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Beginn der Entscheidung

Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 01.09.2004
Aktenzeichen: 1 MB 7/03
Rechtsgebiete: LBO SH, LVwG SH


Vorschriften:

LBO SH § 72 Abs. 2
LBO SH § 75 Abs. 11
LVwG SH § 116 Abs. 3
LVwG SH § 116 Abs. 4
1) Die Jahresfrist zur Rücknahme eines fiktiven Vorbescheides beginnt nicht schon mit Eintritt der Genehmigungsfiktion zu laufen, sondern erst dann, wenn dem zuständigen Amtswalter die Notwendigkeit bewusst wird, dass über die Rücknahme zu entscheiden ist.

2) Der Schutz des Vertrauens gegen die Rücknahme eines fiktiven Bescheides reicht nicht weiter als bei einem ausdrücklichen Bescheid.

3) Das Rücknahmeermessen wird durch aufgewandte (Vor-) Planungskosten nicht eingeschränkt.


SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

Az.: 1 MB 7/03

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Bauplanungs- und Bauordnungsrecht (einschließlich der Nutzung baulicher Anlagen)

Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung

hier: Beschwerde

hat der 1. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in Schleswig am 1. September 2004 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 8. Kammer - vom 17. Mai 2004 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert beträgt 7.500,00 Euro.

Gründe:

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Rücknahme eines fiktiv erteilten Vorbescheides.

Gemeinsam mit der Eigentümerin, Frau ..., planen die Antragsteller die Errichtung eines Wohnhauses auf dem Flurstück 79/19 der Flur 2 in ... . Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des - am 15.10.2002 in Kraft getretenen - Bebauungsplans Nr. 24 der Beigeladenen, der dort keine überbaubare Grundstücksfläche ausweist.

Unter dem 10.12.2002, beim Agg. eingegangen am 12.02.2002, stellten die Grundstückseigentümerin sowie die Antragsteller einen Vorbescheidsantrag. Am 09.08.2002 bestätigte der Antragsgegner gegenüber den Antragstellern, dass der Vorbescheid ihnen gegenüber gem. § 75 Abs. 11, § 72 Abs. 2 LBO als erteilt gelte. Dagegen erhob die Beigeladene Widerspruch, dem mit Widerspruchsbescheid vom 09.10.2002 stattgegeben wurde: Der fiktive Vorbescheid wurde zurückgenommen und die Voranfrage gegenüber den Antragstellern bis zum Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr. 24, längstens für 6 Monate, zurückgestellt.

Mit Bescheid vom 03.05.2004 (während des vorliegenden Verfahrens) nahm der Antragsgegner einen am 15.01.2003 fiktiv erteilten Vorbescheid an die Antragsteller gem. § 116 LVwG - sofort vollziehbar - zurück.

Den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage u. a. gegen die am 09.10.2002 erfolgte Rücknahme des fiktiven Vorbescheides wieder herzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 07.02.2003 ab. Gegen diese Entscheidung, soweit sie die sofortige Vollziehung der Rücknahme des fiktiven Vorbescheides betrifft, wenden sich die Antragsteller mit der Beschwerde.

II.

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Soweit die Zurückstellung der Voranfrage betroffen ist, hat sich das Verfahren erledigt (Schriftsatz der Ast. vom 10.03.2003, S. 1). Die gegen die Rücknahme des fingierten Vorbescheides gerichtete Beschwerde bleibt unbeeinflusst von der (weiteren) Rücknahme gemäß Bescheid vom 03.05.2004 (unten 1); die - sofort vollziehbare - Rücknahme vom 09.10.2002 ist keinen Einwänden ausgesetzt (unten 2).

1) Das Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller ist durch den nachfolgenden - mit dem 15.01.2003 entstandenen - fiktiven Vorbescheid nicht entfallen, denn dieser Vorbescheid ist von der Antragsgegnerin - erneut - am 03.05.2004 zurückgenommen worden. Der Rücknahme nach § 116 Abs. 1 LVwG unterliegen auch fingierte Bescheide, denen keine andere oder "stärkere" Bestandskraft zukommt als den von einer Behörde tatsächlich erlassenen Bescheiden (Urt. des Senats vom 01.04.2004, 1 LB 75/03; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 2003, § 48 Rn. 6).

Im Rahmen der vorliegenden Entscheidung ist nicht davon auszugehen, dass der Rücknahme vom 03.05.2004 die Jahresfrist gem. § 116 Abs. 4 S. 1 LVwG entgegensteht:

Zwar wäre die Jahresfrist abgelaufen, wenn man allein auf den äußeren zeitlichen Ablauf - Ende der Zurückstellung der Voranfrage mit Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr. 24 der Beigeladenen am 15.10.2002, Eintritt der Genehmigungsfiktion am 15.01.2003 (§§ 75 Abs. 11, 72 Abs. 2 LBO), Ablauf der Jahrsfrist (somit) am 15.01.2004 - abstellt. Die Einschränkung des § 118 LVwG findet hier keine Anwendung, weil die Rücknahme vom 03.05.2004 nicht innerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens (insbesondere nicht auf einen Widerspruch der Beigeladenen hin) erfolgt ist.

