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Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 10.03.2006
Aktenzeichen: Ss (Z) 203/05 (17/05)
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3
StVO § 4 Abs. 3
Bei dem in § 4 Abs. 3 StVO geregelten Mindestabstand auf Autobahnen für Lastkraftwagen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von über 3,5 Tonnen und Kraftomnibusse handelt es sich nicht um einen Einscherabstand, sondern um einen bestimmten Sicherheitsabstand. Dieser Abstand ist daher auch auf Strecken einzuhalten, auf denen das Überholen verboten oder wegen einer durchgehenden Fahrstreifenbegrenzung faktisch nicht möglich ist. Die Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StVO ist im Geltungsbereich des § 4 Abs. 3 StVO nicht anzuwenden.
Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts St. Ingbert vom 20. Oktober 2004 wird auf Kosten des Betroffenen als unbegründet verworfen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichteinhaltung des erforderlichen Mindestabstandes zu einem vorausfahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h (§§ 4 Abs. 3, 49 Abs. 1 Nr. 4 StVO, 24 StVG) zu einer Geldbuße in Höhe von 50,-- Euro verurteilt.

Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene, ein Berufskraftfahrer, die Bundesautobahn A 6 mit einem LKW mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h befahren und dabei zum vorausfahrenden Fahrzeug aus Fahrlässigkeit nicht den erforderlichen Abstand von mindestens 50 Metern, sondern lediglich einen Abstand von 32,44 Meter eingehalten hatte. Die Messung mittels des standardisierten Video-Abstands-Messverfahrens (VAM) war nach den amtsrichterlichen Feststellungen in einem Bereich erfolgt, wo die von dem Betroffenen befahrene rechte Fahrspur durch eine durchgezogene Linie von der linken Fahrspur abgegrenzt war.

Gegen dieses Urteil richtet sich der zulässige (§§ 80 Abs. 3 S. 1 und 3, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 341, 344, 345 StPO) Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt wird.

Der Senat hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, weil es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen (§§ 79 Abs. 1 S. 2, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Die mit der Rechtsbeschwerde aufgeworfene Frage, ob es sich bei dem in § 4 Abs. 3 StVO genannten Mindestabstand von 50 m um einen Sicherheitsabstand oder um einen sog. Einscherabstand (mit der möglichen Folge der analogen Anwendbarkeit des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVO) handelt, ist - soweit ersichtlich - höchstrichterlich ausdrücklich noch nicht entschieden und bedarf der Klärung.

Die damit gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 OWiG zulässige und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist jedoch nicht begründet, da die Nachprüfung des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler erkennen lässt, der sich zum Nachteil des Betroffenen ausgewirkt haben könnte.

Auf den rechtsfehlerfrei festgestellten Sachverhalt hat das Amtsgericht zu Recht die Bestimmungen der §§ 24 StVG, 49 Abs. 1 Nr. 4, 4 Abs. 3 StVO, Nr. 15 BKat angewendet. Bei dem in § 4 Abs. 3 StVO geregelten Mindestabstand auf Autobahnen für Lastkraftwagen mit einem zulässigen Gesamtgewicht über 3,5 t und Kraftomnibusse handelt es sich nicht um einen Einscherabstand, sondern um einen besonderen Sicherheitsabstand. Dieser Abstand ist daher auch auf Strecken einzuhalten, auf denen das Überholen verboten oder wegen einer durchgehenden Fahrstreifenbegrenzung faktisch nicht möglich ist. Die Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVO ist im Geltungsbereich des § 4 Abs. 3 StVO nicht anzuwenden.

Dies ergibt sich ausgehend von dem Wortlaut der Regelung unter Berücksichtigung ihres systematischen Zusammenhangs anhand einer an Sinn und Zweck orientierten Auslegung der Vorschrift.

Zwar ist der Wortlaut des § 4 Abs. 3 StVO ebenso wie der des § 4 Abs. 1 und 2 StVO insoweit nicht eindeutig, als die Regelungen begrifflich nicht zwischen Einscher- und Sicherheitsabstand unterscheiden. Auch könnte die Stellung des § 4 Abs. 3 StVO im Anschluss an § 4 Abs. 2 StVO anstatt im Anschluss an § 4 Abs. 1 StVO für die Regelung eines bloßen Einscherabstandes sprechen. Die Regelungen in § 4 Abs. 3 und 2 StVO beziehen sich zudem beide auf den Abstand außerhalb geschlossener Ortschaften.

