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Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 21.11.2007
Aktenzeichen: 2 LB 38/07
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
1. Nach Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie in nationales Recht kommt es für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG nicht mehr auf eine staatliche Zurechenbarkeit der geltend gemachten Gefahr an, wohl aber für die Rückkehrprognose auf eine erlittene Vorverfolgung.

2. Für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bleibt es - abgesehen von der auch hier relevanten Vorverfolgung - bei der bisher auf Grund nationalen Rechtes gefundenen Auslegung und Rechtsprechung (hier: Keine extreme Gefahrenlage bei Rückkehr nach Kabul für alleinstehenden Mann mit familiären Verbindungen in Kabul).

3. Die Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gilt für Fälle des Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie und damit für die Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts (hier: Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auch in Kabul).

4. Bei richtlinienkonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 und 3 AufenthG dürfte die sich auf Grund willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen Konflikts ergebende Gefahr jedenfalls für diejenigen Personen hinreichend individuell sein, die davon unmittelbar betroffen sind, ohne dass es der Darlegung besonderer persönlicher Merkmale oder Verfolgungsgründe bedürfte.

5. Die erhebliche konkrete Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verlangt zwar keine "gleichsam unausweichliche" Rechtsverletzung, wohl aber eine gewisse Dichte gefährlicher Vorkommnisse, die die ernsthafte Möglichkeit einer Rechtsverletzung nahelegt (hier: keine konkrete, ausreichend wahrscheinliche Gefahr einer Rechtsverletzung für zurückkehrende einheimische Zivilisten in Kabul).


SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Az.: 2 LB 38/07

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG - Berufungsverfahren -

hat der 2. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts ohne mündliche Verhandlung am 21. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht ..., den Richter am Oberverwaltungsgericht ..., die Richterin am Verwaltungsgericht ... sowie die ehrenamtlichen Richterinnen ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Gegenseite zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am ...1972 in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und tadschikischer Volkszugehöriger. Nach eigenen Angaben verließ er sein Heimatland Ende 2002, reiste im Januar 2005 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte die Gewährung politischen Asyls.

Er begründete seinen Antrag zunächst schriftsätzlich. Bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 31. Januar 2005 gab er an, nach dem Abitur im Jahre 1990 in seinem Heimatort ... in der Nähe Kabuls einen Lebensmittelladen betrieben zu haben. Das Dorf habe vor ca. fünf Jahren an der Grenze zwischen den Machtbereichen der Taliban und der Mujaheddin gelegen. Nachdem die Taliban auch auf seiner Ortsseite die Macht über die Mujaheddin bekommen hätten, hätten sie den Laden des Klägers gestürmt und ihn aufgefordert, ihnen alles über die Mujaheddin zu berichten. Er sei bedroht und fast zu Tode geprügelt worden und habe ihnen deshalb die Adresse zweier Kommandanten und des weiteren Kommandanten genannt. Er habe die Taliban sodann begleiten und mit ansehen müssen, wie die Familien der Kommandanten von den Taliban mitgenommen worden seien. Einer der Kommandanten sei zuvor geflohen und habe noch ein Jahr lang gegen die Taliban gekämpft, sich dann aber ergeben. Der zweite Kommandant sei später umgebracht worden. Den Kläger habe man in Kabul ins Gefängnis gesteckt. Nach einer Nacht sei er vor ein Mullah-Gericht gestellt worden, ohne dass er begriffen hätte, was man von ihm gewollt habe. Im Büro des Richters habe er einen früheren Mitschüler getroffen, der ihm geholfen und dafür gesorgt habe, dass man ihn in einem Krankenhaus habe untersuchen dürfen. Nach anderthalb Stunden ambulanter Behandlung sei er dann in Kabul zu seinem Onkel gegangen und habe dort fortan gelebt, weil er in seinem Dorf als Feind und Verräter angesehen worden sei. Sein Ladenlokal sei in Brand gesetzt worden. Bei seinem Onkel habe er drei Jahre lang normal in dessen Laden mitgeholfen, bis dann vor ca. zwei Jahren gegen Mitternacht fremde Personen in das Haus des Onkels eingedrungen seien, die er, der Kläger, zum Teil als Mujaheddin erkannt habe. Sie seien zunächst auf den Onkel und den Cousin gestoßen, hätten diese geschlagen und schließlich in einem Jeep mitgenommen. Der Kläger selbst habe rechtzeitig in das Haus der Nachbarn flüchten können und sei aus Angst um sein Leben nach diesem Vorfall mit einem kleinen Transporter nach Pakistan gefahren, wo er in Peshawar in einer Textilfabrik Arbeit gefunden habe. Vor ca. zwei Monaten hätten seine Mitbewohner ihm berichtet, dass Personen bei ihnen eingedrungen seien und nach dem Kläger gefragt hätten. Er habe genau gewusst, dass die Anhänger des verstorbenen Kommandanten Sged Hasan nach ihm gesucht hätten. Deshalb sei er zu einem anderen Freund nach Peshawar gegangen, der ihn bis zu seiner Ausreise aufgenommen hätte. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan müsse der Kläger die Rache der Mujaheddin befürchten.

Mit Bescheid vom 15. Februar 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde zur Ausreise aufgefordert; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht.

Dagegen hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben und zur Begründung zunächst seine schriftliche Antragsbegründung wiederholt. Nach Wechsel des Prozessbevollmächtigten hat der Kläger u.a. weiter vortragen lassen, dass sein Vater Mitglied der DVPA gewesen sei und Propaganda für die Partei gemacht habe. Er sei unter Najibullah Polizist im Range eines Oberst gewesen. Der Kläger stamme somit aus einer bekannten antiislamistischen Familie, die als kommunistisch gelte, so dass er in Afghanistan auch Sippenhaft und Blutrache befürchten müsse. Ferner müsse er mit einer Zwangsrekrutierung und damit verbundenen menschen- und völkerrechtswidrigen Behandlungen und Einsätzen rechnen sowie aufgrund seiner fehlenden Semi-Immunität gegen Malaria mit schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden und einem drastisch erhöhten Sterberisiko. Verwandte, die Schutz oder Hilfe geben könnten, habe er in Afghanistan nicht. Er verfüge auch über keinerlei Geldmittel, Besitz oder Eigentum in Afghanistan, mit dessen Hilfe er sich ernähren, unterkommen und die notwendige medizinische Versorgung bezahlen könne. Es bestehe auch keine Chance, im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ein zum Überleben ausreichendes Einkommen zu verdienen.

Darüber hinaus lägen die Voraussetzungen des unmittelbar anzuwendenden Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie EU, Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (RL) vor. Dem Kläger drohe in Afghanistan eine ernsthafte individuelle Gefahr für sein Leben und seine Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes. Vorherrschend seien dort willkürliche Gewaltmuster, in deren Folge zu jeder Zeit und an jedem Ort mit ernsthaften individuellen Bedrohungen i.S.d. Art. 15 lit. c) RL zu rechnen sei. Anders als bisher § 60 Abs. 7 AufenthG erfasse Art. 15 lit. c) RL auch mittelbare, reflexartige Auswirkungen von Kriegshandlungen. Zudem sei die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 AufenthG, die bei allgemeinen Gefahren von einer verfahrensrechtlichen Sperrwirkung ausgehe und nur bei extremen Gefahrenlagen zur Anerkennung eines subsidiären Schutzes komme, mit Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar und insoweit nicht anwendbar. Der Erwägungsgrund Nr. 26 der Richtlinie schließe nur allgemeine Gefahren aus, nicht aber solche, die Folge willkürlicher Gewalt seien. In Anbetracht der Verhältnisse in Kabul sei dem Kläger schließlich auch ein Ausweichen in einen anderen Landesteil nicht zumutbar.

