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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 15.08.2006
Aktenzeichen: 3 BS 241/05
Rechtsgebiete: StVG


Vorschriften:

StVG § 4 Abs. 3 S. 1
StVG § 4 Abs. 3 S. 2
StVG § 4 Abs. 3 S. 3
StVG § 4 Abs. 5
1. Die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG bezeichneten Maßnahmen sind grundsätzlich auch dann (erneut) zu ergreifen, wenn sich die relevanten punkteschwellen zum wiederholten Mal ergeben. Ausnahmsweise bedarf es keiner erneuten Anwendung des Maßnahmenkatalogs, wenn ein Punkteabzug "von oben" - durch Tilgung oder Bonuspunkte - eintritt.

2. Für die Rechtsfolgen, die § 4 Abs. 3 und 5 StVG an das Erreichen oder Überschreiten der Punkteschwellen knüpft, kommt es auf den Tag der Begehung der zu bewertenden Taten an (sog. Tattagprinzip).


SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Beschluss

Az.: 3 BS 241/05

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Entzuges der Fahrerlaubnis; Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO

hier: Beschwerde

hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Ullrich, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald und die Richterin am Verwaltungsgericht Gellner am 15. August 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 2. August 2005 - 1 K 888/05 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt nicht, dass es das Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis anzuordnen.

Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts wurde der Antragsteller am 30.4.2002 bei einem Punktestand von 9 Punkten gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG verwarnt und auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hingewiesen. Nachdem der Punktestand auf 15 angewachsen war, nahm der Antragsteller in der Zeit vom 10.8.2004 bis 4.9.2004 aufgrund einer auf § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG gestützten Anordnung an einem Aufbauseminar teil. Während der Teilnahme reduzierte sich der Punktestand des Antragstellers von 15 (im Zeitpunkt der Anordnung) durch Tilgung einer Ordnungswidrigkeit am 14.8.2004 auf 12 Punkte und erhöhte sich aufgrund einer am 3.9.2004 begangenen Straftat (rechtskräftig seit 22.2.2005) um 10 auf 22 Punkte. Das Verwaltungsgericht hat die wegen Erreichens von 18 Punkten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG verfügte Fahrerlaubnisentziehung für rechtmäßig gehalten und dabei im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Punktestand des Antragstellers nach § 4 Abs. 5 StVG weder auf 13 noch auf 17 Punkte habe reduziert werden müssen.

§ 4 Abs. 5 Satz 1 StVG schreibt eine Reduzierung auf 13 Punkte unter der Voraussetzung vor, dass der Betroffene 14 oder 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen hat. Entsprechend hat nach § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG eine Reduzierung auf 17 Punkte zu erfolgen, wenn der Betroffene 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Behörde die Maßnahmen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergriffen hat. Beide Alternativen sind im Streitfall nicht gegeben. Zwar ist dem Antragsteller einzuräumen, dass die Behörde die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG bezeichneten Maßnahmen grundsätzlich auch dann (erneut) zu ergreifen hat, wenn sich die relevanten Punkteschwellen zum wiederholten Mal ergeben. Insoweit teilt der Senat die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 21.3.2003, DAR 2003, 433), dass nach Sinn und Zweck der Regelungen in § 4 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 StVG die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG nicht nur dann zu ergreifen sind, wenn sich die jeweiligen Punkteschwellen erstmals ergeben, sondern regelmäßig auch in Wiederholungsfällen (ebenso: OVG MV, Beschl. v. 21.6.2006 - 1 M 10/06 - zitiert nach JURIS; BayVGH, Beschl. v. 14.12.2005, DAR 2006, 169; ThürOVG, Beschl. v. 11.11.2003, ThürVBl. 2004, 161; OVG Brandenburg, Beschl. v. 16.7.2003, DAR 2004, 46; a.A.: OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 18.7.2003, DAR 2003, 567). Das gilt aber nicht ausnahmslos und unter den hier gegebenen Umständen nicht hinsichtlich der Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG (1). Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG scheitert hingegen schon daran, dass die Voraussetzungen für die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG bezeichneten Maßnahmen nicht vorliegen (2).

