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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 09.11.2005
Aktenzeichen: 2 Sa 159/05
Rechtsgebiete: Richtlinie 98/59/EG, KSchG


Vorschriften:

Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.98 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen
KSchG §§ 17 f.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Sächsisches Landesarbeitsgericht Im Namen des Volkes URTEIL

Az.: 2 Sa 159/05

Verkündet am 09. November 2005

In dem Rechtsstreit

hat das Sächsische Landesarbeitsgericht - Kammer 2 - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... als Vorsitzenden und die ehrenamtlichen Richter Herrn ... und Herrn ... auf die mündliche Verhandlung vom 09.11.2005

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bautzen vom 01.12.2004 - 1 Ca 1280/04 - wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten auf die Berufung des im Ersten Rechtszug unterlegenen Klägers unverändert darüber, ob das sie verbindende Arbeitsverhältnis aufgrund ordentlicher Arbeitgeberkündigung der Beklagten vom 12.07.2004, dem Kläger zugegangen am selben Tag, mit Ablauf des 31.01.2005 sein Ende gefunden hat.

Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens sind die (ebenso wie die Kündigungsschutzklage abgewiesenen) Hilfsanträge des Klägers, die Beklagte zu seiner Prozessbeschäftigung zu verurteilen bzw. ihn im Lager Handelsware wieder einzustellen.

Wegen des Tatbestandes im Ersten Rechtszug wird aufgrund der Regelung in § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils des Arbeitsgerichts Bautzen verwiesen. Dieses hat aufgrund Beweisaufnahme durch Verwertung von Aussagen des ... und der ... als Zeugen dringende betriebliche Erfordernisse erkannt, die die streitgegenständliche Kündigung rechtfertigten.

Der Kläger hat gegen das ihm am 01.02.2005 zugestellte Urteil am 25.02.2005 Berufung eingelegt und diese nach rechtzeitig beantragter Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung bis 08.04.2005 am 08.04.2005 ausgeführt.

Der Kläger hält seine erstinstanzlich auf § 613 a BGB gestützte Rüge ebenso wenig aufrecht wie sein Vorbringen, dass die der Kündigung zugrunde liegende unternehmerische Entscheidung am 30.06.2004 getroffen worden sei.

Der Kläger bleibt aber bei seiner erstinstanzlichen Behauptung, während des Arbeitsverhältnisses regelmäßig im Rahmen des Umbaus der Handelsware eingesetzt worden zu sein. Diese Tätigkeiten würden in erweitertem Umfang über den 31.12.2004 hinaus fortbetrieben.

In der Berufungsverhandlung wurde für den Kläger der Umfang seines Einsatzes im Rahmen der Handelsware auf etwa 10 % geschätzt.

Weiter wurde für ihn vorgetragen, dass er auch im Rahmen der Montagetätigkeiten eingesetzt gewesen sei, wenn auch nicht ohne Zuziehung eines Monteurs. Dabei meint der Kläger den Einsatz im Rahmen eines Montage- und Havariedienstes.

Schließlich macht der Kläger geltend, dass die Kündigung wegen Verstoßes gegen die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 unwirksam sei.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Bautzen vom 01.12.2004 - 1 Ca 1280/04 - festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 12.07.2004, zugegangen am selben Tag, zum 31.01.2005 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte beantragt

Zurückweisung der Berufung.

Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.

Die Massenentlassungsanzeige vom 18.10.2004 sei unter Beachtung der jahrzehntelang geübten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sowie unter Beachtung der ständigen Praxis der Arbeitsverwaltung erfolgt. Die davon abweichende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zu der genannten Richtlinie sei nicht vorhersehbar gewesen.

Ihre Assistentin der Geschäftsleitung - die Zeugin ... - habe sich einige Tage vor dem Ausspruch der Kündigung mit der Arbeitsagentur in Verbindung gesetzt, um die Massenentlassungsanzeige abzustimmen. Hierbei sei die Zeugin dahingehend belehrt worden, dass mit dem Begriff der Massenentlassung i. S. von § 17 KSchG der Ablauf der Kündigungsfrist gemeint sei und nicht der Zeitpunkt der Kündigung.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Denn die - ihrerseits zulässige - Kündigungsschutzklage ist gleichfalls unbegründet. Das Arbeitsgericht Bautzen hat sie durch das angegriffene Urteil zu Recht und aus zutreffenden Erwägungen heraus, denen die Berufungskammer folgt (§ 69 Abs. 2 ArbGG), abgewiesen.