In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger noch einmal informatorisch zu seinen Verfolgungsgründen angehört worden. Er hat u.a. erklärt, dass sein Heimatdorf ... etwa 12 km nördlich von Kabul liege. Das Dorf habe Anfang 2000 zwischen den Fronten der Mujaheddin und der Taliban gelegen. Nach Eroberung des Dorfes seien die Taliban in sein Geschäft gekommen, hätten ihn geschlagen und nach Waffen gefragt. Außerdem habe er ihnen helfen sollen, die Mujaheddin-Kommandanten zu finden. Wegen der Drohungen habe er ihnen schließlich nachgegeben und sie zu den Kommandanten begleiten müssen. Nach den Überfällen habe man ihn nach Kabul gebracht und dort für einen Abend festgehalten. Am nächsten Tag habe man ihn zu einem Strafgericht gebracht, von wo aus er mit Hilfe eines ehemaligen Schulkameraden in ein Krankenhaus gelangt sei. Von dort habe er fliehen können. Er sei dann in Kabul geblieben und habe bei seinem Onkel in einer Mietwohnung gewohnt. Dort habe er normal leben können und zusammen mit seinem Onkel in dessen Laden gearbeitet. Nach dem Sieg über die Taliban hätten eines Tages - etwa um 11.00 Uhr abends - Mujaheddin an die Tür geklopft. Er habe sie an ihrer Tracht bzw. Uniform erkannt. Die Mujaheddin hätten seinen Onkel und dessen Sohn festgenommen. Der Kläger selbst habe weit weg von der Tür gestanden und in das Haus der Nachbarn fliehen können. Sein Onkel und dessen Sohn seien geschlagen und mitgenommen worden. Auf Vorhalt aus dem Bundesamtsprotokoll, wonach der Kläger acht Personen gesehen und drei davon als Mujaheddin erkannt habe, hat der Kläger erklärt, dass er die Mujaheddin aus dem Fenster im Nachbarhaus gesehen habe. Drei von ihnen habe er aus ... gekannt. Außer seinem Onkel habe er in Afghanistan keine Familienangehörigen mehr. Er vermute, dass der Onkel in Kabul lebe. Sein Laden und seine Wohnung in ... seien in Brand gesteckt worden.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 15. März 2007 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG. Die in den Vordergrund gestellte Furcht vor Racheakten aufgrund einer Denunziation der beiden Mujaheddin-Kommandanten knüpfe nicht an die Verfolgungsgründe des § 60 Abs. 1 AufenthG an. Soweit der Kläger geltend mache, sein Vater sei Offizier und Mitglied der DVPA gewesen und wahrscheinlich von den Mujaheddin getötet worden, habe er selbst nicht geltend gemacht, aufgrund dieses Umstandes vorverfolgt worden zu sein. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, im Falle der Rückkehr aufgrund der Tätigkeit des Vaters verfolgt zu werden, bestehe nach der Auskunftslage nicht. Auch habe der Kläger weder vor dem Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung eine ihn prägende, unverzichtbare islamische Einstellung dargelegt.

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG bestünden keine Anhaltspunkte. Ein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liege nicht vor. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Rachemaßnahmen von Seiten der Mujaheddin im Sinne einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit sei im Hinblick auf die nicht glaubhafte Fluchtgeschichte nicht gegeben. Wegen der in den Auskünften übereinstimmend geschilderten katastrophalen Versorgungslage, insbesondere in Hinblick auf Unterkunft, Lebensmittel und medizinische Versorgung in Verbindung mit der prekären Sicherheislage in Kabul könne im Übrigen für nicht freiwillig zurückkehrende Afghanen je nach den Umständen des Einzelfalles zwar ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Sinne einer extremen Gefahrenlage bestehen, dies gelte nach Auffassung des Gerichtes allerdings nicht ausnahmslos. Da der Kläger zu keiner besonderen Risikogruppe gehöre, sondern im Gegenteil längere Zeit in Kabul gelebt und nach seiner eigenen Vermutung dort sogar noch Verwandte habe, bestehe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Sperrwirkung aus § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und der danach nur zu prüfenden extremen Gefährdung nicht. Schließlich habe der Kläger auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG i.V.m. Art. 15 lit c) RL oder aus Art. 15 lit c) RL unmittelbar. Ungeachtet der rechtlichen Einordnung dieser Norm und ihres Verhältnisses zu § 60 Abs. 7 AufenthG könne jedenfalls für den Großraum Kabul, in dem der Kläger vor seiner Ausreise gelebt habe und wohin er abgeschoben werden würde, nicht vom Vorliegen eines bewaffneten Konfliktes ausgegangen werden. Dieser völkerrechtliche Begriff erfasse nur Auseinandersetzungen ab einer bestimmten Größenordnung und mit einem bestimmten Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit. Typische Beispiele seien Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Örtlich und zeitlich begrenzte Bandenkriege fielen regelmäßig nicht darunter. Ein Konflikt dieser Größenordnung möge für den Osten, Südosten und Süden Afghanistans angenommen werden, nicht jedoch für Kabul. Zwar komme es auch dort zu Bomben-, Raketen- und Selbstmordanschlägen, von einem bürgerkriegsähnlichen bewaffneten Konflikt könne aber dennoch nicht ausgegangen werden. Die Situation im Raum Kabul sei zwar fragil, aufgrund der Isaf-Präsenz im regionalen Vergleich aber zufriedenstellend und für freiwillige Rückkehrer ausreichend sicher. Es sei nicht so, dass dort jeder jederzeit mit willkürlicher Gewalt rechnen müsse.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 09. Mai 2007 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat mit Beschluss vom 24. August 2007 entsprochen hat, soweit Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder 7 AufenthG begehrt wird.

Im Rahmen seiner Berufungsbegründung macht der Kläger unter Bezugnahme auf seinen bisherigen Vortrag ergänzend geltend, dass die Qualifikationsrichtlinie auch weiterhin unmittelbar anzuwenden sei, weil sie durch das am 28. August 2007 verkündete Änderungsgesetz zum Zuwanderungsgesetz nicht vollständig umgesetzt worden sei. Zur Auslegung des Art. 15 lit c) RL verweist er u.a. auf ein Urteil des VG Stuttgart vom 21. Mai 2007. In tatsächlicher Hinsicht sei davon auszugehen, dass in ganz Afghanistan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrsche.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 15.02.2005 und des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 15.03.2007 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Die Beklagte hat sich im Berufungsverfahren inhaltlich nicht geäußert.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Der Verwaltungsvorgang der Beklagten hat dem Gericht bei der Beratung und Entscheidung vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Akteninhalt, die wechselseitigen Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie die den Beteiligten mitgeteilten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung kann gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben.

Die Berufung ist zulässig. Der Berufungsantrag ist gemäß §§ 125 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass nicht die teilweise Aufhebung, sondern teilweise Änderung des angegriffenen Urteils begehrt wird.

Die Berufung ist allerdings unbegründet, weil das angegriffene Urteil nicht zu ändern ist. Die Ablehnung der begehrten Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 AufenthG ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines dieser Abschiebungsverbote oder sonstigen subsidiären Schutzes.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 AufenthG in der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Fassung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und damit in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), in Kraft getreten am 28. August 2007. Mit diesem Gesetz wurde u.a. die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12, "Qualifikationsrichtlinie"), - RL -in nationales Recht umgesetzt. Soweit der in der Qualifikationsrichtlinie vorgesehene subsidiäre Schutz des Art. 15 RL in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG umgesetzt wird, sind zusätzlich Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und die Art. 6 bis 8 RL anzuwenden (§ 60 Abs. 11 AufenthG). Dies bedeutet u.a., dass es insoweit nicht mehr auf eine staatliche Zurechenbarkeit der jeweiligen Gefahren ankommt (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung - Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG - 2005, § 39 Rdnr. 140).

1.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG liegen nicht vor. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Umgesetzt wird hiermit Art. 15 lit. b) RL (BT-Drs. 16/5065 S. 186), der sich seinerseits mit Wortwahl und Inhalt an Art. 3 EMRK orientiert (Hruschka/Lindner, "Der internationale Schutz nach Art. 15b und c Qualifikationsrichtlinie im Lichte der Maßstäbe des Art. 3 EMRK und § 60 VII AufenthG", NVwZ 2007, 645). Geht die Gefahr der Folter oder unmenschlichen / erniedrigenden Behandlung wie hier geltend gemacht von afghanischen Mujaheddin aus, kann es sich dabei auch um eine beachtliche, weil von nichtstaatlichen Akteuren i.S.d. Art. 6 lit. c) RL ausgehende Gefahr handeln.

