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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 18.08.2003
Aktenzeichen: 1 U 627/03
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 233
Eine generelle Fürsorgepflicht des angegangenen, für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern, besteht nicht.

Die "nachwirkende Fürsorgepflicht" trifft regelmäßig nur das Gericht, das "im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst" gewesen ist.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

1 U 627/03

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Pfalzer, die Richterin am Oberlandesgericht Zimmermann-Spring und den Richter am Landgericht Spitzer am 18.08.2003

beschlossen:

Der Antrag des Klägers und Berufungsklägers, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung zu gewähren, wird zurückgewiesen.

Seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichtes A. vom 5.5.2003 wird als unzulässig verworfen.

Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 2.096,30 € ( = 4.100,00 DM ) festgesetzt.

Gründe:

I.

Mit Urteil vom 05.05.2003, welches dem Prozessbevollmächtigten des im Ausland residierenden Klägers am 07.05.2003 zugestellt worden ist, hat das Amtsgericht A. dessen auf Kaufpreiszahlung gerichtete Klage abgewiesen. Mit an das Landgericht G. erichtetem Schriftsatz vom 22.05.2003 - dieser ist dort am 23.05.2003 eingegangen und am 26.05.2003 von der Geschäftsstelle bearbeitet worden, allerdings, entgegen dem üblichen Geschäftsablauf, wie er aus dem Formular ersichtlich ist, möglicherweise nicht dem zuständigen Vorsitzenden Richter zur Kenntnisnahme und gegebenenfalls weiteren Veranlassung vorgelegt worden, weil eine Abzeichnung durch den Richter fehlt - hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Berufung eingelegt und diese mit ebenfalls an das Landgericht G. gerichtetem, dort am 23.06.2003 eingegangenem Schriftsatz begründet. Nach einem telefonischen Hinweis des Vorsitzenden Richters am Landgericht G. vom 02.07.2003 auf die fehlende Zuständigkeit des Landgerichts wegen § 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit am 02.07.2003 eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tage um Weiterleitung der Berufung an das zuständige Oberlandesgericht gebeten und, nachdem ihm mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 07.07.2003 mitgeteilt worden war, es sei beabsichtigt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht fristgerecht beim Oberlandesgericht eingegangen sei, mit am 15.07.2003 eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tage Wiedereinsetzung beantragt. Den Wiedereinsetzungsantrag hatte er im Wesentlichen damit begründet, er habe erst auf Grund des telefonischen Hinweises des Vorsitzenden Richters vom Landgericht G. am 02.07.2003 davon Kenntnis erlangt, dass die Berufung beim unzuständigen Gericht eingelegt worden sei. Der Schriftsatz sei am Landgericht G. jedoch so rechtzeitig eingegangen, dass eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang an das Oberlandesgericht ohne weiteres hätte erwartet werden können; die Weiterleitung obliege dem zuständigen Gericht auf Grund einer nachwirkenden Fürsorgepflicht, zumal es bereits zuvor mit der gleichen Sache befasst gewesen sei (das mit der vorliegenden Berufung angegriffene Urteil des Amtsgerichtes erging nach Zurückverweisung der Sache durch das Landgericht G. gemäß einem zuvor ergangen [ersten] Berufungsurteil).

Die Beklagte tritt dem Wiedereinsetzungsgesuch entgegen und meint, die Klägerin müsse sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten mit Bezug auf die Unkenntnis der gerichtlichen Zuständigkeit anrechnen lassen. Dem Landgericht sei hingegen kein Vorwurf zu machen; dies wäre nur dann der Fall, wenn dort schon früher festgestellt worden wäre, dass das Gericht unzuständig ist. Eine derartige Kenntnis habe man jedoch nicht von der mit dem Vorgang befassten Geschäftsstelle erwarten dürfen.

II.

1. Der Wiedereinsetzungsantrag hat keinen Erfolg.

Das Wiedereinsetzungsgesuch ist zwar rechtzeitig binnen zwei Wochen (§ 234 ZPO) nach Kenntnis des Hindernisses (hier: Kenntnis der fehlenden Zuständigkeit des Landgerichtes G. bzw. der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, nach dem Telefonat vom 02.07.2003) eingegangen und ordnungsgemäß begründet worden. Es hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Der Antragsteller hat die Berufungsfrist gemäß § § 517 ZPO versäumt, da er seine Berufung nicht innerhalb von 1 Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils (also bis zum Ablauf des 7. Juni 2003) bei dem für die Rechtsmitteleinlegung zuständigen Oberlandesgericht (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 1 b n.F. GVG ), sondern bei dem für die Entscheidung über das Rechtsmittel unzuständigen Landgericht G. eingelegt hat. Von dort sind die Akten erst nach Ablauf der Berufungseinlegungsfrist an das Oberlandesgericht weitergeleitet worden, wo sie am 7.7.2003 eingegangen sind.

