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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 02.07.2008
Aktenzeichen: 1 A 90/08
Rechtsgebiete: SGB VIII, BGB


Vorschriften:

SGB VIII § 27
SGB VIII § 39 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 4
1. Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege im Sinne von § 39 Abs. 1 SGB VIII stellen einen "Annex-Anspruch" zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung dar. Dieser Anspruch steht deshalb nur dem Personensorgeberechtigten zu (wie BVerwG, Urt. v. 12.9.1996 - 5 C 31/95).

2. Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII darf nur im Einklang mit dem Willen des Personensorgeberechtigten gewährt werden. Ein familiengerichtlicher Eingriff, der sich auf das Recht zur Aufenthaltsbestimmung beschränkt, ändert hieran nichts.


SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az.: 1 A 90/08

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege (1.3.2004 bis 14.2.2005)

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Dahlke-Piel, den Richter am Oberverwaltungsgericht Kober und die Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Henke aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 2. Juli 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 8. Dezember 2005 - 5 K 1074/05 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte wendet sich mit seiner vom Senat zugelassenen Berufung gegen seine Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht, für den Kläger Hilfe zur Erziehung in Form von Unterhaltsleistungen (Pflegegeld) für den Zeitraum vom 1.3.2004 bis zum 14.2.2005 zu bewilligen.

Im Juli 1997 wurde der am 1993 geborene Kläger zusammen mit seiner Schwester M. bei den Eheleuten J... zur Pflege untergebracht. Hierzu erließ der Beklagte auf Antrag seines Jugendamtes, das seinerzeit gesetzlicher Vertreter beider Kinder war, am 1.7.1997 einen Bewilligungsbescheid über die Gewährung von Hilfe zur Erziehung. Nachdem die elterliche Sorge am 23.11.1997 auf die Mutter zurückübertragen worden war, bewilligte der Beklagte ihr mit Bescheid vom 19.12.1997 Hilfe zur Erziehung für die Vollzeitpflege beider Kinder bei den Eheleuten J....

Unter dem 17.10.2003 schrieb die Mutter des Klägers an den Beklagten: "Ich beantrage die Änderung der Hilfe für meinen Sohn S..... geb. 22.09.93. Mir sind Tatsachen bekannt geworden, so dass ich einem weiteren Verbleib von S..... in der Pflegefamilie J... nicht mehr zustimmen kann". Daraufhin verfügte der Beklagte mit an die Mutter gerichtetem Bescheid vom 20.10.2003, dass die Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege von S..... bei den Eheleuten J... eingestellt werde. Am gleichen Tag teilte der Beklagte den Eheleuten J... mit, dass das Pflegeverhältnis von S..... bei ihnen zum 20.10.2003 ende und die Hilfe zur Erziehung in Gestalt von Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII zum 20.10.2003 eingestellt worden sei. Am 20.10.2003 holten Mitarbeiter des Beklagten sowie die Mutter den Kläger im Klinikum "S. " ab, wo er sich mit Frau J... aufhielt, und brachten ihn in das Kinderheim F. .

Auf den Antrag der Eheleute J... verfügte das Amtsgericht - Familiengericht - Hainichen mit Beschluss vom 22.10.2003 - 001 F 00540/03 -, dass die Mutter den Kläger unverzüglich an die Eheleute J... herauszugeben habe. Es stelle eine Gefährdung des Kindeswohls dar, wenn der Kläger nicht in seiner Pflegefamilie verbleiben könne. Deshalb sei eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB erforderlich. Gegen die Erziehungseignung der Eheleute J... bestünden keine Bedenken. Der Kläger kehrte auf diesen Beschluss zu den Eheleuten J... zurück und blieb dort. Seinen Beschluss bestätigte das Amtsgericht nach mündlicher Verhandlung durch Beschluss vom 16.12.2003.

Ende 2004 wurde ein gegen die Eheleute J... geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt. Der Beklagte erteilte diesen daraufhin mit Bescheid vom 12.1.2005 eine - neue - Pflegeerlaubnis. Auf den Antrag der Mutter des Klägers bewilligte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 16.2.2005 Hilfe zur Erziehung in Gestalt von Vollzeitpflege für S..... bei den Eheleuten J.... Mit Bescheid vom 28.2.2005 bewilligte der Beklagte ab dem 15.2.2005 Pflegegeld für Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... in Höhe von monatlich 620,50 €.

Am 8.7.2005 beantragten die Eheleute J... die Bewilligung von "wirtschaftlicher Jugendhilfe gemäß § 39 SGB VIII" für den Kläger im Zeitraum 1.3.2004 bis 14.2.2005. Mit Bescheid vom 25.7.2005 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 8.9.2005 zurück, da der Anspruch allein dem sorgeberechtigten Elternteil zustehe.