Allerdings lässt sich vorliegend keine ausreichende Wahrscheinlichkeit für eine solche Gefahr im Sinne eines ernsthaften Risikos (und nicht nur einer bloßen Möglichkeit, vgl. Marx, Handbuch aaO, § 39 Rdnr. 174) feststellen. Der Prüfungsmaßstab ergibt sich aus Art. 4 Abs. 4 RL. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist. Eine erlittene oder unmittelbar bevorstehende Verfolgung hat das Verwaltungsgericht allerdings nicht feststellen können. Die behauptete Vorverfolgung durch die Mujaheddin hatte der Kläger insbesondere nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft machen können. Das Gericht war vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass seine Angaben zur Fluchtgeschichte nicht zutreffen. Dies gilt sowohl für die behauptete Eroberung des Dorfes durch die Taliban Anfang 2000 als auch für den Überfall im Haus des Onkels Ende 2004. Dem ist zu folgen. Der Kläger ist den vom Verwaltungsgericht nachvollziehbar festgestellten Widersprüchen im Berufungsverfahren nicht entgegengetreten. Etwaige Gründe, warum sonst die daraufhin gewonnene Überzeugungsbildung unrichtig sein sollte, hat er ebenfalls nicht dargetan. Ein ernsthaftes Risiko, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung vonseiten der Mujaheddin oder Angehörigen der erwähnten Kommandanten ausgesetzt zu sein, ist nach alledem nicht erkennbar.

2.

Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 AufenthG liegen nicht vor. In Umsetzung des Art. 15 lit. a) RL (BT-Drs. 16/5065 S. 186) verbietet er die Abschiebung, wenn der Staat, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, diesen wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Abgesehen davon, dass aus den soeben genannten Gründen auch ein ernsthaftes Risiko der Tötung durch die Mujaheddin bzw. örtliche Warlords / Clanchefs verneint werden muss, findet dieses Abschiebungsverbot auf gezielte Tötungen durch nichtstaatliche Gruppierungen von vornherein keine Anwendung. Dies ergibt sich aus dem Begriff der Todesstrafe (Marx, Handbuch aaO, § 38 Rdnr. 11 mwN).

3.

Anhaltspunkte dafür, dass sich über § 60 Abs. 2 oder 3 AufenthG ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergeben sollten, sind nicht ersichtlich. Verletzungen von Art. 3 EMRK sind bereits im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG / Art. 15 lit. b) RL zu prüfen (vgl. Marx, Handbuch aaO, § 41 Rdnr. 9). Die Verletzung anderweitiger Menschenrechtsgarantien, die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Frage kommen (dazu Marx, Handbuch aaO, § 41 Rdnr. 9), sind nicht geltend gemacht.

4.

Schließlich lässt sich auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG feststellen. In seiner seit dem 28. August 2007 geltenden Fassung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat ist abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

a.

Der Senat folgt im Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Einschätzung, dass eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter Berücksichtigung des hier einschlägigen Maßstabes nicht vorliegt. Da Satz 1 keine Norm der Qualifikationsrichtlinie umsetzt (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 187: nur Satz 2) und die in § 60 Abs. 11 AufenthG enthaltene Verweisung auf Richtliniennormen hier nicht gilt, bleibt es hinsichtlich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der bisher auf der Grundlage nationalen Rechts gefundenen Auslegung unter Berücksichtigung ihres heutigen Satz 3 (vorher § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Die Regelung entspricht tatbestandlich dem früheren § 53 Abs. 6 AuslG, so dass weiterhin auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgestellt werden kann (BVerwG, Beschl. v. 23.08.2006 - 1 B 60/06 - in juris). Danach sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, vorrangig bei Anordnungen der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Solche allgemeinen Gefahren können auch dann nicht Abschiebungshindernisse nach Satz 1 begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Die Anwendbarkeit des Satz 1 im Verfahren eines einzelnen Ausländers ist vielmehr "gesperrt", wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht. Ausländer, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp nicht besteht, können deshalb nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG (§ 53 Abs. 6 AuslG) erhalten, wenn keine anderen Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG (§ 53 AuslG) gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, weil er im Falle seiner Abschiebung "dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde". Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer individuellen Abschiebungsschutz zu gewähren (BVerwG, Urt. v. 08.12.1998 - 9 C 4/98 -, BVerwGE 108, 77 ff = InfAuslR 1999, 266 ff mwN). Daran hatte sich auch durch Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 01. Januar 2005 nichts geändert (BVerwG, Beschl. v. 23.08.2006 - 1 B 60/06 - in juris).

Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage im o.g. Sinne ausgesetzt wäre. Der Senat schließt sich der Bewertung der vom Verwaltungsgericht eingeführten Erkenntnisse an. Aus den ergänzend heranzuziehenden Erkenntnismitteln, die den Beteiligten vor der Entscheidung bekannt gemacht worden sind, ergibt sich nichts anderes.

Hinsichtlich der allgemeinen Rückkehrsituation stellt sich die Auskunftslage wie folgt dar: Die allgemeine Sicherheitslage ist weiterhin prekär und verschlechtert sich stetig. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind mangels Kapazitäten, Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin sowie auf Grund von Korruption und Missachtung der Menschenrechte nicht in der Lage, die Sicherheit der Zivilbevölkerung landesweit zu gewährleisten (Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Afghanistan-update v. 11.12.2006; amnesty international - ai -, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Auch in Kabul ist die Sicherheitslage weiter fragil, auch wenn sie auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Bereich als zufriedenstellend eingeschätzt wird. Der UNHCR bezeichnet sie seit Mitte 2002 als "ausreichend sicher". Allerdings gibt es Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellen sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen oder Diebstählen heraus (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007, Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Amnesty international weist darauf hin, dass es in einigen Gegenden in Kabul vor allem nachts, aber auch tagsüber immer öfter zu Schießereien und Überfällen kommt. Die Polizei ist in diesen Fällen nicht in der Lage oder willens, Schutz zu gebieten. Bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle werden nicht selten von Angehörigen der Sicherheitskräfte und der Polizei begangen. Ferner wird auch eine Zunahme von Kindesentführungen festgestellt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Die schlechte Sicherheitslage sowie die verbreitete Korruption bremsen auch die wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 40 % (SFH, Afghanistan-update v. 11.12.2006). Sie stellt vor allem in Kabul ein weiteres erhebliches Problem dar, wo Rückkehrer mit der übrigen Bevölkerung um die wenigen Arbeitsplätze konkurrieren (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Innerhalb der Städte gibt es Unterschiede zwischen denen, die Englisch können und anderen Arbeitssuchenden (Panhölzl "Humanitäre Lage in Kabul" in: Informationsverbund Asyl e.V. <Hrsg.>: Zur Lage in Afghanistan, Berichte, Analysen und Stellungnahmen, 2006). Arbeitskräfte ohne oder mit geringer Ausbildung finden vor allem im informellen Sektor Arbeit, der gekennzeichnet ist durch hohen Wettbewerb, Unzuverlässigkeit, Unregelmäßigkeit, niedriges Einkommen und stärkere saisonale Schwankungen (SFH, Afghanistan -update v. 11.12.2006; Panhölzl aaO). Neben selbständigem Erwerb - Karrenzieher oder Straßenhändler, Heimproduktion von Gütern - und Gelegenheitsjobs stellt die Tageslohnarbeit für rund 30 % aller Familien die Haupteinnahmequelle dar (SFH, Afghanistan-update v. 11. Dezember 2006). Da der herkömmliche Arbeitsmarkt durch das Bevölkerungswachstum überfordert ist, wird die gelegentliche Lohnarbeit bevorzugt, die oft aus Tätigkeiten in der Öffentlichkeit besteht und deshalb noch stärker Männern vorbehalten ist als andere Arbeitsformen, deren Lohnniveau mit jenem der regelmäßigen Lohnarbeit aber vergleichbar ist (Panhölzl aaO). Die von Dr. D bislang abgegebene Einschätzung, dass der Bauboom in Kabul einige Arbeitsplätze biete, werde durch eine Studie der AREU bestätigt. Allerdings sind auch diese Hilfsarbeitertätigkeiten rar und sehr stark am Wettbewerb und saisonalen Schwankungen ausgesetzt. Wer solche Hilfsarbeiten verrichtet, kann höchstens 2,-- Dollar am Tag verdienen (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Seit Ende 2001 ist die Zahl der Einwohner Kabuls von 900.000 auf mehr als 4 Mio. angestiegen; vielen Stadtgebieten droht der Kollaps. Der enorme Bevölkerungszuwachs hat zu einem akuten Mangel an Wohnraum und der Bildung großer Slum-Viertel geführt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH; Panhölzl aaO; Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Trotz einer hohen Anzahl von Wohnprojekten ausländischer Hilfsorganisationen übertrifft der Bedarf an billigem Wohnraum das Angebot bei weitem (Panhölzl aaO). Wohnungen sind praktisch unerschwinglich; bereits einfache Zimmer mit Etagenbad übersteigen das Budget vieler Einwohner (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Ein einfaches Zimmer in den Außenbezirken kostet 15,-- bis 20,-- US-Dollar im Monat, eine primitive 1-Zimmer-Wohnung im Stadtgebiet von Kabul ohne Wasser, Heizung und Kanalisation mindestens 100,-- Dollar (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Etwa 70 % der Haushalte im Stadtgebiet bestehen aus informellen Siedlungen ohne rechtlichen Status. Vor allem alleinstehende Männer haben es schwer, in Kabul eine Wohnung zu finden, weil sie von Wohnungsvermietern als gefährlich erachtet werden (SFH, Afghanistan-update v. 11.12.2006). Während die Caritas schätzt, dass etwa 1 Mio. Einwohner weder über einen ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser verfügen (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH), geht Dr. D davon aus, dass 80 % der Kabuler Einwohner in provisorischen Siedlungen leben, deren Lebensverhältnisse und hygienische Mängel zu Krankheit und Tod führen (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Nach Einschätzung des Ausw. Amtes hat sich die Versorgungslage in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert, jedoch profitieren längst nicht alle Bevölkerungsschichten von dieser verbesserten Lage. Insbesondere die Versorgung mit Wohnraum ist unzureichend, das Angebot knapp und eine Wohnung nur zu hohen Preisen erhältlich (Lagebericht v. 17.03.2007).

