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Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 30.10.2001
Aktenzeichen: 4 L 130/95
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art 16 a |
Gegenwärtig besteht bei Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei nicht die Gefahr, in völker- oder menschenrechtswidrige Handlungen verwickelt zu werden.
Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht IM NAMEN DES VOLKES Urteil
Verkündet am: 30. Oktober 2001
Aktenzeichen: 4 L 130/95
In der Verwaltungsrechtssache
wegen
Anerkennung als Asylberechtigter
- Berufung -
hat der 4. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 2001 durch den Vizepräsidenten des Oberverwaltungsgerichts ...,, den Richter am Oberverwaltungsgericht ..., den Richter am Oberverwaltungsgericht .... sowie die ehrenamtliche Richterin ... und den ehrenamtlichen Richter ... für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Beteiligten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht - 5. Kammer - vom 27. April 1995 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Die Kostentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abzuwenden, wenn nicht die Beklagte oder der Beteiligte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger ist am 04. Oktober 1974 in A... geboren. Er ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit.
Am 01. März 1993 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter und gab zur Begründung im Wesentlichen an, seit 1988 würde die PKK durch sein Heimatdorf unterstützt. Das Dorf sei deshalb ständig von Sicherheitskräften überfallen worden, die Dorfbewohner seien geschlagen und teilweise auch erschossen worden. In seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung am 25. November 1994 hab der Kläger an, er habe für die kurdische Opposition Flugblätter verteilt. Er sei deshalb den Sicherheitskräften aufgefallen. Außerdem sei er aufgefordert worden, Dorfschützer zu werden. Wegen der Flugblattverteilung sei er festgenommen und für 2 1/2 Wochen inhaftiert und während dieser Zeit gefoltert worden. Man habe ihn dann freigelassen mit der Aufforderung, mit den Sicherheitskräften zusammen zu arbeiten. Er habe Bedenkzeit erbeten und sich dann zur Flucht entschlossen.
Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) vom 08. Dezember 1994 abgelehnt. Der Kläger hat gegen diesen Bescheid am 21. Dezember 1994 Klage erhoben. Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt, er habe sich in der Bundesrepublik bis ins Jahr 1995 hinein an verschiedenen Aktivitäten des kurdischen Widerstandes beteiligt, insbesondere an Demonstrationen und ähnlichem teilgenommen. Darüber hinaus sei sein Cousin A.... zusammen mit seiner Familie in Deutschland als Asylberechtigter anerkannt, sodass auch eine Verfolgung unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft in Betracht komme. In der mündlichen Verhandlung am 27. April 1995 ist der Kläger im Einzelnen zu seinen Asylgründen angehört worden. Er hat dort die von ihm ausgeübten Aktivitäten in der Türkei in Einzelheiten geschildert. Wegen Einzelheiten wird auf die Niederschrift (Bl. 23 ff. der Akten) Bezug genommen.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 27. April 1995 stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Zur Begründung führt das Urteil aus, die vom Kläger vorgetragenen individuellen Gründe seien nicht glaubhaft, weil seine Angaben in seiner schriftlichen Asylbegründung und die in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich seien, ohne dass diese Widersprüche überzeugend aufgelöst werden könnten. Die Anerkennung des Klägers folge indes daraus, dass dieser als Kurde aus den Notstandsgebieten der Türkei einer Gruppenverfolgung unterliege, ohne insoweit eine inländische Fluchtalternative zu haben.
Der Beteiligte hat gegen dieses Urteil die Zulassung der Berufung beantragt, der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 27. Juni 1995 zugelassen. Der Beteiligte beruft sich zur Begründung seiner Berufung darauf, dass von einer Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei keine Rede sein könne, darüber hinaus den in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei von Maßnahmen der Sicherheitskräfte Betroffenen eine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Türkei zur Verfügung stehe.
