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Beginn der Entscheidung

Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 22.08.2005
Aktenzeichen: 2 MB 30/05
Rechtsgebiete: GO, VwGO


Vorschriften:

GO § 16 g Abs. 3 S. 1
VwGO § 123 Abs. 1
1. § 16 g Abs. 3 Satz 1 GO, wonach über wichtige Selbstverwaltungsaufgaben die Bürgerinnen und Bürger einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren) können, begründet ein sicherungsfähiges öffentliches Recht, soweit das Bürgerbegehren zulässig ist.

2. Vorläufiger Rechtsschutz ist grundsätzlich auf der Grundlage einer Abwägung der öffentlichen und der jeweils beteiligten privaten Interessen zu gewähren.


SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

Az.: 2 MB 30/05

In der Verwaltungsrechtssache

hat der 2. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in Schleswig am 22. August 2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 6. Kammer - vom 15. Juni 2005 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller sind (Mit-)Initiatoren eines Bürgerbegehrens bezüglich des von der Antragsgegnerin beabsichtigten Erwerbs einer bislang landwirtschaftlich genutzten Fläche zum Zwecke der Errichtung einer Neubausiedlung. Durch Bescheid vom 13. Dezember 2002 hat der Landrat des Kreises ... als Kommunalaufsichtsbehörde das Bürgerbegehren für unzulässig erklärt. Widerspruch und Anfechtungsklage blieben erfolglos. Der Senat hat die Berufung zum Verfahren 2 LA 166/04 zugelassen; über die Berufung - 2 LB 19/05 - ist noch keine Entscheidung ergangen.

Mit Beschluss vom 15. Juni 2005 hat das Verwaltungsgericht der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, bis zur Bestandskraft des Bescheides des Landrates des Kreises ... vom 13. Dezember 2002 bzw. bis zur Durchführung des beantragen Bürgerentscheides die ca. 32.000 qm große Fläche nördlich ../westlich .. Weg zu erwerben. Dagegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde vom 01. Juli 2005.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht die Voraussetzungen der Regelung des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO angenommen und eine dem Begehren der Antragsteller Rechnung tragende einstweilige (Sicherungs-)Anordnung getroffen. Die mit der Beschwerde vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung.

Dass auf Grund der konkretisierten Absichten zum Erwerb und der Erschließung der Fläche Eilbedürftigkeit und damit ein Anordnungsgrund gegeben ist, wird auch von der Antragsgegnerin nicht in Zweifel gezogen. Ihrer Auffassung, mit der getroffenen Anordnung werde in unzulässiger Weise die Hauptsache vorweggenommen, ist nicht zu folgen.

In der Hauptsache geht es entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht um die nach § 16 g Abs. 5 Satz 1 GO zu treffende Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Diese Frage ist im Verhältnis zur Kommunalaufsichtsbehörde im Verfahren 2 LB 19/05 zu klären und - wie bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt hat - für die Gewährung des hier begehrten einstweiligen Rechtsschutzes nur mittelbar bedeutsam. Hier geht es im Verhältnis zur Antragsgegnerin darum, vorübergehend Maßnahmen zu verhindern, die das angestrebte Bürgerbegehren obsolet machten. Die vom Verwaltungsgericht getroffene Sicherungsanordnung dient der Erhaltung und Sicherung des tatsächlichen und rechtlichen status quo gegenüber dem beabsichtigten Grundstückserwerb durch die Antragsgegnerin und schafft für die Zukunft weder rechtlich noch tatsächlich irreversible Zustände. Gesichert wird lediglich das Recht der Antragsteller, ein Bürgerbegehren über einen zulässigen Gegenstand durchzuführen.

Das Verwaltungsgericht hat ferner zu Recht angenommen, dass die Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben. Die im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung der Bestimmung des § 16 g Abs. 5 Satz 2 GO steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats. Im Beschluss vom 24. Juni 2004 zum Verfahren 2 MB 53/04 wird dazu ausgeführt:

"Nach § 16 g Abs. 5 Satz 2 GO darf nach Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens bis zur Durchführung des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden. Dieser gesetzliche "Suspensiveffekt" macht einstweiligen Rechtsschutz ab Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens bis zur Durchführung des Bürgerentscheids überflüssig, weil regelmäßig ein Anordnungsgrund nicht gegeben sein dürfte, es sei denn, die Gemeinde ist gewillt, den gesetzlichen "Suspensiveffekt" zu missachten, schließt aber einstweiligen Rechtsschutz im Übrigen nicht aus. Der Landesgesetzgeber wäre hierzu in Abweichung von § 123 VwGO auch nicht befugt. Darüber hinaus gewährleistet auch Art. 19 Abs. 4 GG eine adäquate Form des vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, § 19 Abs. 4 Rdnr. 273)."

Daran ist festzuhalten.