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die nicht wohlhabende Bevölkerung wird als unzureichend bezeichnet (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH); 8,9 % der Bevölkerung Kabuls sind unterernährt (Dr. D, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Das RANA-Programm der Europäischen Union für freiwillige Rückkehrer ist Ende April 2007 ausgelaufen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 29.05.2007 an HessVGH). Neben IOM sind Vertreter von UNHCR und dem Ministerium für Flüchtlinge und Wiedereingliederung am Flughafen Kabul vertreten. Letztere geben Informationen über Leistungen afghanischer Stellen und organisieren die Aufnahme in das Jangalak-Zentrum, welches freiwilligen Rückkehrern und Abgeschobenen in den ersten zwei Wochen gleichermaßen offen steht. Beide Gruppen können zudem auf die Fortbildungsveranstaltungen und Stellenangebote der NRO "Arbeitsgemeinschaft Entwicklung und Fachkräfte" zurückgreifen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 31.01.2007 an VG Kassel). Vom UNHCR erhalten Rückkehrer zur Deckung unmittelbarer Bedürfnisse einmalig 12,-- Dollar pro Person, plus 4,-- bis 37,--Dollar pro Person für Transportkosten (Panhölzl aaO; Dr. D, ergänzendes Gutachten vom 24.08.2007). Die Hilfsorganisationen sind angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land nicht in der Lage, Rückkehrer mit Nahrung oder Wohnraum zu versorgen (Dr. D, ergänzendes Gutachten vom 24. 08.2007; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Statt sozialer Sicherungssysteme sind weiterhin Familien und Gemeinschaftsstrukturen des Herkunftsortes für die Absicherung der Rückkehrer zuständig, da der Zugang zur Grundversorgung stark von funktionierenden Sozialnetzen abhängig ist (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; Panhölzl aaO). Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen deshalb auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Eine Rückkehr in andere Gebiete als die der ursprünglichen Heimat kann Afghanen vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellen - sowohl wirtschaftlich als auch die Sicherheitslage betreffend (Panhölzl aaO). Andererseits bringen Afghanen, die im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes in der Mehrzahl einen besseren finanziellen Rückhalt, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit, was ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil verschaffe (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Die Probleme, mit denen sich die Rückkehrer konfrontiert sehen, sollen sich nach Einschätzung des UNHCR nicht von denen anderer Afghanen unterscheiden, aber viel prononcierter sein. Insbesondere die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheit, Versorgung etc. ist mit Problemen behaftet. Die Regierung ist bemüht, den ankommenden Rückkehrern mit der Zuweisung von Land bzw. der Unterbringung in festen Häusern eine Startmöglichkeit zu bieten. Da es allerdings oftmals an einer Langzeitstrategie fehlt, müssen die in den Wintermonaten untergebrachten Rückkehrer zum Sommer wieder in Zeltlager zurückkehren, die nicht als echte Flüchtlingslager angesehen werden können, sondern vielmehr informelle Siedlungen darstellen (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007). Wichtigste Einnahmequelle für 45 % der Rückkehrer in Städten ist die Arbeit als Tagelöhner, während 12 % als "kleine" Selbständige tätig sind und 11 % über keine regelmäßige Einkommensquelle verfügen (Panhölzl aaO). Als Haupthindernis für eine langfristige Integration wird der Mangel an wirtschaftlichen und sozialen Rechten gesehen. Zusätzlich werden Rückkehrer häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen, von Diebstahl, Raubüberfällen oder Entführungen (SFH, Afghanistan-update v. 11.12.2006; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Von der Rückkehr folgender Personengruppen wird abgeraten: Unbegleitete Frauen, ältere Menschen und Minderjährige, alleinerziehende Mütter ohne Ernährer, Gewaltopfer und traumatisierte Personen sowie Personen mit körperlichen/mentalen/chronischen, schwerwiegenden oder ansteckenden Krankheiten (UNHCR: Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan, Mai 2006; SFH, Afghanistan-update v. 11.12.2006).

Die Auskunftslage belegt weiterhin, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich problematisch ist und in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden muss. Sie mag für die oberste Landesbehörde auch ausreichend Anlass bieten, gem. § 60a Abs. 1 AufenthG aus humanitären Gründen einen Abschiebestopp anzuordnen (so schon OVG Münster, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris). Eine extreme Gefahrenlage, wie sie nach der o.g. Rechtsprechung des BVerwG vorliegen müsste, um bei Fehlen eines solchen Abschiebestopps im Einzelfall von einer Abschiebung abzusehen, ist jedoch, wie schon das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, speziell für den Kläger jedenfalls deshalb nicht zu begründen, weil er in Kabul familiäre Unterstützung vorfände. Der Kläger ist alleinstehend und verfügt über eine gute Schulbildung. Er lebte schon vor seiner Ausreise einige Jahre in Kabul und hat dort nach eigenen Angaben noch einen Onkel. Insofern besteht trotz der allgemein schlechten Versorgungslage begründeter Anlass zu der Annahme, dass er in Kabul eine ausreichende Unterkunft und eine Erwerbsmöglichkeit finden kann. Selbst wenn er als Rückkehrer eher Gefahr laufen sollte, Opfer krimineller Übergriffe zu werden, so kann dennoch nicht angenommen werden, dass er "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen" ausgeliefert sein würde (vgl. zu ähnlichen Fällen: OVG Brandenburg, Urt. v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 - in juris; Sächs. OVG, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 - AuAS 2007, 5; OVG Münster, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris).

b.