1. Im Anschluss an das Oberverwaltungsgericht Thüringen (Beschl. v. 11.11.2003, aaO) hält der Senat das erneute Ergreifen einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG nur dann für erforderlich, wenn der Betroffene die Grenzen von 8, 14 oder 18 Punkten "von unten", d.h. durch ein seine Fahreignung in Frage stellendes Verhalten erreicht oder überschreitet. Ein Punkteabzug "von oben", sei es durch Tilgung, sei es durch Bonuspunkte, verpflichtet die Behörde dagegen nicht dazu, den Maßnahmenkatalog anzuwenden. Dafür spricht neben dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 StVG ("erreicht oder überschreitet", nicht: "unterschreitet") vor allem die teleologische Erwägung, dass durch die mit dem Punktsystem verbundenen pädagogischen und verkehrspsychologischen Hilfestellungen einem eignungsrelevanten Defizit des Betroffenen begegnet werden soll. Eine Hilfestellung ist aber entbehrlich, wenn der Punktestand durch Teilnahme an einem Aufbauseminar oder einer verkehrspsychologischen Beratung mit der Folge eines Punkterabatts nach § 4 Abs. 4 StVG oder durch längeres verkehrsordnungsgemäßes Verhalten mit der Folge der Tilgung eingetragener Verstöße abgebaut wird.

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass die Antragsgegnerin nicht gehalten war, nach dem 14.8.2004, als der Punktestand des Antragstellers durch Tilgung von 15 auf 12 gesunken war, erneut die für einen Punktestand von 8, aber nicht mehr als 13 Punkten vorgeschriebene Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG durchzuführen. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf 13 Punkte, die diese Verpflichtung zur Voraussetzung hat, scheidet daher aus.

2. Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist sein Punktestand auch nicht nach § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 Punkte zu reduzieren. Voraussetzung dafür wäre, dass die Behörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG hätte ergreifen müssen. Dazu zählen die Anordnung eines Aufbauseminars gemäß Absatz 8 (Satz 1), alternativ dazu - sofern der Betroffene innerhalb der letzten fünf Jahre bereits an einem solchen Seminar teilgenommen hat - eine schriftliche Verwarnung (Satz 2) und unabhängig davon ein Hinweis auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung nach Absatz 9 und eine Unterrichtung darüber, dass bei Erreichen von 18 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird (Satz 3). Keine dieser Maßnahmen musste hier zur Anwendung gelangen.

a) Die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 8 StVG kam nicht in Betracht, da der Antragsteller bei Begehung der Straftat am 3.9.2004, durch die sein Punktestand auf einen Schlag von 12 auf 22 anstieg, bereits an einem Aufbauseminar teilnahm und ein solches, wie aus § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG folgt, nur einmal innerhalb von fünf Jahren absolviert werden kann.

b) Auch die alternativ vorgeschriebene schriftliche Verwarnung musste nicht verfügt werden. Das ergibt sich zwar nicht - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - aus dem Schutzzweck des § 4 Abs. 5 StVG, der vielmehr den atypischen Fall des Erreichens der 18-Punkteschwelle auf einen Schlag mitumfasst (vgl. BT-Drs. 13/6914, S. 50). Wie die Verwendung des Perfekts ("Hat ... teilgenommen") in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG zeigt, besteht die Verpflichtung zur schriftlichen Verwarnung jedoch nur dann, wenn die Teilnahme an dem Aufbauseminar beendet ist. Dass der Gesetzgeber in Fällen der noch andauernden Teilnahme anders als nach Abschluss des Seminars eine Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG nicht alternativ bestimmt, ist deshalb gerechtfertigt, weil von der Anordnung der Teilnahme - solange das Seminar andauert - neben der intendierten Hilfestellung zugleich eine Warn- und Appellfunktion ausgeht, welche von dem Betroffenen wegen der Zwangswirkung sogar nachhaltiger empfunden werden dürfte als eine punktuelle schriftliche Verwarnung. Begeht der Betroffene trotzdem während der Teilnahmephase eine Tat, durch die er die 18-Punkteschwelle erreicht oder überschreitet, ist die Annahme nahe liegend, dass er durch ein Schreiben mit vergleichsweise schwächerer Warnfunktion erst recht nicht belehrbar wäre. Anders verhält es sich erst nach Abschluss des Seminars, da der Fortfall der damit verbundenen Warnfunktion es sinnvoll erscheinen lässt, dem Betroffenen noch einmal die Möglichkeit zu geben, sich unter dem Einfluss einer schriftlichen Verwarnung verkehrsgerecht zu verhalten.