Der Beteiligte beantragt,
die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er beruft sich zum einen darauf, dass er sich wegen des Verteilens der Flugblätter und der daraufhin erfolgten Festnahme bei seiner Ausreise aus der Türkei zumindest in einer latenten Gefährdungslage befunden habe. Darüber hinaus habe er mittlerweile eine Aufforderung zur Musterung erhalten, der der indes nicht gefolgt sei. Er sei nicht bereit, in der Türkei Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, weil die türkische Armee in menschenrechtswidriger Weise gegen kurdische Volkszugehörige vorgehe. In einer solchen Situation könne die Ableistung des Wehrdienstes von ihm nicht als staatsbürgerliche Pflicht verlangt werden, vielmehr müsse in der ihm drohenden Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung bzw. Wehrdienstverweigerung eine politische Verfolgung gesehen werden, wie sie das Bundesverfassungsgericht in der Regel bei Strafbestimmungen annehme, die nicht dem individuellen Rechtsgüterschutz, sondern dem Schutz des Staates selbst dienten. Letzten Endes sei ihm zumindest Abschiebungsschutz zu bewilligen, weil er sich wegen der von ihm nicht zu vertretenden überlangen Dauer des Asylverfahrens mittlerweile soweit in die Verhältnisse in der Bundesrepublik integriert habe, dass eine erzwungene Rückkehr in die Türkei eine unmenschliche Behandlung darstelle.
Die Beklagte hat sich im Berufungsverfahren zur Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Wegen der Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten in weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten mit den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Beklagten verwiesen. Diese waren - soweit erforderlich - Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beteiligten ist auch in der Sache begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten und zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG verpflichtet. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei keine politische Verfolgung. Ihm steht auch - worüber das Verwaltungsgericht nach der von ihm getroffenen Entscheidung zur Anerkennung nicht zu befinden hatte - kein Anspruch auf Abschiebungsschutz zu.
Die Voraussetzungen, unter denen einem Ausländer Asyl zu gewähren ist, hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend dargelegt. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Ausführungen Bezug genommen. Danach erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für eine Anerkennung und auch für eine Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht.
Die grundsätzlich bedeutsame Frage, derentwegen der Senat die Berufung zugelassen hat, ist inzwischen in seiner Rechtsprechung geklärt. Seit seinem Urteil vom 24. November 1998 - 4 L 18/95 - geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Kurden in den Ostgebieten der Türkei jedenfalls keiner Gruppenverfolgung, sondern allenfalls einer regional begrenzten Verfolgung unterliegen und ihnen insoweit eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, sodass sie nicht landesweit in einer ausweglosen Lage sind. Das, was der Kläger im Verfahren vor dem Bundesamt und vor dem Verwaltungsgericht als Aktivitäten in der Türkei und daraus resultierenden Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte geschildert hat, ist - soweit man die deutlich vorliegenden Widersprüchlichkeiten in seinem Vortrag negiert und diesen als glaubhaft ansieht - das typische Schicksal eines nicht individualisierten, von einer regional begrenzten Gruppenverfolgung betroffenen Kurden aus den Notstandsgebieten, wie sie der genannten Entscheidung des Senats zugrunde gelegen haben. Es bleibt danach festzustellen, dass der Kläger diesen Verfolgungen ohne weiteres durch einen Wechsel seines Wohnorts in andere Teile der Türkei hätte entgehen können und sich somit nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat.
Soweit der Kläger sich im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf exilpolitische Tätigkeiten und die Gefahr sippenhaftähnlicher Verfolgung berufen hat, hat er diesen Vortrag weder in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht noch im Berufungsverfahren weiter verfolgt. Es gibt danach keine Veranlassung, hierauf weiter einzugehen. Der Senat weist insoweit indes auf seine ständige Rechtsprechung sowohl zu dem Komplex exilpolitische Tätigkeiten als auch zu dem Komplex Sippenhaft hin. Danach stellen die vom Kläger geschilderten Teilnahmen an Veranstaltungen exilpolitische Tätigkeiten niedrigen Profils dar, die eine Verfolgung nicht auszulösen vermögen (Urteil des Senats vom 25.07.2000 - 4 L 147/95 -). Hinsichtlich der Gefahr sippenhaftähnlicher Verfolgung ist der vom Kläger benannte Cousin nicht dem Personenkreis zuzurechnen, der eine solche Gefahr nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 28.02.2000 - 4 L 33/97 -) zu vermitteln vermag.