Darüber hinaus besteht auch kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setzt nunmehr Art. 15 lit. c) RL um (BT-Drs. 16/5065 S. 187). Art. 15 lit. c) i.V.m. Art. 18 und Art. 24 Abs. 2 RL sehen die Gewährung subsidiären Schutzes durch Ausstellung eines Aufenthaltstitels vor für den Fall, dass einer Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Dabei sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, auch hier gem. Satz 3 bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Diese Einschränkung gilt unproblematisch für allgemeine wirtschaftliche Notlagen im Herkunftsland oder krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse, da sie vom Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie nicht umfasst sind (vgl. Erwägungsgrund 9 RL; Hinweise des BMI vom 13.Oktober 2006 zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, Kap. IV, Ziff.2.1, S. 14/19) und folglich auch nicht von Satz 2 (vgl. BT-Drs. 16/5065 S.187), dessen Schutzgewährung sich auf die Fälle des Art. 15 lit. c) RL beschränkt.

aa.

Das von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 lit. c) RL gleichlautend verwendete Tatbestandsmerkmal des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes wird vom Verwaltungsgericht anhand der Definition des BMI in seinen Hinweisen (aaO, Kap. IV, Ziff.2.5, S. 16/19) - jedenfalls für Kabul - verneint. Danach bestehe der innerstaatliche bewaffnete Konflikt erst ab einer bestimmten Größenordnung, erforderlich sei ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit. Typisches Beispiel seien Bürgerkriegssituationen und Guerillakämpfe, während örtlich und zeitlich begrenzte Bandenkriege nicht ausreichten (vgl. schon (BT-Drs. 16/5065 S. 187). Dieser Definition hat sich der HessVGH angeschlossen; auch er fordert eine gegenwärtige landesweite Bürgerkriegssituation und scheidet begrenzte Bandenkriege aus (3. Senat, Urt. v. 9.11.2006 - 3 UE 3238/03.A -, in juris und 8. Senat, Beschl. v. 26.06.2007 - 8 UZ 452/06.A - in AuAS 2007, 202). In Afghanistan fänden bürgerkriegsähnliche bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Taliban und anderen extremistischen Gruppierungen allenfalls im Süden und Südosten, nicht aber in anderen Provinzen und vor allem nicht in der Hauptstadt Kabul statt (HessVGH, 8. Senat aaO). Dieser Auffassung kann allerdings nicht ohne Weiteres gefolgt werden.

Der in Art. 15 lit. c) RL enthaltene Begriff "innerstaatlicher bewaffneter Konflikt" geht auf Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 und damit auf das humanitäre Völkerrecht zurück (VG Stuttgart, Urt. v. 21.05.2007 - 4 K 2563/07 - in InfAuslR 2007, 321, 322; Marx, Handbuch aaO, § 40 Rdnr.11, 12), er ist deshalb nach völkerrechtlichen Grundsätzen zu bestimmen (Hinweise des BMI vom 2. Oktober 2007 zu den wesentlichen Änderungen durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007, Teil I, G IV 4. Rdnr. 156). Die Verbindung zum Völkerrecht ergibt sich auch aus den Erwägungsgründen 11 und 25 RL. Sie verweisen auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und deren Bindung an völkerrechtliche Instrumente. Im Völkerrecht hat sich nach dem 2. Weltkrieg mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass das bestehende Kriegsrecht, basierend auf der klassischen kontinental-europäischen Kriegsauffassung der tatsächlichen Entwicklung nicht mehr standhält. Während der zwischenstaatliche bewaffnete Konflikt zur Ausnahme wird, findet seit Beginn der 90'er Jahre der weitaus überwiegende Prozentsatz organisierter Anwendung von Waffengewalt in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten statt, die überwiegend asymmetrisch verlaufen und an denen allenfalls noch eine der Konfliktparteien ein Staat ist (Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 63 Rdnr. 6, § 64 Rdnr. 1 ff mit Beispielen). Die Rede ist vom "modernen bewaffneten Konflikt" (Ipsen aaO), vom "low intensity war" [nach Creveld] oder vom "neuen Krieg" [nach Münkler] (vgl. Großmann, Die "neuen Kriege" - Logisches und Historisches in: Gemeinsame Sicherheit - ein schwieriger Lernprozess, DSS-Arbeitspapiere Heft 70 - 2004; Marx, Handbuch aaO, § 40 Rdnr. 15, beide mwN). Entsprechend muss sich das Kriegsrecht zum Recht des bewaffneten Konflikts entwickeln, dessen Grundlinien das neue Völkerrecht prägen (Ipsen aaO, § 65 Rdnr. 6, 8 ff). Als Reaktion auf die beschriebene Entwicklung wurden die bisherigen Kodifikationen auf Initiative des IKRK um die vier Genfer Konventionen von 1949 und die dazu verfassten Zusatzprotokolle von 1977 ergänzt. Sie bilden heute die wesentlichen Grundlagen des humanitären Völkerrechts. Eines ihrer Hauptanliegen ist der Schutz der Zivilbevölkerung auch im Sinne eines Individualschutzes: Der an Feindseligkeiten unbeteiligte wie auch der wehrlose Mensch soll vor der Waffengewalt geschützt werden (Ipsen aaO, § 63 Rdnr. 6 - 8; § 65 Rdnr. 3). Der den vier Genfer Konventionen (GK) gemeinsame Art. 3 und das 2. Zusatzprotokoll (ZP II) enthält Regelungen gerade zum Schutz der Opfer nicht internationaler, d.h. interner Konflikte. Dabei formuliert Art. 3 GK einen Mindeststandard, der von jeder der am Konflikt beteiligten Parteien einzuhalten ist, verlangt aber keine subjektive Anerkennung der nichtstaatlichen Konfliktpartei. Indem er sich auf objektive Anwendungsvoraussetzungen beschränkt, stellt er so den humanitären Rahmen für bewaffnete Konflikte internen Charakters dar (Ipsen aaO, § 65 Rdnr. 12 f). Er wird durch das ZP II weiterentwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Anwendungsvoraussetzungen zu ändern. Den Geltungsbereich des Protokolls beschränkt Art. 1 ZP II allerdings auf solche bewaffneten Konflikte, die zwischen Streitkräften einer Vertragspartei und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und das Protokoll anzuwenden vermögen. Falls die strengeren Anwendungsvoraussetzungen des ZP II nicht erfüllt werden, bleibt der Minimalstandard der Genfer Konventionen (Ipsen § aaO, 65 Rdnr. 16). Dieses "Genfer Recht" erweist sich gegen die Auswirkungen von Kampfhandlungen im "modernen bewaffneten Konflikt" noch als weitgehend ungeeignet zum Schutz der Zivilbevölkerung (Ipsen aaO, § 64 Rdnr. 12, § 65 Rdnr. 3 a.E.). Dass der Schutz der Opfer interner bewaffneter Konflikte bislang nicht Gegenstand einer speziellen völkerrechtlichen Regel ist, wird angesichts der aktuellen bewaffneten Konflikte als eine der Hauptschwächen des einschlägigen Völkerrechts gesehen (so Ipsen aaO, § 65 Rdnr. 19).

