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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 29.11.2005
Aktenzeichen: 3 B 782/04
Rechtsgebiete: VwVfG, VwGO, StPO


Vorschriften:

VwVfG § 80 Abs. 2
VwGO § 162 Abs. 2 Satz 2
StPO § 81 b
StPO § 140
Der im erkennungsdienstlichen Vorverfahren typische Zusammenhang mit einem Strafverfahren führt - unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs - grundsätzlich dazu, dass es dem Betroffenen nicht zuzumuten ist, von der Inanspruchnahme eines Bevollmächtigten abzusehen.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

3 B 782/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Ullrich, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald und die Richterin am Verwaltungsgericht Gellner

am 29. November 2005

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 23. Juni 2004 - 14 K 2815/01 - zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Der Streitwert wird für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht auf 670,97 € festgesetzt.

Gründe:

Der Antrag des Beklagten, die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verpflichtet, die Zuziehung eines Bevollmächtigten des Klägers für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte hatte den Kläger mit Verfügung vom 26.2.2001 aus Anlass eines gegen diesen geführten Ermittlungsverfahrens wegen Nötigung im Straßenverkehr (§ 240 StGB) unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und Androhung unmittelbaren Zwangs zur erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81 b Alt. 2 StPO geladen. Nachdem das Verwaltungsgericht dem einstweiligen Rechtsschutzantrag des Klägers gemäß § 80 Abs. 5 VwGO stattgegeben hatte, hob der Beklagte die Verfügung mit Abhilfebescheid vom 26.3.2001 auf. Den Antrag des Klägers, die Zuziehung seines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 17.7.2001, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2001, ab.

Nach § 1 SächsVwVfG i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG sind Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass - ungeachtet der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers in § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, im Vorverfahren eine Vertretung des Widerspruchsführers durch Rechtsanwälte oder sonstige Bevollmächtigte in der Regel weder für üblich noch erforderlich zu halten - die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren von der Prüfung im Einzelfall abhängt. Danach ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts nach § 80 Abs. 2 VwVfG dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen (std. Rspr.; vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.9.2005 - 6 B 39/05 - abgedruckt in JURIS; BVerwG, Beschl. v. 21.9.2003, NVwZ-RR 2004, 5; vgl. auch SächsOVG, Beschl. v. 24.2.2004, SächsVBl.2004, 162 m.w.N. zu § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).

Dieser Maßstab findet auch in Verfahren wegen erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81 b Alt. 2 StPO Anwendung, so dass die Zuziehung zum einen jedenfalls dann notwendig ist, wenn der Betroffene aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten nicht in der Lage ist, den Widerspruch ohne anwaltliche Hilfe zu begründen. Darüber hinaus führt der in diesen Verfahren typische Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungs- oder Hauptverfahren grundsätzlich dazu, dass es dem Betroffenen nicht zuzumuten ist, von der Inanspruchnahme eines Bevollmächtigten abzusehen. Das gilt unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs allein wegen der dem Betroffenen gegenüber stehenden staatlichen Strafgewalt und der daraus resultierenden persönlichen Belastung. Diese ist ungleich höher als die Betroffenheit in Verwaltungverfahren ohne strafrechtlichen Zusammenhang. Zwar ist die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81 b Alt. 2 StPO im Unterschied zur ersten Alternative funktional keine Verfahrenshandlung zur Durchführung eines gegen den Betroffenen gerichteten konkreten Strafverfahrens, sondern eine Verwaltungsmaßnahme, mit der die relevanten Unterlagen vorsorgend für die Erforschung und Aufklärung von Straftaten bereitgestellt werden sollen. Dieser Unterschied wird für den Betroffenen aber regelmäßig deswegen in den Hintergrund treten, weil auch die auf § 81 b Alt. 2 StPO gestützte erkennungsdienstliche Behandlung seine Beschuldigteneigenschaft zur Voraussetzung hat. Die Anordnung knüpft nicht an beliebige Tatsachen an, sondern an ein gegen den Betroffenen als Beschuldigten geführtes Strafverfahren und muss jedenfalls auch aus den Ergebnissen dieses Verfahrens die gesetzlich geforderte Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung herleiten (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.10.1982 - BVerwGE 66, 202). Wegen des damit gegebenen Zusammenhangs zwischen dem Verwaltungsverfahren nach § 81 b Alt. 2 StPO und der Beschuldigtenstellung des Betroffenen hält der Senat den Verzicht auf anwaltlichen Beistand im Vorverfahren grundsätzlich nicht für zumutbar. Aus der maßgeblichen Sicht einer vernünftigen Partei erscheint es ohne Weiteres und unabhängig vom Bildungsstand des jeweils Beschuldigten verständlich, dass sich dieser aufgrund eines gegen ihn anhängigen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens persönlich zu sehr belastet fühlt, um sich in einem erkennungsdienstlichen Verwaltungsverfahren selbst zu vertreten. Anderes wird nur ausnahmsweise etwa dann angenommen werden können, wenn die Rechtswidrigkeit der Maßnahme für den Betroffenen auf der Hand liegt, z.B. weil sie im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Vorwurf angeordnet wird, der nicht Gegenstand des gegen ihn geführten und ihm bekannten Ermittlungsverfahrens ist.

