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Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 16.06.2009
Aktenzeichen: 1 D 71/09
Rechtsgebiete: BAföG, SGB X


Vorschriften:

BAföG § 2 Abs. 1a
SGB X § 45
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

Az.: 1 D 71/09

In der Verwaltungsrechtssache

wegen BAföG

hier: Beschwerde gegen die Nichtbewilligung von PKH

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vizepräsidenten des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts Dr. Grünberg, den Richter am Oberverwaltungsgericht Kober und die Richterin am Verwaltungsgericht Berger

am 16. Juni 2009

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Dresden vom 18. März 2009 - 5 K 1099/08 - wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO) abgelehnt.

Ausgehend von den verfassungsrechtlichen Vorgaben, dem Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, darf die Prüfung der Erfolgsaussichten nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren soll den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht ersetzen, sondern zugänglich machen. Die Anforderungen an die hinreichende Erfolgsaussicht dürfen deshalb nicht überspannt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.6.2006 - 2 BvR 626/06 -, BayVBl. 2006, 677, und Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361). Mithin muss der Erfolg nicht gewiss sein, es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die bereits gegeben ist, wenn ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. P. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., § 166 Rn. 26).

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt mit der Begründung, dass die Klägerin mit ihrer auf die Aufhebung des Bescheides vom 31.08.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.5.2008 gerichteten Klage aus den in den angefochtenen Bescheiden genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Die Klägerin hingegen ist der Auffassung, dass der Bescheid vom 31.3.2005, mit welchem ihr für den Bewilligungszeitraum 11/2004 bis einschließlich 07/2005 Ausbildungsförderung gewährt wurde, nicht zurückgenommen werden konnte. Die Regelung des § 2 Abs. 1a BAföG sei verfassungswidrig, weil sie mangels hierzu erlassener Rechtsverordnung gleichheitswidrig Fälle wie ihren nicht erfasse, in denen Schüler aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht im Haushalt ihrer Eltern leben könnten. Außerdem sei ihr Vertrauen in den Bestand des Bescheides schutzwürdig. Sie habe den Anschriftenwechsel ihrer Mutter nicht grob fahrlässig verschwiegen. Hierzu seien zumindest weitere Ermittlungen in Form der Parteieinvernahme erforderlich. Bereits aus diesem Grund sei ihr für das Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren. Spätestens ab dem 1.6.2005 habe der Beklagte im Übrigen positive Kenntnis vom Wohnortwechsel ihrer Mutter gehabt. Auch bei einer rechtzeitigen Mitteilung des Umzuges hätte sie zumindest für den November 2004 noch einen Anspruch auf Förderung gehabt. Der Beklagte habe die Rücknahmefrist versäumt und außerdem sein Rücknahmerecht verwirkt.