In Anknüpfung an das Verhältnis von Art. 3 GK zum ZP II und unter Berücksichtigung des Hauptanliegens dieser Regelungen - möglichst umfassender Schutz der Zivilbevölkerung - wird vertreten, den Begriff des internen bewaffneten Konflikts i.S.d. Art. 3 GK möglichst weit zu definieren und immer dann anzunehmen, wenn auf beiden Seiten bewaffnete Kräfte in Feindseligkeiten gegeneinander verstrickt sind, die zwar in vielen Beziehungen einem internationalen Konflikt vergleichbar sind, sich jedoch im Hoheitsgebiet eines einzelnen Staates ereignen (Marx, Handbuch aaO, § 40 Rdnr. 12 mit Verweis auf Jean Pictet [den "Vater der Konventionen"]). Unter Bezugnahme auf den sozialwissenschaftlichen Begriff des "low intensity war" geht Marx weiter davon aus, dass es sich bei dem internen bewaffneten Konflikt i.S.d. Art. 15 lit. c) RL weder um einen Bürgerkrieg handeln muss noch dass die Schwelle des Bürgerkriegs erreicht sein muss. Bei den "neuen Kriegen" stehen sich nicht mehr reguläre Streitkräfte gegenüber; die herkömmliche Symmetrie ist vielmehr aufgelöst. Moderne staatliche Strukturen wie die Unterscheidung zwischen Regierung, Armee und Volk werden, sofern sie sich überhaupt durchsetzen konnten gegen ethnische Gemeinschaften, Stämme und Clans, umgangen und ausgehöhlt. Die oppositionellen Gruppierungen wenden zwar Gewalt an, sind zu einer organisierten Gewaltanwendung jedoch weder fähig noch gewillt. Ebenso wie sich damit die Grenze zwischen Kriegsführung und Terrorismus auflöst, lässt sich auch keine Trennlinie mehr ziehen zwischen Kriegsgebieten und scheinbar friedlichen Zonen. Im Interesse des Schutzes der Zivilbevölkerung und der humanitären Schutzrichtung des Art. 3 der vier GK von 1949 ist deshalb eine möglichst weitreichende Auslegung geboten (Marx, Handbuch, Leitsätze 66 ff, § 40 Rdnr. 11 ff, Zusammenfassung in Rdnr. 32). Auch andernorts wird darauf hingewiesen, dass in Art. 15 lit. c) RL von "Krieg" oder "Bürgerkrieg" ausdrücklich nicht die Rede ist. So seien auch Konflikte im Irak und Afghanistan erfasst, auch wenn dort (noch) nicht von einem Bürgerkrieg die Rede sein könne (Hollmann, Asylfolgeantrag aufgrund der Qualifikationsrichtlinie, Asylmagazin 11/2006, S. 4, 8).

Bei Zugrundelegung dieser völkerrechtlichen Ableitung ist auch die gegenwärtige Konfliktlage in Kabul als Teil eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes anzusehen. Das OVG Münster hatte eine solche Annahme im März d.J. bereits in Erwägung gezogen, weil die zunehmenden bewaffneten Aktionen und gewalttätigen Ausschreitungen aus seiner Sicht "auf einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt hinweisen und sich in diesen einfügen", verbunden mit der Gefahr, "gezielt oder zufällig Opfer eines Übergriffs oder Anschlags zu werden oder in sonstiger Weise von rivalisierenden ethnischen, religiösen oder sonst motivierten Gruppen oder Banden in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit geschädigt zu werden". Dabei manifestiere sich das Willkürhafte der Gewalt (i.S.d. Art. 15 lit. c) RL -"gerade auch in der Unberechenbarkeit und dadurch bedingten mangelnden Ausweichmöglichkeit" (Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris). Entsprechendes muss erst recht bei Betrachtung der gegenwärtigen Verhältnisse gelten:

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich immer weiter verschlechtert und wird als prekär bezeichnet. 2006 wird als das bislang blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 bezeichnet. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kriegsherren, Raubüberfälle, zahllose Landminen und Blindgänger sowie - in einzelnen Gebieten - Gefechte zwischen ausländischen Truppen und Taliban-Kämpfern bilden nicht kalkulierbare Sicherheitsrisiken. Die zunehmende Gewalt beschränkt sich nicht nur auf den Süden und Osten des Landes; Konflikte und Kämpfe breiten sich immer weiter im Land aus und haben auch schon die zentrale Region um Kabul erreicht. Stammesführer aus den Grenzgebieten berichteten von umfangreichen Rekrutierungsaktionen der Taliban für eine groß angelegte Frühlingsoffensive in 2007, die zahlreiche Fronten im Süden eröffnet (SHF, Afghanistan-update v. 11.12.2006; ai, Auskunft an HessVGH v. 17.01.2007; vgl. auch Maaß in: SWP-Aktuell 14, Februar 2007).

Auf Grund der insgesamt zunehmenden Gewalt sollen in den vergangenen zwei Jahren mehr als 7.000 Menschen in Afghanistan getötet worden sein (Spiegel-online v. 28.10.2007), davon im vergangenen Jahr über 2.000 Menschen bei Anschlägen oder Kämpfen, zumeisten Zivilisten (Harpe, "Flüchtlinge, Ab in den Hindukusch" in: Amnesty-Journal v. 01.01.2007) und nach Zählung der Nachrichtenagentur AP seit Jahresbeginn mehr als 5.600 Menschen, die meisten von ihnen in den Reihen der Aufständischen (Spiegel-online v. 06.11.2007).

Tom Koenigs, UN Sonderbeauftragter für Afghanistan, bestätigte in einem Interview, dass sich der Aufstand im Laufe des Jahres 2006 gesteigert hat und, gerade was die Selbstmordattentate betrifft, in 2007 noch schlimmer geworden ist. Die Militärs hätten einige wichtige Siege erfochten, die Aufständischen hingegen ihr Operationsgebiet vergrößert. So habe es in 2007 20 % mehr Anschläge mit Bomben, Selbstmordattentätern oder Mienen gegeben als im vergangenen Jahr. Außerdem gebe es mehr Bezirke, die für Regierungsbeamte oder Ausländer nicht zugänglich seien. Es habe sich in diesem Jahr herausgestellt, dass die Grenzlinie zwischen politischem Kampf und Kriminalität völlig verschwommen sei (FAZ 09.10.2007). Ein Bericht des "Afghanistan NGO Savety Office" (ANSO) stellt für das erste Halbjahr 2007 eine deutliche Steigerung der direkten Kontakte zwischen Taliban und anderen bewaffneten Kämpfern und nicht Regierungsorganisationen fest, vor allem in der Ostregion. Im Zentrum des Landes, im Westen und im Norden hat es bis auf wenige Ausnahmen vor allem kriminelle Vorfälle, im Süden überwiegend konfliktbezogene Vorfälle gegeben. Allgemein übertrafen die Angriffe von Aufständischen auf internationale Truppen und Regierungstruppen in 2007 das Vorjahr um nahezu 100 %. Während in der ersten Jahreshälfte 2006 190 Angriffe gezählt worden seien, sei es in 2007 in der gleichen Zeit zu 341 Angriffen gekommen. Die Eskalation findet zwar hauptsächlich im Süden und Osten statt, doch sind auch neue, kleine "Fronten" im Norden und Westen eröffnet worden. Für dieses Anwachsen gibt es nach Einschätzungen der Sicherheitsorganisation zwei Gründe: Zum einen hätten die Aufständischen ihre Kräfte verstärkt, zum anderen hätten die internationalen Kräfte die Offensive ergriffen und böten so mehr Ziele für die Angreifer. Dabei werden auch neue Techniken und Taktiken der Aufständischen festgestellt (FAZ v. 28.09.2007). Angesichts schwerer Verluste bei Gefechten in 2006 haben die Taliban ihre Strategie geändert. Statt größerer Angriffe auf afghanische und NATO-Tuppen setzen sie nun auf Selbstmordanschläge und Sprengfallen (Die Welt v. 01.10.2007).

Tatsächlich hat sich die Zahl der Selbstmordanschläge radikal islamischer Rebellen nach einer Studie der Vereinten Nationen in Afghanistan binnen eines Jahres um das siebenfache erhöht und ist von 17 Anschlägen in 2005 auf 123 in 2006 angestiegen. Diese Zahlen werden in anderen Quellen zwar nicht exakt, aber doch in ihrer Größenordnung bestätigt (vgl. Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17. März 2007; Dr. D, erg. Stellungnahme v. 24.08.2007). Zugleich wird berichtet, dass die Taliban mit weiteren 2.000 Selbstmordattentätern drohen (Dr. D aaO). Diese Drohung wird als Beleg dafür angesehen, dass sie ihre Militanz weiter steigern, dabei aber ihre bisherige Guerilla-Taktik nicht zugunsten eines offenen Angriffs aufgeben. Weitere potenzielle Attentäter werden auf pakistanischer Seite in Koran-Schulen ausgebildet (Maaß in SWP-Aktuell 14 v. Februar 2007). In der ersten Jahreshälfte wurden bislang 77 Selbstmordattentate gezählt (Nürnberger Nachrichten v. 10.09.2007). Diese Zahl hat sich im Juli und August weiter gesteigert; allein im Juli ist es zu 23 Selbstmordattentaten gekommen (Berliner Zeitung v. 03.09.2007).