Der Kläger war nicht ohne sein Verschulden verhindert, die Berufungsfristfrist einzuhalten. Denn er räumt selbst ein- ohne dies allerdings ausdrücklich zu erklären- die Neuregelung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG über die Zuständigkeit bei einer Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile mit Auslandsbezug nicht gekannt zu haben. Nur so ist das Vorbringen des Klägervertreters zu verstehen, er habe ( erst) am 2.7.2003 durch einen Anruf des Vorsitzenden Richters S. erfahren, dass das Landgericht G. unzuständig sei. Das hierin liegende Verschulden des Bevollmächtigten des Klägers ist ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Im Zeitpunkt der Berufungseinlegung war die Gesetzesänderung schon weit über 1 Jahr in Kraft ( seit 1.1.2002) und das zugrundeliegende Änderungsgesetz ( ZPO-RG vom 27.7.2001 ) schon fast 2 Jahre bekannt gemacht. Jeder Rechtsanwalt hat sich aber innerhalb angemessener Frist über Gesetzesänderungen zu informieren. G.de die hier maßgebliche Bestimmung war im übrigen Gegenstand einer in fast sämtlichen juristischen Fachzeitschriften hitzig geführten "Reformdebatte". Die schuldhafte Nichtbeachtung dieser Neuregelung wird nicht dadurch ausgeräumt, dass das Landgericht seinen Berufungsschriftsatz nicht innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige Oberlandesgericht weitergeleitet hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann unter besonderen Umständen ein Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten sein, einem drohenden Fristsäumnis seitens der Partei entgegenzuwirken. So hat das Verfassungsgericht angenommen, dass das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, verpflichtet ist, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten (BVerfGE 93,99 f.). Dem hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen (z.B. BGH NJW 1998,908; NJW 1998,2291; NJW-RR 2000,1730).

Die Verpflichtung des Gerichtes, bei ihm eingehende Rechtsmittelschriften - soweit möglich - noch innerhalb offener Rechtsmittelfristen an das zuständige Gericht weiterzuleiten, wird aus dem Gebot eines fairen Verfahrens und der sich hieraus ergebenden Fürsorgepflicht (" nachwirkende Fürsorgepflicht") hergeleitet. Diese Fürsorgepflicht trifft aber regelmäßig nur das Gericht, das " im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst gewesen ist". In diesem Sinne wird vom Bundesgerichtshof und anderen Gerichten ( vgl. jüngst OLG Köln, NJW-RR 2003, 864; OLG Düsseldorf, OLGReport 2003,91) auch die Rechtsprechung des BVerfG verstanden ( ausdrücklich aber offengelassen nunmehr in BVerfG, NJW 2001,1343). Begründet wird dies damit, dass in den Fällen der "Vorbefassung" die Weiterleitung von Rechtsmittelschriftsätzen an das zuständige Gericht für das Gericht keine ins Gewicht fallende Belastung darstelle, da ihm die Zuständigkeit für das Rechtsmittel " gegen seine eigene Entscheidung bekannt ist" ( BVerfGE 93,99 unter C II 2 b ). Nur in diesen Fällen der "Vorbefassung" kann überhaupt nach Ansicht des Senats eine "nachwirkende Fürsorgepflicht" angenommen werden. Eine solche "nachwirkende Fürsorgepflicht" allen Gerichten - unabhängig davon, ob sie mit der Sache befasst waren - aufzuerlegen, würde letztlich dazu führen, dass Rechtsmittel bei irgendeinem Gericht eingelegt werden können und das (unzuständige) Gericht alsdann in die Prüfung einzutreten hat, welches das zuständige Gericht ist, an den der Schriftsatz weiterzuleiten ist. Eine solche "vorbeugende Fürsorgepflicht" würde die zuvörderst dem Rechtsmittelführer obliegende Pflicht zur Ermittlung des zuständigen Gerichtes unzulässigerweise auf das Gericht verlagern.