Der daraufhin erhobenen Klage gab das Verwaltungsgericht Chemnitz statt. Die Klage sei zulässig. Die ursprünglich durch die Eheleute J... erhobene Klage sei als Klage des Klägers, gesetzlich vertreten durch seine sorgeberechtigte Mutter, zulässig. Diese habe ihr Einverständnis erteilt, dass die Eheleute J... den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung für den Kläger geltend machten. Die Klageänderung sei sachdienlich, da der Streitstoff unverändert bleibe und die Änderung der abschließenden Streitbeilegung diene. Die Klage sei auch begründet. Der Kläger bzw. seine Mutter hätten Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Gestalt von Vollzeitpflege bei den Eheleuten J.... Inhaber des Anspruchs sei der Kläger. Soweit für den Anspruch auf Bewilligung des notwendigen Unterhalts des Kindes außerhalb des Elternhauses die Antragstellung oder Zustimmung der sorgeberechtigten Mutter erforderlich sei, liege diese vor. Diese habe mit Schreiben vom 2.7.2005 erklärt: "Auf Grund der Einstellung des Verfahrens, was sich als unbegründet erwiesen hat, möchte ich rückwirkend Hilfe zur Erziehung für meinen Sohn S..... bei den Pflegeeltern J... zum 20.10.03 beantragen". Diese Erklärung stelle keinen neuen Antrag dar. Vielmehr handele es sich hierbei lediglich um eine Konkretisierung ihrer Erklärung vom 17.2.2003 (meint: 17.10.2003). In der mündlichen Verhandlung vom 8.12.2005 habe die Mutter des Klägers klargestellt, dass sie die Unterbringung ihres Sohnes bei den Eheleuten J... als Pflegefamilie, verbunden mit den Unterhaltsleistungen, wünsche. S. Mutter habe mit ihrer Erklärung vom 17.10.2003 auch nicht die Einstellung von Leistungen, sondern die Änderung der Hilfeform begehrt. Der Beklagte habe hingegen, nachdem eine Heimerziehung vom Familiengericht nicht gebilligt worden sei, die Hilfe faktisch eingestellt. Insoweit sei dieser noch offene Hilfebedarf durch den Beklagten zu decken. Dass die Eheleute J... den Unterhaltsbedarf des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum aus eigenen Mitteln bestritten hätten, sei unschädlich. Der Beklagte habe als Träger der Jugendhilfe nicht rechtzeitig Hilfe geleistet.

Auf den Antrag des Beklagten hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 7.2.2008 - 1 B 131/06 - zugelassen.

Zur Begründung seiner Berufung führt der Beklagte aus: Der Anspruch auf "Pflegegeld" setze einen Antrag des Personensorgeberechtigten voraus. Daran fehle es hier. Die personensorgeberechtigte Mutter des Klägers habe am 17.10.2003 beim Beklagten einen Antrag auf Heimerziehung gestellt und ihre Zustimmung zur Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... ausdrücklich widerrufen. Damit fehle es schon an einem Vollzeitpflegeverhältnis, was die Voraussetzung von Leistungen an die Eheleute J... darstelle. Anspruchberechtigt sei zudem allein die personensorgeberechtigte Mutter. Ihr Antrag auf rückwirkende Bewilligung von Pflegegeld an die Eheleute J... begründe keinen Anspruch auf Pflegeleistungen. Die Auslegung dieser Erklärung durch das Verwaltungsgericht verstoße gegen sämtliche Auslegungsregeln.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 8. Dezember 2005 - 5 K 1074/05 - zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der durch die Eheleute J... vertretene Kläger ist der Auffassung, dass die Mitarbeiter des Beklagten es versäumt hätten, die Eheleute J... auf sachdienliche Anträge hinzuweisen, wodurch diese in eine komplizierte Lage gekommen seien. Sie hätten nicht damit rechnen können, dass ungeachtet der Verbleibensanordnung des Amtsgerichts Hainichen eine Einstellung der Unterhalts- und Pflegeleistungen erfolgt. Die sorgeberechtigte Mutter habe zu jedem Zeitpunkt einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung gestellt. Lediglich die Hilfeform habe sie durch ihre Erklärung vom 17.10.2003 geändert.

Dem Senat liegen die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vor. Auf deren Inhalt sowie den der Gerichtsakte über das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht wird wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die durch das Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung des Beklagten zur Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form von Unterhaltsleistungen (Pflegegeld) für den Zeitraum vom 1.3.2004 bis zum 14.2.2005.