Davon ausgehend greift die Verpflichtung zur schriftlichen Verwarnung im Streitfall deshalb nicht ein, weil der Antragsteller im Zeitpunkt der Tat am 3.9.2004, durch die er die Schwelle von 18 Punkten überschritt, noch bis 4.9.2004 an dem Aufbauseminar teilnahm. Da der Sachverhalt anders zu beurteilen wäre, wenn der Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung der Tat (22.2.2005) maßgeblich wäre, bedarf die vom Senat bislang offen gelassene Frage, ob das sog. Tattag- oder das Rechtskraftprinzip Anwendung findet, der Entscheidung. Für das Rechtskraftprinzip sprechen gewichtige Gründe der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit, da bei seiner Geltung sichergestellt ist, dass die Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung von allen relevanten Verkehrsverstößen Kenntnis hat. Demgegenüber kann das Tattagprinzip zu Unsicherheiten bezüglich des aktuellen Punktestandes führen, weil die Behörde regelmäßig erst nach Eintritt der Rechtskraft durch die Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes von der Begehung des Verkehrsverstoßes Kenntnis erhält. Nach Auffassung des Senats ist das Tattagprinzip jedoch eher als das Rechtskraftprinzip mit dem Sinn und Zweck des Punktesystems vereinbar und daher insgesamt vorzugswürdig. Der abgestufte Maßnahmekatalog ist ein verhältnismäßiger Ausgleich dafür, dass auf der letzten Eingriffsstufe nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG bei Erreichen von 18 oder mehr Punkten die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen gesetzlich vermutet wird. Nach der Gesetzesbegründung ist die grundsätzlich unwiderlegliche Vermutung deshalb gerechtfertigt, weil der betreffende Mehrfachtäter trotz Hilfestellungen durch Aufbauseminare und verkehrspsychologische Beratung, trotz Bonus-Gutschriften und trotz der Möglichkeit von zwischenzeitlichen Tilgungen im Verkehrszentralregister 18 oder mehr Punkte erreicht (BT-Drs. 13/6914, aaO). Die Ungeeignetheitsvermutung soll dabei nur dann greifen, wenn der Fahrerlaubnisinhaber die Möglichkeit hatte, sämtliche Angebote und Hilfestellungen, die das Gesetz auf den jeweiligen Schwellen vorsieht, wahrzunehmen. Ist das nicht der Fall, etwa weil er die Schwelle auf einen Schlag erreicht, ohne dass die Behörde die vorgesehenen Maßnahmen ergriffen hat, so ist der Punktestand gemäß § 4 Abs. 5 StVG zu reduzieren. Systemprägend ist daher die Entscheidung des Gesetzgebers, dem Mehrfachtäter eine Mehrzahl von Möglichkeiten zu bieten, sein Verhalten den Erfordernissen der Verkehrssicherheit entsprechend anzupassen, bevor er sich durch einen Verkehrsverstoß, mit dem er die 18-Punkteschwelle erreicht oder überschreitet, unwiderleglich als ungeeignet erweist. Anknüpfungspunkt aller Maßnahmen ist demzufolge das defizitäre Verhalten des Antragstellers, um dessen Bekämpfung es geht, wohingegen der Zeitpunkt der Rechtskraft bezogen auf Anknüpfungspunkt und Ziel bloßen Zufallscharakter hat. Darüber hinaus scheint es auch wenig konsistent, das Tattagprinzip nur dann als vom Sinn und Zweck des Punktsystems her geboten anzusehen, wenn sich eine nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 StVG vor Eintritt der Rechtskraft durchgeführte Maßnahme tatsächlich nicht mehr zu Gunsten des Betroffenen auswirken könnte, den Umkehrschluss aber zu Lasten des Betroffenen abzulehnen (so aber VG Leipzig, Beschl. v. 21.11.2005 - 1 K 1110/05; vgl. im Übrigen für die Anwendung des Tattagprinzips im Ergebnis wie hier: BayVGH, Beschl. v. 14.12.2005, aaO; OVG Brandenburg, Beschl. v. 16.7.2003, aaO; ThürOVG, Beschl. v. 12.3.2003, NJW 2770; a.A.: OVG Schl.-H., Beschl. v. 6.12.2005; NdsOVG, Beschl. v. 21.1.2003, NJW 2003, 1472).

c) Schließlich war die Antragsgegnerin nicht verpflichtet, den Antragsteller nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 StVG zu unterrichten und auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung hinzuweisen. Das folgt bereits daraus, dass diese Maßnahme nur unabhängig davon anzuwenden ist, ob der Betroffene innerhalb der letzten fünf Jahre bereits an einem Aufbauseminar teilgenommen hat, nicht aber selbstständig auch dann, wenn - wie hier - weder die Voraussetzungen nach Satz 1 noch nach Satz 2 vorliegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).



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