Andererseits weist bereits die Verwendung der Worte "Mindestabstand" und "müssen" in § 4 Abs. 3 StVO in Verbindung mit der bestimmten Angabe des einzuhaltenden Abstandes ("50 m") darauf hin, dass die Regelung des § 4 Abs. 3 StVO zwingend sein soll und keine Ausnahmen duldet. Dies spricht ebenso gegen eine (analoge) Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVO wie der allgemeine Grundsatz, dass Ausnahmeregelungen generell eng auszulegen sind, es sei denn, die Ausnahme stelle selbst ein bestimmtes Prinzip auf (vgl. BGHSt 25, 120; 26, 270; 30, 168, 170; Meyer-Goßner, StPO, 48. A., Einl. Rn. 199 m.w.N.), wovon vorliegend jedoch nicht auszugehen ist.

Näheren Aufschluss geben die Gesetzgebungsmaterialien.

Während es in der Begründung zu § 4 Abs. 1 StVO (VBl 70, 801) heißt:

... beruhten 26,3% der Unfälle auf ungenügendem Abstand vom Vordermann. Es ist daher dem Nachfolgenden einen Abstand vorzuschreiben, der ihm ein Halten auch bei plötzlichem Bremsen des Vordermanns ermöglicht, d.h. der sogenannte Sicherheitsabstand, soll es sich bei § 4 Abs. 2 StVO (VBl 70, 801) um eine ... der Förderung des Verkehrsflusses dienende Bestimmung handeln.

In der Begründung des Ausschusses des Bundesrates (VBl 88, 220), der die Einführung des § 4 Abs. 3 StVO empfahl, ist demgegenüber ausgeführt:

Die Erfahrung zeigt, dass im Autobahnverkehr der nach § 4 vorgeschriebene und zur Vermeidung von Auffahrunfällen unerlässliche Sicherheitsabstand kaum eingehalten wird. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Lastkraftwagen und der Kraftomnibusse. Auffahrunfälle unter Beteiligung solcher Kraftfahrzeuge haben, wie die Vergangenheit gezeigt hat, meist besonders schwerwiegende Folgen. Um den Führern von Lastkraftwagen und Omnibussen bessere Anhaltspunkte für die Bemessung des notwendigen Sicherheitsabstandes zu geben und insbesondere um die polizeiliche Überwachung des Abstandes zu erleichtern, ist eine Ergänzung der Vorschrift geboten. Das Maß von 50 m entspricht dem Abstand der Leitpfosten am Fahrbahnrand.

Motiv des Gesetzgebers bei Einführung des § 4 Abs. 3 StVO war demnach die Festschreibung eines besonderen Sicherheitsabstandes für bestimmte Fahrzeugarten auf Autobahnen. Hätte der Gesetzgeber angesichts der bereits vorhandenen Regelung des § 4 Abs. 2 S. 2 StVO gewollt, dass dieser (Sicherheits-)Abstand nicht einzuhalten ist, wenn ein Einscheren vor dem Verpflichteten rechtlich oder faktisch ausgeschlossen ist, hätte er dies durch eine Verweisung zum Ausdruck bringen können. Stattdessen hat er mit der Verwendung des Wortes "Sicherheitsabstand" und dem formulierten Ziel der Vermeidung von Auffahrunfällen an die Begründung zur Einführung des in § 4 Abs. 1 StVO geregelten allgemeinen Sicherheitsabstandes angeknüpft.

Umgekehrt wird das für die Regelung des Einscherabstandes in § 4 Abs. 2 StVO maßgebliche, nicht den Belangen der Sicherheit des Straßenverkehrs dienende Motiv der Förderung des Verkehrsflusses zur Begründung des § 4 Abs. 3 StVO nicht angeführt.

Aber nicht nur die Gesetzgebungsmaterialien, sondern auch Sinn und Zweck der unterschiedlichen Regelungen in §§ 4 Abs. 2 und 4 Abs. 3 sprechen unter Berücksichtigung ihres systematischen Zusammenhangs dafür, dass der in § 4 Abs. 3 StVO geregelte (Sicherheits-)Abstand zur Vermeidung von (Auffahr-)Unfällen gerade auch dann einzuhalten ist, wenn auf der Autobahn in einer Fahrtrichtung (ausnahmsweise) nicht zwei Fahrstreifen für eine Fahrtrichtung vorhanden sind. Das Ziel der Förderung des Verkehrsflusses, das der Regelung des Einscherabstandes in § 4 Abs. 2 StVO zugrunde liegt, wird auf Autobahnen im Regelfall dadurch erreicht, dass dem Verkehr in einer Fahrtrichtung zwei Fahrstreifen zur Verfügung stehen. Dem entspricht die Ausnahmeregelung des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr 2 StVO, wonach der Einscherabstand nach § 4 Abs. 2 S. 1 StVO nicht einzuhalten ist, wenn in der Fahrtrichtung mehr als ein Fahrstreifen vorhanden ist. Zu Recht hat das Amtsgericht darauf hingewiesen, dass der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 StVO infolge der dann gebotenen entsprechenden Anwendung der Ausnahmeregelungen in § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 und Nr. 3 StVO verengt würde, wenn es sich bei dem in § 4 Abs. 3 StVO geregelten Abstand auch um einen Einscherabstand handeln würde.