Die Klägerin vermag mit ihren Einwendungen gegen die Versagung der Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht durchzudringen. Gemessen an den eingangs dargestellten Grundsätzen hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine die Gewährung von Prozesskostenhilfe rechtfertigende hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 31.3.2005 nach § 45 SGB X lagen vor. Hiernach darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn er rechtswidrig ist und die sonstigen in § 45 SGB X normierten Voraussetzungen vorliegen. Der Bescheid vom 31.3.2005 war rechtswidrig. Nach § 2 Abs. 1a BAföG wird Ausbildungsförderung für den Besuch einer weiterführenden Berufsfachschule nur geleistet, wenn der Auszubildende nicht bei seinen Eltern wohnt und von der Wohnung der Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte nicht erreichbar ist, einen eigenen Haushalt führt und verheiratet ist oder war oder einen eigenen Haushalt führt und mit mindestens einem Kind zusammenlebt. Unstreitig lagen diese Voraussetzungen im Bewilligungszeitraum 11/04 - 07/05 nicht (mehr) vor. Die Klägerin besuchte seit August 2003 das BSZ ................, um hier die Hochschulreife zu erlangen. Zum 1.8.2003 zog sie aus der elterlichen Wohnung in O..... aus und nahm im Haus der Großeltern in L....... eine eigene (zunächst Neben-)Wohnung. Mit dem Zeitpunkt, zu dem ihre Mutter nach B...... verzog, also spätestens ab dem 1.11.2004, hätte die Klägerin von dieser neuen Wohnung der Mutter aus das BSZ ....... in B...... mühelos erreichen können. Die räumliche Entfernung von Familienwohn- und Ausbildungsstätte rechtfertigte es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, dass die Klägerin nicht in der elterlichen Wohnung lebt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in vergleichbaren Fällen wiederholt ausgeführt, dass nur dann ein Anspruch auf die Gewährung von Ausbildungsförderung besteht, wenn der Auszubildende ausschließlich aus Gründen, die in einem wesensmäßigen Zusammenhang mit der Ausbildung selbst stehen, außerhalb der elterlichen Wohnung untergebracht ist (BVerwG, Urt. v. 6.2.1974, Buchholz 436.36 § 12 BAföG Nr. 1; Urt. v. 23.6.1977, Buchholz a. a. O. Nr. 5; Urt. v. 14.12.1978, BVerwGE 57, 198; Urt. v. 15.11.1979 FamRZ 1980, 506). Andere, insbesondere soziale Gründe, wie zum Beispiel Erwerbstätigkeit des alleinstehenden Elternteils oder beengte Wohnverhältnisse (so BVerwG, Urt. v. 23.6.1977, a. a. O. unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelung), die auf das Ausbildungsverhältnis nur mittelbar einwirken, sind hingegen nicht berücksichtigungsfähig (vgl. auch Rothe/Blanke, BAföG, Kommentar, Teil 2, 5. Auflage 2003, § 2 Rn 24.1.2). Die von der Klägerin mit Blick auf Art. 3 GG formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken an der Regelung des § 2 Abs. 1a BAföG teilt der Senat nicht (s. Beschl. v. 7.1.2009, 1 D 117/08). Sofern ein Auszubildender aus nicht in der Ausbildung selbst liegenden schwerwiegenden sozialen Gründen mit seinen Eltern nicht zusammenwohnen kann, ist Abhilfe nicht durch Mittel der Ausbildungsförderung zu schaffen, sondern gegebenenfalls etwa durch Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe (so z. B.: BVerwG, Urt. v. 15.11.1979, a. a. O.).

Das Vertrauen der Klägerin in den Bestand des Bescheides vom 31.3.2005 war nach dem Stand der sich aus der Behördenakte und dem Vortrag der Beteiligten ergebenden Dinge unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme nicht schutzwürdig im Sinne von § 45 Abs. 2 SGB X. Die Klägerin handelte zumindest grob fahrlässig i. S. v. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X, als sie den Beklagten von der Änderung des Wohnortes der Mutter nicht unverzüglich in Kenntnis setzte. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Erforderlich ist die nach der jeweiligen Sachlage angemessene Sorgfalt, die nach allgemeiner Lebenserfahrung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und der Person des Begünstigten erwartet werden durfte (Vogelgesang in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, SGB X, Kommentar, Stand Juni 2006, K § 45 Nr. 41). Die Klägerin hat die von ihr erwartet werden dürfende Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Zunächst ist festzuhalten, dass es durchaus nicht selbstverständlich ist, dass Jugendliche schon während ihrer Schulausbildung einen eigenen Wohnsitz nehmen. Der eigene Wohnsitz begründet erst beim Hinzutreten der weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a BAföG einen Anspruch auf Ausbildungsförderung schon für eine Schulausbildung an den in § 2 Abs. 1 Nr. 1 BAföG genannten Schulen. Das Besondere dieser Situation muss der Klägerin bewusst gewesen sein, zumal sie im Förderantrag ausdrücklich begründen musste, warum sie nicht mehr in der Familienwohnung lebt. Welche Bedeutung der Wohnsitz der Mutter für die Gewährung von BAföG hat, muss der Klägerin bereits in dem Verfahren auf ihren Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderung vom 11.8.2003 hin klar geworden sein. Immerhin hat sie in der Anlage dieses Antrages ausführliche vergleichende Angaben zu den Verbindungen zwischen B...... und dem früheren Wohnort der Mutter und zwischen B...... und ihrem damaligen Nebenwohnsitz gemacht, um nachzuweisen, dass die räumliche Entfernung zwischen O..... und B...... die Begründung des eigenen Wohnsitzes und damit die Gewährung von Ausbildungsförderung rechtfertigt. Die Klägerin gab im Übrigen mit ihrem Antrag vom 2.8.2004 ausdrücklich auch die Erklärung ab, Kenntnis von ihrer Verpflichtung zu haben, jede Änderung der Familien- und Ausbildungsverhältnisse, über die sie in dieser Erklärung Angaben gemacht hat, unverzüglich dem Amt für Ausbildungsförderung schriftlich anzuzeigen, und welche Folgen es hat, unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen oder Änderungsanzeigen zu unterlassen. Die Angabe des Wohnortes der Mutter ist eine solche im Antragsformular ausdrücklich abgefragte Anzeige der Familienverhältnisse. Der Klägerin hätte die Bedeutung dieser Angabe nach alledem wenigstens bewusst sein müssen.