Eine Asylberechtigung des Klägers oder die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil diesem bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine Bestrafung deshalb droht, weil er sich dem Wehrdienst entzogen hat. Der Kläger hat durch Vorlage der Musterungsaufforderung nachgewiesen, dass die türkischen Behörden ihn zum Wehrdienst heranziehen wollen. Er hat sich der Aufforderung zur Musterung durch Fortsetzung seines Aufenthalts in der Bundesrepublik verweigert. Nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften, insbesondere dem Bericht des Rates der Europäischen Union vom 03. September 2001 (CIREA 47) steht fest, dass dem Kläger aufgrund dieser Weigerung bei seiner Rückkehr in die Türkei eine Freiheitsstrafe droht. Der Kläger hat insoweit in den mündlichen Verhandlungen dargelegt, dass es ihm aus Gewissensgründen unmöglich ist, an den menschenrechtswidrigen Aktionen des türkischen Militärs gegen die Angehörigen seiner Volksgruppe im Osten und Südosten der Türkei teilzunehmen bzw. in einer Armee Dienst zu tun, die solche Einsätze, die aus Sicht des Klägers gegen geltendes Völkerrecht und gegen anerkannte Menschenrechte verstoßen, durchführt. Der Senat geht danach davon aus, dass der Kläger zwar den Wehrdienst allgemein nicht aus Gewissensgründen, insbesondere aus religiöser Überzeugung, ablehnt, indes davon überzeugt ist, dass Dienst in der türkischen Armee die Teilnahme an menschen- und völkerrechtswidrigen Aktionen bzw. wenigstens die Unterstützung und Billigung derartiger Aktionen mit sich bringt. Nach Auffassung des Senats ist in einer solchen Konstellation die Anerkennung als Asylberechtigter aufgrund der drohenden Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht von vornherein ausgeschlossen, vielmehr sind die vom Kläger vorgebrachten Gründe grundsätzlich geeignet, eine solche Anerkennung zu begründen.
Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 06.12.1988 - 9 C 22.88 -, BVerwGE 81, 41 ff. und Urteil vom 24.10.1995 - 9 C 3.95 -, DVBl. 1996, 205 ff.) davon aus, dass eine Bestrafung wegen Kriegsdienstverweigerung bzw. Wehrdienstentziehung grundsätzlich keine politische Verfolgung darstellt, gleichgültig aus welchen Motiven der Betroffene den Wehrdienst verweigert. Eine Anerkennung komme vielmehr nur dann in Betracht, wenn bereits die Strafvorschrift als solche ihrer objektiven Gerichtetheit nach an ein asylrelevantes Persönlichkeitsmerkmal anknüpfe oder wenn die Anwendung einer Strafvorschrift, die für sich betrachtet asylrechtlich unerheblich sei, allgemein oder im Einzelfall zum Anlass genommen werde, auf asylrechtlich bedeutsame persönliche Merkmale oder Eigenschaften zuzugreifen (Urteil vom 24.11.1992 - 9 C 70.91 -, DVBl. 1993, 325 ff.). Dieser Rechtsprechung, die in der Literatur Kritik erfahren hat (Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, § 64, Rnr. 10 f., Rnr. 18 ff.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, vor II - 3, Rnr. 119), vermag der Senat nicht zu folgen. Sie ist Ausdruck der vom Bundesverwaltungsgericht in früherer ständiger Rechtsprechung vertretenen Motivationslehre, nach der es für die Frage, ob eine Verfolgung eine politische ist, auf die Gründe ankommt, aus denen der Staat sie betreibt. Sie lässt sich nach Auffassung des Senats in Ansehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 ff.) nicht halten. Nach dieser Rechtsprechung kommt es nicht auf die Motivation des Verfolgerstaates an, sondern darauf, ob Maßnahmen erkennbar auf ein asylerhebliches Merkmal gerichtet sind, den Betroffenen in einem solchen für ihn unverfügbaren Merkmal treffen und damit aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzen. Die asylrechtliche Relevanz derartiger Maßnahmen entfällt nicht dadurch, dass der Staat durch sie das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt (BVerfG a.a.O., Seite 337). Soweit es um strafrechtliche Verfolgung geht, ist zunächst ein geeignetes Entscheidungskriterium für die Abgrenzung von politischer und nichtpolitischer Strafverfolgung die Frage, welche Rechtsgüter durch die entsprechenden Strafnormen geschützt werden. Politische Verfolgung liegt grundsätzlich dann nicht vor, wenn der Staat Straftaten - seien sie auch politisch motiviert - verfolgt, die sich gegen Rechtsgüter seiner Bürger richten (BVerfG a.a.O, Seite 337 f.). Die Verfolgung von Taten, die sich gegen politische Rechtsgüter richten, stellt sich nicht als politische Verfolgung dar, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass sie nicht der mit dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solcher gilt, sondern einer in solchen Taten zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit der Staatenpraxis geläufig ist (BVerfG a.a.O, Seite 338).