Lediglich mit Blick auf die Berufungsbegründung und -verhandlung sind die folgenden ergänzenden Ausführungen veranlasst:

1. Es kann dahinstehen, ob das Vorbringen des Klägers zutrifft, wonach der Umbau von Handelsware in erweitertem Umfang auch über den 31.12.2004 hinaus fortbetrieben wird. Denn dies würde die Kündigung lediglich dann in einem anderen Licht erscheinen lassen, wenn für den Kläger im Bereich des Umbaus von Handelsware ein freier Arbeitsplatz vorhanden wäre, auf dem er beschäftigt werden könnte.

Das ist jedoch nicht möglich. Denn nach dem unter dem 24.11.1992/21.12.1992 unterzeichneten schriftlichen Arbeitsvertrag der Parteien besteht das Hauptaufgabengebiet des Klägers in der "Durchführung von Schweiß- und Brennschneidearbeiten zur Herstellung von Kesseln, Behältern und Gehäusen". Diese auf die Herstellung der genannten Geräte gerichtete Tätigkeit bezieht sich nicht auf Umbauarbeiten. Schon gar nicht bezieht sie sich auf den Umbau von Geräten, die der Handelsware entstammen.

Nach dem Ergebnis der Berufungsverhandlung war der Kläger im Übrigen auf dem Gebiet des Umbaus von Handelsware mit 10 % nicht in substantiellem Umfang tätig. Eine Veränderung des Vertragsinhalts kann sich demgemäß daraus nicht ergeben. Auch ist nicht quantifiziert, in welchem Umfang sich über den 31.12.2004 hinaus eine Beschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz im Bereich des Umbaus von Handelsware geboten hätte.

In diesem Zusammenhang spielt es jedenfalls keine Rolle, wenn die vom Kläger aufgebotenen Zeugen bestätigen würden, dass der Umbau der Handelsware nicht allein von ihnen fortgeführt werden könne. Denn es würde - die Fortführung unterstellt - der Beklagten obliegen, die Zahl der in diesem Bereich zu beschäftigenden Arbeitnehmer zu bestimmen.

Aufgrund des Inhalts des schriftlichen Arbeitsvertrages der Parteien und der Prozentangabe des Klägers zu seinem Einsatz im Bereich der Handelsware fehlt es auch an einer Vertragsänderung, welche die Beklagte zu einer abteilungsübergreifenden Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten genötigt hätte.

2. Wegen Verstoßes gegen die Regelungen in §§ 17, 18 KSchG kann die Kündigung aus mehreren selbständig tragenden Gründen nicht unwirksam sein:

Für diejenigen Tatsachen, die einen Verstoß gegen jene Regelungen bedingen würden, ist der Kläger darlegungs- und beweispflichtig. Dies bedeutet, dass er zunächst einmal zu den Voraussetzungen der §§ 17, 18 KSchG vortragen müsste. Unzureichend ist es demgegenüber, sich einfach auf die - angebliche - Verletzung von Normen des Europarechts zu beziehen.

Unabhängig von dem Vorstehenden und selbständig tragend gilt Folgendes:

Es ist richtig, dass nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofes (vom 27.01.2005 - C 188/03 [Irmtraut Junk/Wolfgang Kühnel] - NZA 2005, 213) die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen dahin auszulegen sind, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt.

Demgegenüber ist es allerdings ständige und gefestigte Rechtsprechung des zuständigen Senats des Bundesarbeitsgerichts, dass unter "Entlassung" i. S. von § 17 KSchG die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung zu verstehen ist, worauf seitens des Senats in Kenntnis der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ausdrücklich hingewiesen worden ist (BAG vom 24.02. 2005 - 2 AZR 207/04 - dok. in JURIS).

Damit ist "Entlassung" i. S. der §§ 17, 18 KSchG eben nicht gleichbedeutend mit "Kündigung" oder "Kündigungserklärung". Ein der Richtlinie 98/59/EG entsprechendes anderes Verständnis ist aufgrund des nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte eindeutigen Gehalts dieser Bestimmung auch im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht möglich (ArbG Krefeld vom 14.04.2005 - 1 Ca 3731/04 - DB 2005, 892 ff.; Bauer/Krieger/Powiatzka, DB 2005, 445 ff.; Grimm/Borck, EWiR 2005, 213 f.; a. A. etwa Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; Wolter AuR 2005, 135 ff.).

