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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 26.06.2008
Aktenzeichen: A 5 B 263/07
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs 1
Abgelehnte Asylbewerber aus Tibet haben bei einer zwangsweisen Rückführung in ihre Heimat allein wegen Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen keine politische Verfolgung zu befürchten.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG

hat der 5. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Raden, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dehoust und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Düvelshaupt ohne mündliche Verhandlung

am 26. Juni 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 11. April 2006 - A 3 K 277/04 - geändert.

Nummer 2 des Bescheides der Beklagten vom 16. März 2004 - 5078441 - 479 - wird aufgehoben.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt - mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt - in beiden Rechtszügen die Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen Nummer 2 des Bescheides der Beklagten vom 16.3.2004, in der dem Beigeladenen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG a. F. gewährt wird. In dem Bescheid wird ausgeführt, der Beigeladene habe glaubhaft gemacht, dass er wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration gegen die Hinrichtung eines Tibeters und des Verdachts separatistischer Betätigung aus politischen Gründen zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Darüber hinaus habe er glaubhaft gemacht, im Zuge seiner Festnahme menschenrechtswidriger Misshandlung ausgesetzt gewesen zu sein und solche erneut bei einer Rückkehr in sein Heimatland befürchten zu müssen.

Die hiergegen vom Kläger erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Chemnitz mit Urteil vom 11.4.2006 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat das Gericht u. a. ausgeführt, es habe zwar Zweifel, ob der Beigeladene Tibet wegen unmittelbar drohender oder bereits stattgefundener politischer Verfolgung verlassen habe. Dazu seien seine Angaben zu den Umständen und Gründen seiner Festnahme in der autonomen Region Tibet durch chinesische Sicherheitskräfte teils nicht nachvollziehbar und teils nicht ausreichend konkret gewesen. Dem weiter nachzugehen sei aber nicht veranlasst, weil das Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu der Überzeugung gelangt sei, dass nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass dem Beigeladenen bei seiner Rückkehr in seine Heimat politische Verfolgungsmaßnahmen drohen. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse sei davon auszugehen, dass tibetischen Flüchtlingen bei einer zwangsweisen Rückführung in ihre Heimat strafrechtliche Konsequenzen drohen, jedenfalls eine vorübergehende Festnahme und damit einhergehend Folter und Misshandlung. Das Gericht bezieht sich hierbei insbesondere auf die zwangsweise Rückführung von 18 zum Teil jugendlichen Tibetern von Nepal nach Tibet am 31.5.2003. Die abgeschobenen Tibeter seien über längere Zeit inhaftiert und unter Anwendung der chinesischen Strafvorschriften zum illegalen Grenzübergang bestraft worden. Ihre Freilassung sei erst nach Zahlung von Bestechungsgeldern von bis zu 500,- € an die örtlichen Behörden erfolgt. Dabei habe es für die chinesischen Behörden offensichtlich keine Rolle gespielt, dass es sich um "einfache" Flüchtlinge und um nicht politisch Aktive handelte. Hierzu verweist das Verwaltungsgericht auf den damals aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes sowie Stellungnahmen der Schweizer Flüchtlingshilfe, der International Campaign for Tibet Deutschland e. V. sowie von Amnesty International. Im Gegensatz zu ethnischen Chinesen sei bei solchen tibetischer Herkunft davon auszugehen, dass die bloße Flucht aus Tibet als "separatistisch" eingestuft werde, weshalb die chinesische Führung an einer Bestrafung von tibetischen Flüchtlingen interessiert sei.

Der Beigeladene hält sich seit August 2006 nicht mehr im Wohnheim auf. Sein tatsächlicher Aufenthalt ist unbekannt.

Auf den Antrag des Klägers hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 7.5.2007 - A 5 B 259/06 - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

In seiner Berufungsbegründung führt der Kläger aus, es lägen keine tragfähigen Quellen dazu vor, dass chinesischen Staatsangehörigen anders als im Regelfall dann politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen sollte, wenn sie tibetanischer Volkszugehörigkeit seien. Im Übrigen verweist er auf seine Ausführungen im Berufungszulassungsverfahren.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 11. April 2006 - A 3 K 277/04 - den Bescheid der Beklagten vom 16.3.2004 in dem von ihm beanstandeten Umfang aufzuheben.

Die Beklagte und der Beigeladene stellen keinen Antrag.

Der Prozessbevollmächtigte des Beigeladenen trägt vor, der Beigeladene habe trotz seines Umzugs mit unbekanntem Aufenthalt nach wie vor ein erhebliches Interesse an Abschiebungsschutz.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Dem Senat liegen der Verwaltungsvorgang der Beklagten (1 Heftung) sowie die Verfahrensakten des Verwaltungsgerichts Chemnitz und die Akten des Zulassungsverfahrens vor. Auf diese Akten sowie auf die im Berufungsverfahren zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet das Gericht gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Der Kläger konnte sich an dem Verfahren beteiligen mit der Folge, dass er von da an alle Befugnisse eines Beteiligten besitzt, zu denen u. a. auch die Befugnis zur Einlegung einer Berufung gehört, die nach § 78 Abs. 2 AsylVfG "den Beteiligten" zusteht. Die Befugnis des Klägers zur Beteiligung folgt aus § 6 Abs. 2 AsylVfG a. F. Diese Vorschrift ist nach § 87b AsylVfG n. F. für - wie hier - vor dem 1.9.2004 anhängig gewordene gerichtliche Verfahren weiter anzuwenden.

Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Nummer 2 des angegriffenen Bescheides der Beklagten vom 16.3.2004 ist rechtswidrig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine Rechtsverletzung ist bei dem Kläger, der im öffentlichen Interesse tätig wird, nicht erforderlich (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 6 Abs. 2 AsylVfG a. F. sowie BVerwG, Beschl. v. 11.3.1983, NVwZ 1983, 413).

Der Beigeladene hat im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil zutreffend festgestellt hat, bestehen Zweifel, ob der Beigeladene Tibet wegen unmittelbar drohender oder bereits stattgefundener politischer Verfolgung verlassen hat. Um diese Zweifel auszuräumen, wäre eine persönliche Befragung des Beigeladenen durch den Senat erforderlich. Da eine solche indes wegen seines Untertauchens nicht möglich ist, ist nach Beweislastgrundsätzen zu entscheiden. Kann das Gericht die erforderliche Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit der Angaben des Asylsuchenden nicht erlangen, geht dies zu Lasten des Asylsuchenden, weil seine Anerkennung als Asylberechtigter oder Abschiebungsschutz voraussetzt, dass er gute Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat und diese vorträgt (vgl. § 15 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG; BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, zitiert nach juris). Davon, dass der Beigeladene wegen einer bereits stattgefundenen oder unmittelbar drohenden politischen Verfolgung Tibet verlassen hat, kann somit nicht ausgegangen werden.

Dem Beigeladenen droht auch nicht allein wegen seiner illegalen Ausreise aus Tibet politische Verfolgung. Das Verwaltungsgericht weist zutreffend darauf hin, dass chinesischen Staatsangehörigen bei einer Rückkehr oder Abschiebung in die Volksrepublik China allein wegen der illegalen Ausreise keine politische Verfolgung droht (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 27.7.2004 - A 5 B 558/04 -). Dies gilt indes grundsätzlich auch für illegal ausgereiste Tibeter. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln droht Personen, die China illegal, d. h. unter Verletzung des Grenzübertrittsbestimmungen verlassen haben, allenfalls eine Geldbuße. Für politisch begründete, unmenschliche oder erniedrigende Repressalien liegen - jedenfalls was aus Deutschland auf dem Luftweg zurückgeführte Asylsuchende anbelangt - keine Anhaltspunkte vor.

Soweit das Verwaltungsgericht Chemnitz zur Begründung seiner abweichenden Auffassung anführt, den Erkenntnismitteln lasse sich entnehmen, dass illegal ausgereiste Tibeter, die zwangsweise zurückgeführt werden, gewöhnlich mehrere Tage bis zu einem Monat inhaftiert und befragt würden, wobei es zu Folter komme, betrifft dies nach den vorliegenden Erkenntnismitteln lediglich im Grenzgebiet zu Nepal aufgegriffene Tibeter. Das Verwaltungsgericht Chemnitz bezieht sich zur Begründung seiner Auffassung im Wesentlichen auf einen Fall, der sich im Mai 2003 zugetragen hatte. Dabei wurden 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet waren, trotz internationaler Proteste durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben. Diese Personen waren in China zunächst vorübergehend in Haft. Als Grund der Verhaftung wurde offiziell "illegaler Grenzübertritt" (ohne notwendige Papiere) genannt. Die Personen wurden zwar anschließend wieder freigelassen, Nichtregierungsorganisationen berichteten aber über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China, Stand: Oktober 2005 - 508-516.80/3 CHN). Inzwischen sind die nepalesischen Behörden zwar wieder zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und überstellen tibetische Flüchtlinge nach Indien. Gleichwohl versuchen die chinesischen Behörden die jedes Jahr mehrere tausend illegalen Grenzgänger von ihrem Vorhaben abzuhalten. Am 30.9.2006 eröffneten chinesische Grenztruppen das Feuer auf eine Gruppe von über 70 unbewaffneten tibetischen Grenzgängern, wobei zwei Personen ums Leben kamen sowie mehrere Personen festgenommen wurden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China, Stand: Februar 2008 - 508-516.80/3 CHN). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln beschränken sich diese Akte exzessiver Gewalt, Verhaftung und Folter aber auf tibetische Grenzgänger, die im Grenzgebiet zu Nepal aufgegriffen werden. Hinweise dafür, dass aus Deutschland zurückgeführte Personen mit politisch begründeten, unmenschlichen oder erniedrigenden Repressalien rechnen müssen, liegen nicht vor. So geht auch die Rechtsprechung fast einheitlich davon aus, dass abgelehnte Asylbewerber aus Tibet bei einer zwangsweisen Rückführung in ihre Heimat allein wegen Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen keine politische Verfolgung zu befürchten haben (VGH BW, Urt. v. 19.3.2002 - A 6 S 150/01 -, nicht beanstandet vom BVerwG: Beschl. v. 5.5.2003 - 1 B 234/02 -; BayVGH, Beschl. v. 12.11.1998 - 2 AA 96.35402 -; VG Ansbach, Urt. v. 28.12.2006 - AN 14 K 06.30211 -; jeweils zitiert nach juris).

Nummer 2 des angegriffenen Bescheides ist somit aufzuheben. Weitere Abschiebungsverbote (§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) sind bei einer Klage des Bundesbeauftragten nicht streitgegenständlich (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.12.2001 - 1 B 217.01 -, zitiert nach juris, zu § 53 AuslG a. F.). Über sie muss deshalb noch im Verwaltungsverfahren entschieden werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO benannten Zulassungsgründe vorliegt.

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde angefochten werden.



Ende der Entscheidung

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