Es sprechen jedoch überwiegende (rechtliche) Gründe dafür, dass die Jahresfrist noch nicht mit dem Eintritt der Genehmigungsfiktion zu laufen begann, sondern erst später, als dem Antragsgegner (bzw. dem dort zuständigen Sachbearbeiter) die Notwendigkeit bewusst wurde, dass über die (erneute) Rücknahme eines (weiteren) fiktiven Vorbescheides zu entscheiden ist. Dies entspricht der zu der wortgleichen bundesrechtlichen Vorschrift in § 48 Abs. 4 VwVfG vorliegenden - gefestigten - höchstrichterlichen Rechtsprechung: Für den Beginn der Jahresfrist kommt es (danach) nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des (rechtswidrigen) Verwaltungsaktes, sondern darauf an, wann der innerbehördlich zuständige Amtswalter von den die Rücknahme des Verwaltungsaktes rechtfertigenden Tatsachen positiv Kenntnis erlangt hat. Die Jahresfrist beginnt - mit anderen Worten - nicht vor der Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zu laufen, folgt also zeitlich dessen Erlass. Der zuständige Amtswalter muss sich zunächst der Notwendigkeit einer Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsaktes bewusst geworden sein; erst dann ist ihm diese Entscheidung - ggf. unter Ausübung des nach § 116 Abs. 1 LVwG obwaltenden Ermessens - möglich und die Jahresfrist gem. § 116 Abs. 4 LVwG beginnt (vgl. - grundlegend - BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984, GrSen 1.84, BVerwGE 70, 356 ff., weiter: Beschl. v. 03.11.1992, 4 B 97.92, Juris, Beschl. v. 05.08.1998, 7 B 58.98, Juris sowie Urt. v. 24.01.2001, 8 C 8.00, BVerwGE 112, 360 ff.).

Die Jahresfrist begann - somit - frühestens im Februar 2004 (mit Eingang des Schreibens, in dem die Bestätigung des (erneuten) Eintritts der Genehmigungsfiktion beantragt wurde) zu laufen; die Rücknahme am 03.05.2004 ist damit im Hinblick auf § 116 Abs. 4 LVwG unproblematisch.

Demgegenüber könnte eingewandt werden, dass alle Fakten, die für die Fiktions-Frist i. S. d. §§ 75 Abs. 11, 72 Abs. 2 LBO maßgeblich sind, aktenkundig waren. Die Vorgeschichte im vorliegenden Fall, die bereits einmal zur Rücknahme eines durch Fristablauf fingierten Vorbescheides (wie vorliegend streitig) geführt hat, hätte zudem den zuständigen Amtswalter zur Fristenkontrolle anhalten können. Diese Einwände überzeugen indes nicht: Soweit durch die Jahresfrist in § 116 Abs. 4 LVwG zu Gunsten der Antragsteller Vertrauensschutz erreicht werden soll, kann dieser Schutz im (vorliegenden) Fall einer fiktiven Bebauungsgenehmigung nicht weiter reichen als im Fall eines "ausdrücklich" erteilten (rechtswidrigen) Vorbescheides. Wenn bei letzterem die Jahresfrist erst nach Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Vorbescheides (s. o.) beginnt, kann bei einem fiktiven Vorbescheid nicht - abweichend davon - bereits auf den Zeitpunkt des fingierten Erlasses abgestellt werden. Das schutzwürdige Vertrauen ist bei einem fingierten Bescheid grundsätzlich geringer zu veranschlagen als bei einem ausdrücklich erteilten Bescheid.

Die für eine Rücknahme des zum 15.01.2003 fingierten Vorbescheides sprechenden öffentlichen Interessen sind identisch mit denjenigen, die auch bereits für die Rücknahme des zum 12.05.2002 fingierten Vorbescheides anzuführen sind; insofern kann auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen werden:

2) Die Anordnung des Sofortvollzugs der Rücknahme vom 09.10.2002 ist keinen rechtlichen Einwänden ausgesetzt.

Die Sofortvollzugsanordnung ist rechtmäßig (s. zu IV. des Bescheides vom 09.10.2002).

§ 212 a Abs. 1 BauGB gilt nur für "Zulassung" eines Vorhabens, nicht auch für die Rücknahme einer (Vor-) Zulassung.