§ 16 g Abs. 3 Satz 1 GO, wonach über wichtige Selbstverwaltungsaufgaben die Bürgerinnen und Bürger einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren) können, begründet ein sicherungsfähiges öffentliches Recht, soweit das Bürgerbegehren zulässig ist (Senatsbeschl. v. 12.09.2002 - 2 M 63/02 -). Die umstrittene Frage der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens ist - wie ausgeführt - im Verfahren 2 LB 19/03 zu klären. Gegenwärtig ist unter Berücksichtigung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG lediglich eine Vorausbeurteilung der Zulässigkeit vorzunehmen. Nach Sinn und Zweck des Eilverfahrens kann es grundsätzlich nicht Aufgabe der Gerichte sein, schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine umfassende rechtliche Prüfung der Hauptsache vorzunehmen. Vorläufiger Rechtsschutz ist grundsätzlich auf der Grundlage einer Abwägung der öffentlichen und der jeweils beteiligten privaten Interessen zu gewähren (BVerfG, Beschl. v. 27.05.1998 - 2 BvR 378/98 -, NVwZ-RR 1999, 217, 218; Beschl. v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, 927, 928 jeweils m.w.N.). Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (BVerfG, Beschl. v. 25.07.1996 - 1 BvR 638/96 -, NVwZ 1997, 479, m.w.N.). In die Folgenabwägung ist hier einzustellen, dass der Erwerb des Grundstücks durch die Antragsgegnerin das angestrebte Bürgerbegehren gegenstandslos machte und die Antragsteller in Bezug auf diesen Gegenstand an der Wahrnehmung ihres gesetzlich verankerten Mitwirkungsrechts bezüglich einer wichtigen Selbstverwaltungsaufgabe ihrer Gemeinde hinderte. Demgegenüber ist dem Vorbringen der Antragsgegnerin nicht zu entnehmen, ob und ggf. welche gravierenden Nachteile ihr durch die ausgesprochene Anordnung entstehen. Eine Fortführung der (wohl) noch nicht abgeschlossenen Bauleitplanung wird davon nicht berührt; die Antragsgegnerin wird lediglich einstweilen gehindert, das fragliche Grundstück zu erwerben. Dass der Erwerb nach endgültiger Klärung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens nicht mehr möglich oder wirtschaftlich erheblich erschwert sein sollte, ist nicht ersichtlich. Daher ist die getroffene Anordnung gerechtfertigt, obwohl der Ausgang des Rechtsstreits über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens als offen anzusehen ist.

Im Beschluss vom 01. März 2005 über die Zulassung der Berufung (2 LA 166/04) hat der Senat ausgeführt, die Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der beantragte Bürgerentscheid nach § 16 g Abs. 2 Nr. 6 GO unstatthaft sei, sei ernstlich zweifelhaft, weil der Bürgerentscheid nicht über die Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen stattfinden solle, sondern über einen von der Gemeinde beabsichtigten Erwerb eines Grundstücks. Auch wenn dieser Grundstückserwerb dem Ziel dienen sollte, die parallel betriebene Bauleitplanung im Sinne der Gemeinde umzusetzen, dürfte zwischen den beiden Vorhaben zu trennen sein. Im Berufungsverfahren werde aber der vom Verwaltungsgericht nicht behandelten Frage nachzugehen sein, ob das Bürgerbegehren - wie in den angefochtenen Bescheiden ausgeführt - unabhängig von § 16 g Abs. 2 Nr. 6 GO auf Grund unzutreffender Begründung unzulässig sein könnte. Auch diese Frage ist weder in dem einen noch im anderen Sinne eindeutig beantwortbar und bedarf nach den oben genannten Maßstäben in diesem Verfahren keiner gesicherten Vorausbeurteilung.

Schließlich wendet die Antragsgegnerin ohne Erfolg ein, dass der Tenor des Beschlusses der Kammer vom 15. Juni 2005 weit über den gestellten Antrag hinausgehe und diese Vorgehensweise nicht von § 88 VwGO gedeckt sei. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO hat das Gericht im Hinblick auf den Inhalt einer einstweiligen Anordnung einen Ermessensspielraum. Dieses Ermessen ist jedoch nicht völlig frei, sondern rechtlich determiniert durch den Zweck der einstweiligen Anordnung, durch den von den Antragstellern gestellten Antrag sowie den selbstverständlichen Grundsatz, dass von der Behörde nichts verlangt werden darf, was ihr tatsächlich oder rechtlich nicht möglich ist (Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 3. Aufl., § 123 Rdnr. 56 m.w.N.). Dabei kann das Gericht nicht nur mit der einstweiligen Anordnung hinter dem Antrag zurückbleiben, sondern unter Umständen auch eine geeignete andere Regelung treffen (Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 123 Rdnr. 28). Dem trägt die vom Verwaltungsgericht getroffene Anordnung Rechnung. Sollte im laufenden Verwaltungsrechtsstreit der Bescheid der Kommunalaufsichtsbehörde bestätigt werden, endete mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung - und damit verbundener Bestandskraft des Bescheides - die Wirkung der Anordnung. Sofern jedoch die Kommunalaufsichtsbehörde antragsgemäß verpflichtet werden sollte, den Antrag auf einen Bürgerentscheid für zulässig zu erklären, wäre die Antragsgegnerin bis zur Durchführung des Bürgerentscheids schon gemäß § 16 g Abs. 5 Satz 2 GO an dem beabsichtigten Erwerb des Grundstücks gehindert. Die Anordnung des Verwaltungsgerichts geht über diesen Schutz zur Rechtsstellung der Antragsteller nicht hinaus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 53 Abs. 3 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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