Der letzte Selbstmordanschlag in einer Zuckerfabrik in Baghlan im Norden Afghanistans kostete 75 Menschen, darunter 59 Schulkinder, 5 Lehrer und 6 Abgeordnete, das Leben. Damit sind in diesem Jahr landesweit über 200 Menschen bei mehr als 130 Selbstmordanschlägen der Taliban getötet worden (Spiegel-online v. 09.11.2007) und die Zahl aus 2006 schon jetzt erreicht.

Während der Norden Afghanistans bislang weitgehend verschont geblieben ist, haben die Radikal-Islamisten jetzt auch für diese Region verstärkt Aktionen angekündigt. Der Taliban-Anführer Mullah Mansur Dadullah erklärte in einer Internet-Botschaft, die Operationen auf den Norden auszudehnen, um hier die gleichen Verhältnisse zu schaffen wie im Süden. Insofern wird hier mit einer Winter-Offensive auf die deutschen Stützpunkte Mazar-i-Sharif, Kunduz und Faizabad gerechnet. Ziel der militärischen Offensive soll sein, die Afghanen davon zu überzeugen, dass die Regierung in Kabul und die sie unterstützenden westlichen Streitkräfte außer Stande seien, die Sicherheit im Lande zu gewährleisten (Spiegel-online v. 04., 06. und 09.11.2007).

Entsprechend hat sich auch die Sicherheitslage in Kabul seit 2006 in diesem Zusammenhang schrittweise verschlechtert. Es hat Bomben-, Raketen- und Selbstmordanschläge gegeben, bei denen Sicherheitskräfte und Zivilpersonen gestorben sind (SHF, Afghanistan-update, v. 11.12.2006). Konkret berichtet das Auswärtige Amt von einem Autobomben-Anschlag Mitte März 2006 in der Nähe der Universität, von einem Verkehrsunfall und den daraufhin erfolgten Ausschreitungen in weiten Teilen der Innenstadt Ende Mai 2006 und schließlich von mehreren Selbstmordattentaten im September 2006 (Lagebericht v. 17.03.2007). Amnesty international hat die schwereren Anschläge aus dem Zeitraum Mai bis Dezember 2006 in vier Städten exemplarisch in einer Liste zusammengestellt. Nach dieser Liste hat es in Kabul 15 Selbstmordanschläge bzw. Bombenexplosionen gegeben, die zu 49 Toten und zahlreichen Verletzten geführt haben. Nach Einschätzung amnesty internationals sind die Leidtragenden überwiegend afghanische Zivilisten. Auch in der internationalen Berichterstattung setze sich die Erkenntnis durch, dass Kabul schon lange keine Oase der relativen Stabilität mehr sei (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Ferner wird berichtet, dass Kabul seit 2006 Ziel gelegentlicher Raketenbeschüsse geworden ist (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; ai, Auskunft aaO). So sollen etwa am 29. und 31. August insgesamt sechs Raketen in Kabul eingeschlagen sein, jedoch niemanden verletzt haben (Panhölzl, a.a.O.). Angeknüpft wird bei den vorliegenden Einschätzungen immer wieder an den Unfall einer US-Patrouille mit einem afghanischen Taxi im Mai, auf Grund dessen es Demonstrationen, Gewalt und Plünderungen gegeben hat (Berliner Zeitung v. 16.08.2007). Bei den dadurch ausgelösten gewaltsamen Protesten sind 17 Menschen umgekommen. Die Proteste richteten sich sowohl gegen die afghanische Regierung als auch gegen zahlreiche Büros von NGO`s und werden als Zeichen eines tief verwurzelten Ressentiments gegen die internationale Präsenz, der Unzufriedenheit mit der Regierung und mangelnder Sichtbarkeit des Wiederaufbaues gewertet. Allerdings wird es auch für möglich gehalten, dass bewaffnete Gruppen die Situation ausnutzten, um die Stimmung gegen die Regierung weiter aufzuheizen (Panhölzl aaO, S. 15). Der Gewaltausbruch zeige, wie angespannt die Lage auch in Kabul sei. Frustration und Wut bildeten ein gefährliches Potenzial (SHF, Afghanistan-update, v. 11.12.2006).

Seit ihrem Wiedererscheinen 2006 haben die Taliban ihre Machtgebiete stetig Richtung Kabul ausgedehnt. Bis Ende Oktober 2006 soll eine Taliban-Präsenz in Ghazni - etwa eine Autostunde von Kabul entfernt - zu verzeichnen gewesen sein (SHF, Afghanistan-update, v. 11.12.2006). Der Distrikt entwickele sich immer mehr zu einer "No Go Area"; selbst aus der Provinzhauptstadt Ghazni hätten sich die internationalen Hilfsorganisationen zurückgezogen. Ferner gibt es begründete Bedenken, dass die Provinzen Wardak und Logar, die unmittelbar an Kabul angrenzen, von regierungsfeindlichen Gruppen als sichere Rückzugsgebiete für ihre Attacken auf die Hauptstadt genutzt werden. Mit der Strategie, auf Städte, die nicht unter ihrer Kontrolle sind, gezielt Anschläge zu verüben, soll demonstriert werden, wie weit Macht und Gewalt der Aufständischen in die urbanen Zentren reicht (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Auch Dr. D berichtet davon, dass die Taliban in den Provinzen Wardak und Logar, unmittelbar westlich bzw. südlich von Kabul gelegen, sogar über Tag die Straßen beherrschen und die Menschen drangsalieren. Sie sickerten von dort nach Kabul ein und attackierten die Hauptstadt, die keinesfalls mehr als sicher zu bezeichnen sei. Selbst die Vororte Kabuls seien von Taliban und Hekmatyar-Milizen unterwandert. Insbesondere die südlichen Gebiete dienten ihnen als Ausgangspunkt für ihre kriegerischen Aktionen und Selbstmordattentate (erg. Stellungnahme v. 24.08.2007; zur Sicherheitslage im Zentrum des Landes auch UNHCR, Aktualisierte Analyse vom 02.09.2007). Welche Ziele die Taliban mit Blick auf Kabul verfolgen, bleibt unklar. Während einerseits behauptet wird, dass mit einer militärischen Einnahme Kabuls nicht zu rechnen sei, weil die Taliban allein auf eine weitere Destabilisierung der Regierung setzen, wird das Ziel der Taliban andererseits in der Einnahme Kabuls und dem Sturz der Regierung gesehen (SHF, Afghanistan-update v. 11.12.2006). Inzwischen sollen die radikal-islamischen Kämpfer eine Art Gürtel um die Hauptstadt gelegt haben, um sie zu isolieren, ohne sie aber einnehmen zu können. Seitdem sei es zu riskant, die meisten Ausfahrtstraßen Richtung Süden und Südosten zu benutzen (Berliner Zeitung vom 03.09.2007). Schließlich gab auch der UN-Sonderbotschafter in Afghanistan, Tom Koenigs, jüngst die Einschätzung ab, dass sich die Sicherheit auch in Kabul verschlechtert habe, weil es auch hier massive Anschläge mit erheblichen zivilen Opfern gegeben habe. Die Anschläge ereigneten sich auf öffentlichen Plätzen und seien eine Kriegserklärung an die gesamte Gesellschaft. Verglichen mit Kandahar oder Khost seien die Selbstmordanschläge in der afghanischen Hauptstadt allerdings bislang relativ selten. Trotzdem terrorisierten diese Attacken die Bevölkerung und es sei festzustellen, dass auch Kabul nicht mehr sicher sei. Dennoch sei die Situation in Kabul im Vergleich zum Süden des Landes ungleich stabiler (Die Welt v. 08.10.2007 u. FAZ v. 09.10.2007).