Diesen für das Verwaltungsverfahren geltenden Grundsätzen steht nicht entgegen, dass Auslagen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nach § 467 a StPO erst ab dem Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung nach Klagerücknahme durch die Staatsanwaltschaft erstattet werden, bei Verfahrenseinstellung vor Anklageerhebung also eine Erstattung der Kosten anwaltlicher Vertretung nur im erkennungsdienstlichen Vorverfahren, nicht aber im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erfolgen kann. Grund hierfür ist, dass das Recht, sich nach § 138 Abs. 1 StPO einen Verteidiger seines Vertrauens frei zu wählen, keinen Anspruch des Beschuldigten auf Erstattung sämtlicher dadurch entstandener Auslagen beinhaltet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.11.1984 - BVerfGE 68, 237; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 464 a RdNr. 5) und eine Kostenerstattungsregelung bei Verfahrensbeendigung vor dem genannten Zeitpunkt in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen ist. Demgegenüber ist die Kostenerstattung im Verwaltungsverfahren ausdrücklich geregelt und nach § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO nicht an das Erreichen eines bestimmten Verfahrensstadiums gebunden. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist auch kein Wertungswiderspruch darin zu erblicken, dass eine Kostenerstattung im erkennungsdienstlichen Vorverfahren unabhängig von der Höhe einer Verurteilung möglich sein soll, eine Strafverteidigung nach herrschender Meinung aber erst ab einer drohenden Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung notwendig i.S. von § 140 StPO ist. Dem liegt ein anderes Begriffsverständnis zugrunde. Maßgeblich für die Beurteilung der - die Kostenerstattung auslösenden - Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten ist nach § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO das Kriterium der Unzumutbarkeit, sich selbst zu vertreten. Dieser Gesichtspunkt spielt bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren keine Rolle. Unter den in § 140 StPO geregelten Voraussetzungen muss dem Beschuldigten vielmehr deshalb ein Verteidiger zur Seite gestellt werden, weil der Gesetzgeber das rechtsstaatliche Interesse an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren einschließlich der gebotenen wirksamen Verteidigung des Beschuldigten sicherstellen will. Für die Kostenerstattung im Strafverfahren kommt es hingegen nicht auf die Notwendigkeit der Mitwirkung eines Rechtsanwalts nach § 140 StPO, sondern allein auf die Zulässigkeit einer anwaltlichen Mitwirkung an (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 464 a StPO RdNr. 9; Pfeiffer/Fischer, StPO, 1995, § 464 a RdNr. 7 jeweils m.w.N.).

Davon ausgehend kann dahin stehen, ob der Kläger trotz seiner akademischen Bildung nicht in der Lage war, die sich im Vorverfahren stellenden Fragen ohne anwaltliche Vertretung zu erfassen. Das Verwaltungsgericht hat das letztlich nicht auf den Einzelfall bezogen, sondern mit generalisierenden Erwägungen zur Kompliziertheit erkennungsdienstlicher Verfahren in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht begründet. Ob Verfahren dieser Art generell ein überdurchschnittlicher Schwierigkeitsgrad innewohnt, mag zweifelhaft sein, bedarf aber ebenfalls keiner Entscheidung. Denn jedenfalls war es dem Kläger nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht zuzumuten, sich im erkennungsdienstlichen Vorverfahren selbst zu vertreten. Die Rechtswidrigkeit der Verfügung, die aus Sicht des Beklagten auf der Heranziehung einer falschen Rechtsgrundlage - § 81 b Alt. 2 statt § 81 b Alt. 1 StPO - beruhte, musste sich ihm nicht derart aufdrängen, dass die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes trotz der Belas-tung aufgrund des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens entbehrlich war.

Schließlich ergibt sich keine andere Beurteilung aufgrund des Einwandes des Beklagten, dass der Kläger sich zur Begründung eines von ihm selbst eingelegten Widerspruchs auf die Begründung seines Prozessbevollmächtigten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hätte beziehen können. Ist es dem Betroffenen wegen des Zusammenhangs mit einem gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht zumutbar, sich im Verwaltungsverfahren selbst zu vertreten, so ändert sich hieran nichts dadurch, dass er im einstweiligen Rechtsschutzverfahren einen Rechtsanwalt bevollmächtigt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertentscheidung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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