Dies bedeutet im Ergebnis, dass der nationale (hier deutsche) Gesetzgeber eine europäische Richtlinie möglicherweise nur nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat. In einer derartigen Situation kommt jedoch eine unmittelbare Geltung und ein darauf beruhender Anwendungsvorrang der Richtlinie nur vertikal im Verhältnis zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen, nicht auch horizontal im Verhältnis Privater untereinander in Betracht (BAG vom 18.02.2003 - 1 ABR 2/02 - EzA § 7 Arbeitszeitgesetz Nr. 4), weswegen sich der Kläger gegenüber der Beklagten auf die Richtlinie in der vom Europäischen Gerichtshof für maßgebend angesehenen Auslegung - wie ohnedies auf die Richtlinie selbst - nicht berufen kann.

Kein anderes Ergebnis würde sich übrigens einstellen, wenn seit der genannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes unter "Entlassung" auch i. S. von § 17 KSchG nicht die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung, sondern der Ausspruch von Kündigungen zu verstehen wäre:

Würde das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof folgen, würde dies eine Änderung einer lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung voraussetzen. Zwar wirkt auch eine Änderung einer derartigen Rechtsprechung grundsätzlich zurück. Dies gilt jedoch nur, soweit dem die Grundsätze von Treu und Glauben nicht entgegenstehen. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist dann geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbar gelagerte Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde (vgl. bereits BAG vom 18.01.2001 - 2 AZR 619/99 - EzA § 626 BGB Krankheit Nr. 4 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Beklagte musste im Zeitpunkt der Kündigung nicht damit rechnen, dass ihre Kündigung wegen einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG für rechtsunwirksam erklärt werde. Das Bundesarbeitsgericht hat noch mit Urteil vom 18.09.2003 (2 AZR 79/02 - EzA § 17 KSchG Nr. 11), also wenige Monate vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung, seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt und dabei entschieden, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führe; dies folge auch nicht aus einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG. Auch die Arbeitsverwaltung hat bei ihren Auskünften an die Beklagte darauf abgestellt, dass die Pflicht zur Anzeige sich auf die tatsächliche Beendigung der Arbeitsverhältnisse, nicht aber auf den Ausspruch der Kündigungen beziehe. Demgegenüber war für die Beklagte zur damaligen Zeit nicht erkennbar, dass die genannte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wegen einer gegenläufigen Auslegung der sog. Massenentlassungs-Richtlinie durch die Entscheidung des Europäischen Gerichthofes vom 27.01.2005 möglicherweise nicht aufrechterhalten werden kann. Auch wenn der die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes auslösende Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30.04.2003 (36 Ca 19726/02 - EWir 2003, 1133) bereits vorlag, musste die Beklagte angesichts der eindeutigen Rechtsprechung des für sie zuständigen höchsten Gerichts für Arbeitssachen und der hierauf beruhenden damaligen Praxis der Arbeitsverwaltung nicht davon ausgehen, dass die Kündigung aufgrund eines durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes hervorgerufenen "Systemwechsels" im Recht der Massenentlassungen unwirksam sein könnte. Es würde für die Beklagte eine unzumutbare Härte bedeuten, wollte man aus Gründen des Massenentlassungsschutzes der Kündigung die Wirksamkeit versagen. Die Beklagte wäre gezwungen, das Arbeitsverhältnis des Klägers erneut zu kündigen und zumindest die Vergütung bis zum Ablauf der sich ergebenden neuen Kündigungsfrist fortzuzahlen, obzwar sie dazu berechtigt war und allen für sie erkennbaren formalen Erfordernissen gerecht geworden ist (so die zutreffende Begründung des LAG Berlin vom 27.04.2005 - 17 Sa 2646/04 - LAG Report 2005, 267, der zu folgen ist; wie hier unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes LAG Hessen vom 20.04.2005 - 6 Sa 2279/04 - NZA-RR 2005, 522).

II.

Der Kläger hat aufgrund der Regelung in § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner ohne Erfolg gebliebenen Berufung zu tragen.

Gegen dieses Urteil ist kein Rechtsmittel gegeben. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil es an Gründen hierfür fehlt. Die Klage wäre auch dann abzuweisen gewesen, wenn die Rechtsauffassung des Klägers zur Auslegung der §§ 17, 18 KSchG zuträfe, nachdem er zu den gesetzlichen Voraussetzungen schon nicht vorgetragen hat.

Ende der Entscheidung

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