ausgewichen.

b.) Um eine solche "irreguläre" und psychisch vermittelte Einwirkung auf den Körper des Klägers handelt es sich.

Der Sachverständige Dr. H. hat in der mündlichen Verhandlung vom 24.11.2004 zwar dargelegt, dass die Verletzung des Klägers ohne weiteres aus dem Bewegungsablauf nachvollziehbar und nicht nur durch ein Hängenbleiben an einem Hindernis entstehen könne; es müsse keineswegs so gewesen sein, dass der Kläger auf der Arbeitsplatte "gestoppt" worden sei. Das Landgericht hat jedoch zu Recht - und ohne dass konkrete Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit seiner Feststellungen bestünden (§ 529 Abs.1 Nr.1 ZPO) - angenommen, dass der Kläger auf den Gebirgsschlag aus Schreck plötzlich und nicht in einem engeren Sinne "willensgesteuert" ausgewichen ist und sich einen Riss im Meniskus zugezogen hat.

Das hat der Kläger selbst vorgetragen - "plötzlich gab es einen lauten Knall", das bedeute, dass "Berge herunterkommen", dann erschrecke man "automatisch" und zucke zusammen, auf den Schreck hin habe er sich nach links weggedreht und verletzt. Seine Ausführungen werden von den Zeugen W. und W1 überzeugend bestätigt. Denkt man sich anhand ihrer Schilderungen in das Geschehen hinein, so blieb nach dem Gebirgsschlag keine Zeit, rational abzuwägen, ob ein unverändertes Verbleiben an Ort und Stelle möglich und gefahrlos sein würde oder sofort und unvermittelt gehandelt werden musste. Gebirgsschlag, Schreck, von bergmännischer Erfahrung geprägte und zum Unterbewusstsein gewordene Erfahrung des Herabbrechens von Berge und unvermitteltem Absenken des hydraulischen Trippelschildes, und Wegspringen mit Verdrehen des Knies und Meniskusriss bildeten eine zeitliche und verhaltensmäßige Einheit, deren Trennung in teilweise rational und regulär beherrschte Geschehensabschnitte lebensfremd wäre. Ob, wie die Berufung meint, die Gefahr von Bergematerial getroffen zu werden objektiv gering war, ist ebenso unerheblich wie der Umstand, dass Bergleute sich auf Gebirgsschläge gefasst machen können und "immer" erschrecken. Auch ein objektiv geringes Risiko kann einen Vermeidungsreflex auslösen, gerade weil anlassbedingt keine Zeit zum Abwägen besteht, auch das Wissen um Gefahren kann unvermittelte Reaktionen bei ihrem Eintritt auslösen. Mit einer schlichten - nicht versicherten - Ungeschicklichkeit beim Bewegen in der Außenwelt hat die Verletzung des Klägers nichts gemein.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt; die entscheidenden Rechtsfragen sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht, weil es letztlich allein auf den tatsächlichen Geschehensablauf vor dem behaupteten Versicherungsfall ankommt (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Ende der Entscheidung

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