Da die Mutter der Klägerin ihren Wohnsitz ab dem 1.11.2004 in B...... hatte, hatte die Klägerin seit dem 1.11.2004 keinen Anspruch auf die Gewährung von Ausbildungsförderung mehr.

Der Beklagte hat den Bescheid vom 31.3.2005 unter Einhaltung der in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X normierten Frist von einem Jahr ab Kenntnis der die Rücknahme des Bescheides für die Vergangenheit rechtfertigenden Tatsachen zurückgenommen. Unstreitig hat der Beklagte spätestens am 1.6.2005 durch den BAföG-Folgeantrag der Klägerin Kenntnis erlangt von dem neuen Wohnort der Mutter der Klägerin. Diese Kenntnis gab dem Beklagten Anlass zu weiteren Ermittlungen. Eine Frist für die Ermittlung aller für eine Rücknahmeentscheidung maßgeblichen Umstände aber hat der Gesetzgeber den Behörden nicht gesetzt (vgl. zu § 48 VwVfG: BVerwG, Beschl. v. 12.9.1997 - 3 B 66/97 - zitiert nach juris). Erst mit dem Eingang der Erwiderung des Bevollmächtigten der Klägerin vom 13.9.2006 auf das Anhörungsschreiben des Beklagten vom 12.4.2006 zu einer möglichen Rücknahme des Bescheides vom 31.3.2005 beim Beklagten begann die einjährige Rücknahmefrist zu laufen. Erst jetzt nämlich war der Beklagte in der Lage, über die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 31.3.2005 hinaus auch das Vorliegen der weiteren nach § 45 SGB X erforderlichen Rücknahmevoraussetzungen, insbesondere auch der in der Sphäre der Klägerin liegenden Umstände, zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, z. B. Urt. v. 22.8.2007 - 8 C 6/06 - zitiert nach juris; Urt. v. 20.9.2001, Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 103 m. w. N.).

Der Beklagte hat Recht, den Bescheid vom 31.3.2005 nach Maßgabe des § 45 SGB X nach pflichtgemäßem Ermessen zurückzunehmen, nicht verwirkt. Der Rechtsgedanke der Verwirkung als Unterfall des Grundsatzes von Treu und Glauben ist auch im öffentlichen Recht anwendbar. Für die Annahme der Verwirkung genügt aber - anders als für den Eintritt der Verjährung - nicht der bloße Zeitablauf. Vielmehr setzt sie zusätzlich ein bestimmtes Verhalten des Berechtigten voraus, das geeignet ist, beim anderen Teil die Vorstellung zu begründen, das Recht werde nicht mehr geltend gemacht werden. Außerdem wird eine Verletzung oder Gefährdung berechtigter Interessen des anderen Teils gefordert, etwa weil dieser sich auf die vom Berechtigten erweckte Erwartung, das Recht werde nicht mehr geltend gemacht, einrichten durfte und eingerichtet hat (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u. a. Beschl. v. 29.10.2008 - 2 B 22/08 - zitiert nach juris; Urt. v. 29.8.1996, BVerwGE 102, 33 m. w. N.). An einem solchen Verhalten des Beklagten fehlt es im vorliegenden Fall ebenso wie daran, dass sich die Klägerin (nachweisbar) darauf eingerichtet hat, dass der Beklagte von seinem Recht auf Rücknahme des Bescheides vom 31.3.2005 nicht mehr Gebrauch machen werde.

Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich, da das Verfahren gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei ist und Kosten gemäß § 127 Abs. 4 ZPO i. V. m. § 166 VwGO nicht erstattet werden.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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