Aus dieser Rechtsprechung folgt für den Bereich der Strafverfolgung, dass sie grundsätzlich dann nicht politisch ist, wenn mit den entsprechenden Strafvorschriften individuelle Rechtsgüter der Bürger geschützt werden, andererseits indes grundsätzlich politische Verfolgung darstellt, wenn es um Staatsschutzbestimmungen im weiteren Sinne geht. Im ersteren Fall schlägt die Verfolgung dann in politische um, wenn im Einzelfall die Bestrafung an asylrelevante Merkmale anknüpft, etwa in Form einer schärferen Bestrafung (sogenannter Politmalus). Im zweiten Fall ist die Verfolgung grundsätzlich eine politische, es sei denn, die Strafvorschriften erfassen eine zusätzlich zum Ziel des Schutzes der Integrität bzw. des Bestandes des Staates vorliegende kriminelle Komponente. Für beide Arten von Strafverfolgung gilt somit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, im Falle von Staatsschutzbestimmungen ist damit die Annahme politischer Verfolgung die Regel, die Annahme einer nicht politischen die Ausnahme. Für den Bereich der Wehrdienstverweigerung wird dies etwa dann deutlich, wenn auf Seiten des Betroffenen die Verweigerung auf einer Motivation beruht, die mit asylbegründenden Merkmalen nichts zu tun hat. Ist etwa die Verweigerung bzw. Desertion von bloßer Unlust bzw. Angst vor Gefahr geprägt, scheidet in der Regel eine Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal aus (Funke-Kaiser a.a.O). Gleiches gilt, wenn jemand den Wehrdienst deswegen verweigert, weil er nicht mit der Auffassung seiner Regierung in der politischen Rechtfertigung einer bestimmten militärischen Aktion übereinstimmt (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Anmerkung 171).
Eine Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung ist somit jedenfalls dann politische Verfolgung, wenn sie den Verweigerer in einem asylbegründenden Merkmal trifft. Der Senat übernimmt danach für seine Einschätzung des politischen Charakters einer drohenden Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung bzw. Kriegsdienstverweigerung die Kriterien, die der UNHCR in seinem Handbuch insoweit aufgestellt hat. Danach ist jemand kein Flüchtling, nur weil er aus Furcht, kämpfen zu müssen, oder aus Abneigung gegen den Militärdienst desertiert ist oder den Dienst erst gar nicht angetreten hat (Handbuch, Anmerkung 168). Ein Wehrdienstverweigerer kann als politisch Verfolgter demgegenüber angesehen werden, wenn er dartun kann, dass er aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung wegen seines militärischen Vergehens eine unverhältnismäßig schwere Strafe zu erwarten hätte (Handbuch, Anmerkung 169; insoweit übereinstimmend mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist weiterhin dann politische Verfolgung, wenn der Betroffene darlegen kann, dass die Ableistung des Militärdienstes seine Teilnahme an militärischen Maßnahmen erfordern würde, die im Widerspruch zu seiner echten politischen, religiösen oder moralischen Überzeugung oder auch zu anzuerkennenden Gewissensgründen stehen würden, insbesondere dann, wenn die Wehrdienstverweigerung auf einer ernsten religiösen Überzeugung beruht (Handbuch, Anmerkungen 170 und 172). Zuletzt erkennt der Senat eine politische Überzeugung in Übereinstimmung mit dem Handbuch (Anmerkung 171) auch dann an, wenn die Art der militärischen Aktion, mit der sich der Betreffende nicht identifizieren möchte, von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird.
Neben der asylbegründenden Wirkung einer drohenden Bestrafung wegen Kriegsdienstverweigerung ist zu erwägen, ob eine solche drohende Bestrafung nicht wenigstens ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 9 EMRK darstellt. Die Frage, ob die Gewissensfreiheit des Art. 9 EMRK - ebenso wie die Gewissensfreiheit des Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) - auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung umfasst, ist umstritten (vgl. zum Streitstand Nowack, Kommentar zum IPBPR (CCPR-Kommentar), Art. 18, Rnr. 27 ff.). Der Senat hat sich hierzu keine abschließende Meinung gebildet, tendiert indes angesichts der im internationalen Raum bestehenden Tendenz zur Respektierung der Gewissensentscheidung auf Kriegsdienstverweigerung zur Bejahung dieser Frage.