Die Berufung ist begründet, da die hier in Rede stehenden Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege im Sinne von § 39 Abs. 1 SGB VIII einen "Annex-Anspruch" zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung darstellen. Dieser Anspruch steht deshalb - nur - dem Personensorgeberechtigten, nicht aber dem - hier als Kläger auftretendem - Kind als auf den Unterhalt Angewiesenen zu (BVerwG, Urt. v. 12.9.1996 - 5 C 31/95 - Rn. 13 bei juris unter Ablehnung der vom Verwaltungsgericht für die Gegenauffassung herangezogenen Literaturmeinung; Urt. v. 4.9.1997 - 5 C 11/96 - Rn. 9 bei juris; OVG NRW, Urt. v. 25.4.2001 - 12 A 924/99 - Rn. 5 bei juris).

Ein anderes Ergebnis ergäbe sich aber auch dann nicht, wenn die Mutter des Klägers an dessen Stelle die hier erhobene Klage verfolgt hätte. Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII darf nur in Einklang mit dem Willen des Personensorgeberechtigten gewährt werden. Dieser entscheidet - solange kein familiengerichtlicher Eingriff in gerade das Recht auf die Beanspruchung von Leistungen der Jugendhilfe vorliegt - im Rahmen seiner Erziehungsverantwortung selbst über die Inanspruchnahme von Hilfen; er kann von diesem Recht Gebrauch machen, muss es aber nicht (BVerwG, Urt. v. 21.6.2001 - 5 C 6/00 - Rn. 10 ff. bei juris). Dieses Recht umfasst nicht nur die Entscheidung über die Frage, ob Hilfe zur Erziehung beansprucht wird sondern auch über die Frage, in welcher Form diese begehrt wird. Der Beklagte war deshalb auf Grund des Schreibens der Mutter des Klägers vom 17.10.2003 verpflichtet, die ihr gewährte Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege des Klägers bei den Eheleuten J... zu beenden. Mit diesem Schreiben hat die Mutter des Klägers geltend gemacht, der Vollzeitpflege ihres Sohnes in dieser Pflegefamilie nicht mehr zuzustimmen. Sie hat damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Form der Hilfegewährung ab sofort nicht mehr in Anspruch nehmen wollte. Daran kann ihre Erklärung vom 2.7.2005 nichts ändern, mit der sie eine rückwirkende Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... ab dem 20.10.2003 beantragt hat. Zur - nachträglichen - Auslegung der unzweideutigen Aussage in ihrem Schreiben vom 17.10.2003 ist dieses Schreiben mangels Zweifeln am Erklärungswert dieses früheren Schreibens nicht geeignet. Als neuer Antrag auf Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... kann das Schreiben vom 2.7.2005 nur eine Hilfegewährung in der gewünschten Form für die Zukunft rechtfertigen. Im Übrigen wurde ihr Antrag vom 2.7.2005 mit - soweit ersichtlich bestandskräftigem - Bescheid vom 22.7.2005 abgelehnt.

An der Bindungswirkung des Schreibens vom 17.10.2003 hat sich für den Beklagten auch nichts durch die Entscheidung des Amtsgerichts - Familiengericht - Hainichen vom 22.10.2003 geändert. Mit der durch diesen Beschluss verfügten Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB ist lediglich in das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter als Teil des ihr zustehenden Sorgerechts eingegriffen worden. Unbeschadet dieser Entscheidung stand ihr aber ungeschmälert das Recht auf Antragstellung für Leistungen der Jugendhilfe zu. Nur wenn auch dieser Bestandteil des Sorgerechts entzogen und dem Beklagten oder den Eheleuten J... übertragen worden wäre, hätte von diesen ein neuer Antrag auf Bewilligung von Vollzeitpflege des Klägers bei den Eheleuten J... gestellt werden können (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.6.2001, a. a. O., Rn. 13 bei juris).

Stand der Mutter des Klägers für den hier maßgeblichen Zeitraum für den Kläger das Sorgerecht im Hinblick auf ihre Berechtigung zur Beanspruchung von Erziehungshilfen zu, wäre eine Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... entgegen ihrem ausdrücklichen Willen rechtswidrig gewesen und hätte die Mutter des Klägers in ihrem Elternrecht verletzt (so ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 21.6.2001, a. a. O., Rn. 10 ff. bei juris). Ihr Antrag vom 17.10.2003 auf Beendigung der Hilfegewährung in Gestalt der Vollzeitpflege bei den Eheleuten J... war deshalb für den Beklagten ungeachtet der Entscheidung des Amtsgerichts bindend. Für einen Anspruch auf Unterhaltsleistungen als an die Hilfe zur Erziehung anknüpfende Annexleistung ist deshalb kein Raum.

Die Kostenentscheidung für das gemäß § 188 VwGO gerichtskostenfreie Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Ende der Entscheidung

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