Gerade die vorgenannten, für den Geltungsbereich des § 4 Abs. 3 StVO auf Autobahnen nicht passenden Ausnahmen im Geltungsbereich des Einscherabstandes nach § 4 Abs. 2 StVO sprechen umgekehrt nach Auffassung des Senats dafür, dass in § 4 Abs. 3 StVO ein unabhängig von der Anzahl der konkret zur Verfügung stehenden Fahrstreifen fixer Sicherheitsabstand festgelegt werden sollte.

Nur die Nichtanwendung der Ausnahmeregelung des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVO entspricht auch bei einstreifiger Verkehrsführung auf der Autobahn dem Sinn und Zweck der Regelung des § 4 Abs. 3 StVO, die Gefahr von (Auffahr-) Unfällen zu vermindern. Denn die Gefahr von Auffahr- oder sogar Ausweichunfällen dürfte bei einstreifiger Verkehrsführung infolge der eingeschränkten Übersicht und der Enge der Fahrstreifen noch zunehmen.

Die Auffassung der Rechtsbeschwerde, die gerade aus dem Umstand, dass die Vorschrift lediglich auf Autobahnen gilt, herzuleiten versucht, dass es sich bei der Vorschrift um die Regelung eines Einscherabstandes handeln solle, überzeugt nicht. Insoweit ist zu bedenken, dass Autobahnen in der Regel geradlinig verlaufen und durch diese Eintönigkeit die Aufmerksamkeit bzw. die Bereitschaft zur Verfolgung des Verkehrsgeschehens besonders herabgemindert wird. Auch aus diesen Gründen mag der Gesetzgeber davon abgesehen haben, auch auf Landstraßen einen festen Sicherheitsabstand einzuführen. Hinzu kommt, dass auf Landstraßen in der Regel geringere Geschwindigkeiten gefahren werden und die generelle Einführung eines derartigen Mindestabstandes auf Landstraßen den Verkehrsfluss, um dessen Förderung es dem Gesetzgeber bei Einführung des § 4 Abs. 2 StVO erklärtermaßen ging, erheblich beeinträchtigen würde.

Für die von der Rechtsbeschwerde vertretene Auffassung spricht auch nicht, dass Hentschel (Straßenverkehrsrecht, 38. A., § 4 StVO) in seiner Übersicht vor Randnummer 5 mit dem Stichwort "Einscherabstand der Lastfahrzeuge" auf die vorangegangene Randnummer 4a verweist, unter der die Gesetzesmaterialien zu § 4 Abs. 3 StVO zutreffend zitiert werden, anstatt richtigerweise auf Randnummer 4, in der die amtliche Begründung zu § 4 Abs. 2 StVO zitiert wird. Aus dem Textzusammenhang wird nämlich deutlich, dass dem Verfasser des Stichworts insoweit ein Fehler unterlaufen ist. Zum einen steht der Querverweis bereits inhaltlich in Widerspruch zu den in Bezug genommenen Gesetzesmaterialien, in denen von dem "notwendigen Sicherheitsabstand" die Rede ist. Zum anderen ergibt sich aus dem in demselben Stichwort enthaltenen weiteren Querverweis auf die Kommentierung unter Randnummern 12-14, den die Rechtsbeschwerde verschweigt, dass der Verfasser des Stichworts - richtigerweise - auf die Regelung des Einscherabstandes nach § 4 Abs. 2 StVO hinweisen wollte, denn nur diese ist unter Randnummern 12-14 kommentiert.

Für die Richtigkeit der hier vertretenen Auffassung spricht schließlich, dass der in § 4 Abs. 3 StVO geregelte Abstand in der Literatur und obiter dicta auch in der Rechtsprechung entweder ausdrücklich als Sicherheitsabstand bezeichnet oder zumindest als solcher eingeordnet wird (Hentschel, a.a.O., § 4 Rn. 6; OLG Hamm, VRS 106, 466; OLG Zweibrücken VRS 93, 208; AG Leverkusen, Schaden-Praxis 2002, 89; AG Bayreuth DAR 1999, 133).

Die Verurteilung des Betroffenen wegen Unterschreitung des 50 m-Abstandes auf der Autobahn bei abgegrenzten Fahrstreifen ist daher nicht zu beanstanden. Da auch die Bemessung des Bußgeldes keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen erkennen lässt, war die Rechtsbeschwerde mit der Kostenfolge aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO als unbegründet zu verwerfen.

Ende der Entscheidung

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