Diese Auskunftslage bestätigt den oben dargestellten, vom OVG Münster erwogenen Weg. Nimmt man wegen der humanitären Intention an, dass es einer (bürger-) kriegsähnlichen Situation, in der sich organisierte Verbände gegenüberstehen, nicht bedarf, erscheinen die in Kabul festzustellenden bewaffneten Aktionen, Attentate und gewalttätigen Ausschreitungen als Ausdruck desselben bewaffneten Konflikts, der im Süden und Südosten augenscheinlich ausgetragen wird, sich Richtung Westen und Norden ausbreitet und schließlich in Kabul - wenn auch mit teilweise anderen Methoden - seine Fortsetzung findet.

bb.

Der Senat neigt ferner dazu, die sich aufgrund willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses Konflikts ergebende Gefahr jedenfalls für diejenigen Personen, die davon unmittelbar betroffen sind, auch als hinreichend individuell i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzusehen, ohne dass es zusätzlich der Darlegung besonderer persönlicher Merkmale oder Verfolgungsgründe bedürfte (zur Definition individueller Gefahren bei unmittelbarer Betroffenheit: HessVGH, Beschl. v. 26.06.2007 - 8 ZU 452/06.A - in AuAS 2007, 202 mwN). Eine Übernahme der bisherigen Rechtsprechung zur Abgrenzung von individuellen zu allgemeinen Gefahren, wie es im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG weiterhin zulässig ist (s.o.), dürfte bei richtlinienkonformer Auslegung für § 60 Abs. 7 Satz 2 und 3 AufenthG nicht in Betracht kommen (so aber wohl: Hinweise des BMI zum Richtlinienumsetzungsgesetz aaO, Teil I, G IV 4. Rdnr. 157, 159) und sich auch nicht ohne Weiteres mit einem Verweis auf Erwägungsgrund 26 RL begründen lassen (vgl. Marx, Handbuch aaO, § 40 Rdnr. 53). Die Regelungen der umzusetzenden Qualifikationsrichtlinie selbst enthalten keine zureichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass bei Art. 15 lit. c) RL nur extreme Gefahrenlagen zur Gewährung subsidiären Schutzes führen sollen oder dass die Gewährung unterhalb dieser Schwelle von einer politischen Leitentscheidung abhängig sein sollte (vgl. dazu VG Stuttgart, Urt. v. 21.05.2007 - 4 K 2563/07 - in InfAuslR 2007, 321, 322; Kalkmann, "Die wichtigsten flüchtlingsrechtlichen Neuerungen im Zuwanderungsgesetz", Asylmagazin 9/2007 S. 4, 6; Hruschka/Lindner aaO, S. 649; Hinweise des UNHCR: Die EU-Qualifikationsrichtlinie und ihre Auswirkungen im Flüchtlingsrecht, III. Nr. 1, abgedr. in GK-AsylVfG VIII-1, Stand Febr. 2007; UNHCR-Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - OJ L 304/12 vom 30.9.2004 - zu Art. 15 (c) und zur Begründungserwägung (26); a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 08.08.2007 - A 2 S 229/07 -; zuvor ähnlich OVG Schleswig, 1. Senat, Beschl. v. 22.12.2006 - 1 LA 125/06 - in juris und v. 20.02.2007 - 1 LA 5/07 -).

cc.

Die damit einhergehenden Fragen - einschließlich der daran anknüpfenden Frage nach einer weiterhin unmittelbaren Geltung des Art. 15 lit. c) RL wegen unvollständiger Umsetzung - bedürfen vorliegend allerdings keiner abschließenden Klärung. Nach Auswertung der dargestellten Auskunftslage fehlt es jedenfalls mit Blick auf Kabul an einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Sinne eines ernsthaften Schadens gem. Art 2 lit. e) und Art. 15 lit. c) RL. Nach dem in der Gesetzesbegründung enthaltenen und vom BMI (in seinen Hinweisen vom 13. Oktober 2006 zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG, Kap. Kap. IV, Ziff.2.5, S. 16/19) aufgegriffenen Ansatz würde dies eine "gleichsam unausweichliche" Rechtsverletzung voraussetzen. Dieser Maßstab scheint in Anbetracht der Gesetz gewordenen Formulierung allerdings zu streng. Prognostisch betrachtet ist eine Bedrohung der geschützten Rechtsgüter schon dann "konkret" bzw. "ernsthaft", wenn die hierfür sprechenden Umstände nach ihrer Intensität und Dichte von einem solchen Gewicht sind, dass sich hieraus die ernsthafte Möglichkeit ihrer Verletzung ergibt (Marx, Handbuch aaO, § 40 Rdnr. 43, 44). Hierfür bedarf es folglich auf jeden Fall einer gewissen Dichte der gefährlichen Vorkommnisse (OVG Münster, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris). Der Senat kann sich auch insoweit den Ausführungen des OVG Münster (aaO) anschließen: "Die Bedrohung stellt ebenso ein objektives Faktum dar, wie auch ihre Ernsthaftigkeit über den Bereich subjektiven - von Ängstlichkeit oder Robustheit bestimmten - Empfindens hinausgeht. In der Spannweite zwischen einer quasi absoluten Sicherheit und einer geradezu unausweichlichen Rechtsgutbeeinträchtigung ist daher abwägend nach der Zumutbarkeit einer Rückkehr zu fragen. Dies setzt neben der Berücksichtigung der Häufigkeit einschlägiger Vorkommnisse insbesondere auch die Betrachtung der Größe des betroffenen Gebietes sowie der räumlichen (Schwerpunkt-)Bereiche und ferner der Anlässe und Zielpersonen oder -objekte von gewaltsamen Übergriffen voraus, da sich u.a. danach bestimmt, inwieweit das Verhalten des Einzelnen und seine Entfaltungsmöglichkeiten beeinflusst werden." Zu den insoweit einschlägigen Vorkommnissen und gewaltsamen Übergriffen zählen bewaffnete Aktionen und mit Waffeneinsatz einhergehende Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Ethnien, Religionsrichtungen, Warlords und ihren jeweiligen Anhängern oder auch zwischen Regierungskräften bzw. internationalen Truppen und den Taliban.

Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger nachgereichten Erkenntnisse ist festzustellen ist, dass sich die Sicherheitslage in Kabul, soweit sie von den innerstaatlichen, teils mit Waffeneinsatz einhergehenden Spannungen bestimmt wird, trotz Stationierung internationaler Truppen und trotz Hilfe beim Aufbau der Polizei noch immer weiter verschlechtert. Gleichwohl stellt sie für den in sein Heimatland zurückkehrenden und nach Kabul gelangenden Kläger noch keine ernsthafte individuelle Bedrohung im o.g. Sinne dar. Die maßgeblichen Auseinandersetzungen reichen weiterhin noch nicht so stark nach Kabul hinein, als dass eine einzelne Person dort befürchten müsste, jederzeit und an jedem Ort Opfer solcher bewaffneten Aktionen und gewalttätigen Ausschreitungen zu werden. Im Vergleich zu den landesweiten Verhältnissen in Afghanistan wird zwar auch Kabul nicht mehr als sicher bezeichnet, die dortige Sicherheitslage aber immer noch günstiger als in anderen Gegenden und Städten bewertet. Die maßgeblichen Übergriffe richten sich vorwiegend gegen Einrichtungen des Staates, insbesondere gegen solche der Regierung, gegen die Polizei und das einheimische Militär sowie gegen Repräsentanten ausländischer Schutzmächte. Sind diese nicht ausgemachtes Ziel der Gewaltaktionen, liefern sie häufig doch den Anlass dafür. Aufgrund der zugleich festzustellenden Wahllosigkeit und Beliebigkeit bei Durchführung solcher Aktionen sind zwar auch zivile Opfer zu verzeichnen, doch bleibt die Möglichkeit, in einer Stadt wie Kabul tatsächlich Opfer eines solchen Übergriffs zu werden, für einen einheimischen Zivilisten wie den Kläger doch immer noch eine entfernt liegende.

Die Berufung kann nach alledem keinen Erfolg haben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da entsprechende Zulassungsgründe nicht bestehen, § 132 Abs. 2 VwGO.

Ende der Entscheidung

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