Die Rücknahmevoraussetzungen - rechtswidriger fiktiver Vorbescheid, rechtmäßiges Rücknahmeermessen - liegen auch gegenüber den Antragstellern vor.

Bezogen auf den Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung folgt die Rechtswidrigkeit des fingierten Vorbescheides ohne Weiteres daraus, dass er den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 24 der Beigeladenen widerspricht. Soweit die Antragsteller diesen Bebauungsplan (erneut) für unwirksam halten, weil er einen unzureichenden naturschutzrechtlichen Flächenausgleich enthalte und die Festsetzung "Einzelhäuser" abwägungsfehlerhaft erfolgt sei (Schriftsatz vom 04.08.2004 an das VG in den Verfahren 5 A 279 u. 280/02), wird dem im Hauptsacheverfahren weiter nachzugehen sein. Im Rahmen der vorliegenden Entscheidung ist nach summarischer Prüfung von einer Wirksamkeit des Bebauungsplans auszugehen. Der (zusätzliche) Flächenausgleich von 569 qm erscheint nicht von vornherein als unzureichend. Es ist auch zweifelhaft, ob aus der von den Antragstellern befürchteten Teilung von "Bauriegeln" ein Abwägungsfehler des Bebauungsplans hergeleitet werden kann.

Unabhängig davon, war der (am 12.05.2002 fiktiv "entstandene") Vorbescheid seinerzeit deshalb rechtswidrig, weil am 12.05.2002 die Voraussetzungen für eine Zurückstellung der Bauvoranfrage der Antragsteller nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB vorgelegen hatten. Zur Begründung wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Antragsgegners in seinem Bescheid vom 09.10.2002 verwiesen. Die dagegen von den Antragstellern erhobenen Einwände greifen nicht: Die Beigeladene hat mit Schreiben vom 25.03.2002 nicht nur die Zurückstellung der Bauvoranfrage der Grundstückseigentümerin beantragt, sondern pauschal die Zurückstellung des "Antrags auf Erteilung eines Vorbescheides für das Grundstück An der Hege 9 in der Gemeinde Wentorf bei C-Stadt vom 10.12.2001" und damit auch - falls man eine solche "Aufspaltung" eines gemeinsam, in einem Schreiben gestellten, ein gemeinsames Vorhaben betreffenden Antrags überhaupt durchführen kann - die Zurückstellung des Antrags der Antragsteller. Am 12.05.2002 war der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan Nr. 24 vom 21.03.2002 auch schon bekannt gemacht (am 10.04.2002), so dass es auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob ein Rückgriff auf den "alten" Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan Nr. 24 vom 14.12.1989 möglich und zulässig ist, nicht mehr ankommt. Angemerkt sei jedoch, dass der Senat dazu neigt, diese Frage - mit dem Verwaltungsgericht - zu bejahen. Dafür spricht in der Tat die im (Normenkontroll-)Urteil des Senats v. 06.12.2001 - 1 K 6/99 - bejahte Anwendbarkeit des § 215 a Abs. 1 BauGB. Die Beigeladene kann bis zum - vollständigen - Inkrafttreten des Bebauungsplans unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 BauGB die mit dem "alten" Aufstellungsbeschluss vom 14.12.1989 verfolgten Planungsziele weiter sichern.

Der Hinweis der Antragsteller auf die (amtshaftungsrechtliche) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschl. v. 26.07.2001, III ZR 206/00, NVwZ 2002, 123 f.) führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Erkenntnis, dass die Bauaufsichtsbehörde bei einer Zurückstellung gem. § 15 Abs. 1 BauGB ein Baugesuch weiter zu bearbeiten hat, bezieht sich auf den Fall, dass die Zurückstellung nicht für sofort vollziehbar erklärt worden ist. Genau darin unterscheidet sich jener - vom BGH entschiedene - Fall von dem hier vorliegenden.

Die Rücknahmeentscheidung des Antragsgegners erscheint auch als ermessensgerecht. Der Umstand, dass die Antragsteller bereits Planungskosten aufgewandt haben, genügt nicht, um von einer Rücknahme abzusehen. Den Antragstellern war aus dem Normenkontrollverfahren (1 K 6/99) bekannt, dass die Ortsplanung ihrem Bauwunsch keinen Raum gab; wenn sie - gleichwohl - Planungsaufwendungen getätigt haben, vermag dies die Rücknehmbarkeit einer der Ortsplanung widersprechenden Fiktivgenehmigung nicht zu beeinflussen. Dies bestätigt i. ü. § 116 Abs. 3 LVwG: Dort ist ausdrücklich vorgesehen, dass ein Verwaltungsakt auch dann zurückgenommen werden kann, wenn ein (auszugleichender) Vermögensnachteil entstanden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind gem. § 162 Abs. 3 VwGO den Ast. aufzuerlegen.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a. F..

Der Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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