Die Echtheit und Aufrichtigkeit der Überzeugung bzw. der Gewissensgründe, die ein Asylbewerber für eine Militärdienstverweigerung vorbringt, bedürfen einer eingehenden Prüfung seiner Persönlichkeit und seines persönlichen Hintergrundes, insbesondere der Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Angaben. Dabei wird insbesondere der Zeitpunkt von Bedeutung sein, in dem sich der Betroffene auf die ihm drohende Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung beruft. Ist während des gesamten Verlaufs eines Asylverfahrens von einer solchen Begründung nie die Rede, so wird eine z.B. erstmals in der mündlichen Verhandlung oder in einer Klagebegründung geäußerte diesbezügliche Befürchtung nur glaubhaft sein, wenn der Betroffene für diesen Zeitpunkt seines Vorbringens eine überzeugende Erklärung beibringt. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betroffene zu einem Zeitpunkt sein Heimatland verlassen hat, in dem die Heranziehung zum Wehrdienst für ihn noch keine Rolle spielte. Glaubwürdig wird die geäußerte Furcht vor Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in einem derartigen Fall allerdings auch nur dann sein, wenn sie unmittelbar im Zusammenhang mit der bevorstehenden Einberufung - etwa wegen Erreichen des wehrdienstfähigen Alters - vorgebracht wird.
Aus den dargelegten Grundsätzen ergibt sich für den Kläger keine Gefahr einer politischen Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner Weigerung, den Militärdienst abzuleisten. Der Senat nimmt dem Kläger die für seine Haltung vorgebrachten Gründe ab. Danach kann nicht die Rede davon sein, dass der Kläger etwa jeden Wehrdienst aus Gewissensgründen, insbesondere aus einer bindenden religiösen Überzeugung, ablehnt. Er hat vielmehr eindeutig geltend gemacht, dass er Dienst in der türkischen Armee deshalb nicht leisten könne, weil diese gegen Angehörige seines, des kurdischen Volkes in völker- und menschenrechtswidrigen Einsätzen vorgehe. Es spricht - ohne dass der Senat dies abschließend zu entscheiden hat - einiges dafür, dass eine entsprechende Haltung mit den dem Betroffenen drohenden Folgen bei einer Rückkehr in die Türkei in der Vergangenheit zur Anerkennung als Asylberechtigter hätte führen müssen. Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK im Osten und Südosten der Türkei ist zumindest in nicht geringem Maße über das hinaus gegangen, was zur Terrorbekämpfung nötig gewesen wäre, und hat insbesondere die Zivilbevölkerung in diesen Landesteilen in nicht zu rechtfertigender Weise in die Auseinandersetzung einbezogen. Es hat - das ergibt sich aus allen insoweit in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln - massive Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen Armee und PKK auf Seiten der türkischen Sicherheitskräfte gegeben. Ob dies schon ausgereicht hätte für eine Anerkennung als Asylberechtigter, kann dahinstehen. Denn im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 AsylVfG) hat sich die Situation auch in den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei entscheidend verändert. Nach der Verhaftung Öcalans und der Erklärung eines Waffenstillstandes durch die PKK sind die Kampfhandlungen im Osten und Südosten der Türkei praktisch zum Erliegen gekommen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.07.2001, Seite 7; Bericht des Rates der Europäischen Union "Turkey/Militar Service" vom 03.09.2001 (CIREA 47), Seite 22 f.). Von massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte kann danach zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede mehr sein; soweit vereinzelt in den Auseinandersetzungen mit Kämpfern der PKK solche Verletzungen vorkommen, sind sie wegen ihrer Seltenheit kein Grund, grundsätzlich den Dienst in der türkischen Armee zu verweigern.
Dem Asylbegehren des Klägers kann danach kein Erfolg beschieden sein. Aus den oben dargelegten Gründen kommt auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nicht in Betracht. Auf die Berufung des Beteiligten war danach die Klage abzuweisen.
Auch aus der langen Dauer des Asylverfahrens ergibt sich kein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK (Senat, Beschluss v. 12.10.99 - 4 M 83/99 -; Urteil v. 23.2.99 - 4 L 195/98 -, NordÖR 2000, 124 ff.).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 83 b AsylVfG, § 154 Abs. 1 VwGO; diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt. Der Senat weicht zwar mit seiner Auffassung zur asylrechtlichen Relevanz einer Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, dies wirkt sich indes im Ergebnis aus tatsächlichen Gründen nicht aus, sodass die Entscheidung im Ergebnis auf dieser Abweichung nicht beruht. Gleiches gilt für eine eventuelle grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
Ende der Entscheidung
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