Der Bundesgerichtshof hat zu einer vergleichbaren Fallgestaltung ( Beschluss vom 29.11.1999 , NotZ 10/99, = ZNotP 2000,119 )wörtlich ausgeführt:

"Eine generelle Fürsorgepflicht des angegangenen, für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern, besteht nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf sich die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur an dem Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss (BVerfG NJW 1995, 3173); danach muss insbesondere dem rechtskundigen Verfahrensbeteiligten und seinem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Für den Bereich der Zivilprozessordnung führt das Bundesverfassungsgericht an, dass sich ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr auswirke, wenn der fristgebundene Schriftsatz so rechtzeitig bei dem "mit der Sache befasst gewesenen Gericht" eingeht, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann."

Vorliegend war das Landgericht G. nicht mit der Sache befasst gewesen. Angefochten war ein Urteil des Amtsgerichtes A. vom 5.5.2003. Dass das Landgericht G. in einem vorausgegangenen ersten Berufungsverfahren aus dem Jahre 2000 ( 1 S 174/00 ) schon einmal mit dieser Sache befasst gewesen ist, macht es nicht zu einem "vorbefassten" Gericht i.S. der dargestellten Rechtsprechung. Es geht nicht darum, dass ein Gericht irgendwann einmal mit einem Rechtsstreit befasst war. Die Weiterleitungspflicht im ordentlichen Geschäftsgang wird - wie ausgeführt - daraus hergeleitet, dass das Gericht ohne Schwierigkeiten seine Unzuständigkeit erkennen kann. Dies ist hier aber G.de nicht der Fall. Das Landgericht ist in Thüringen, das von der Möglichkeit der sog. Experimentierklausel des § 119 Abs.3-6 GVG nicht Gebrauch gemacht hat, weiterhin (auch) Berufungsgericht. Bei Eingang einer Rechtsmittelschrift gegen ein amtsgerichtliches Urteil bei einem Landgericht ist folglich nicht ohne nähere Prüfung feststellbar, ob dieses oder das Oberlandesgericht für die Berufung zuständig ist. Hier ging die Rechtsmittelschrift am 23.5.2003 beim Landgericht G. ein. Eine Pflicht des Gerichtes, bereits in diesem Stadium aufgrund der Angabe in der Berufungsschrift, wonach der Kläger und Berufungskläger in Rhodos/ Griechenland wohnhaft ist, in seine Zuständigkeitsprüfung einzutreten, kann nicht angenommen werden.

§ 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG knüpft die Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes nur dann an den allgemeinen ausländischen Gerichtsstand einer Partei an, wenn dieser " im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz" bestanden hat. Ohne nähere Angaben ( die hier in der Berufungsschrift nicht enthalten waren) und ohne Aktenkenntnis kann dies regelmäßig nicht zuverlässig beurteilt werden.

Doch auch nach Eingang der Akten, am 30.5.2003, bestand keine Rechtspflicht, die eigene Zuständigkeit sogleich einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Angesichts der Belastung der Justizbediensteten kann niemand erwarten, dass ein Richter sofort bei Eingang einer Berufungsakte - die Begründung lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor - diese sofort bearbeitet und sich dabei vorrangig noch der Aufdeckung und Heilung von Anwaltsversehen widmet ( Zöller/Greger, ZPO, 23. Auflage, Rdnr. 22 b zu § 233 ).

Der Fürsorgepflicht des Gerichts sind nämlich enge Grenzen gesetzt. Die Justiz muss im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden (BverfGE 93,99 f.). Wollte man dies anders sehen, würde auf dem Umweg über die Wahrnehmung der "Fürsorgepflicht" dem Gericht quasi die Rolle eines "Verfahrenspflegers" für Rechtsanwälte / Verfahrensbeteiligte zugewiesen, was der ZPO fremd ist und im übrigen dem Selbstverständnis der Anwaltschaft von ihrem Beruf zuwiderliefe.

Entgegen der Meinung des Klägers lässt sich der Entscheidung des BGH in NJW 2002,2473 nichts Gegenteiliges entnehmen. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Beschluss vom 29.5.2002 - V ZB 11/02 - allgemein die von ihm auf Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Erkenntnisse ergangene eigene Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung bei verspäteter Weiterleitung von Schriftsätzen durch ein unzuständiges Gericht erneuert.

2. Aufgrund der Erfolglosigkeit des Wiedereinsetzungsbegehrens ist die Berufung wegen Verspätung unzulässig und war deshalb gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu verwerfen. Die Rechtsmittelfrist kann nämlich nur durch die Rechtsmitteleinlegung bei dem jeweils hierfür gesetzlich als zuständig bestimmten Gericht eingehalten werden ( BGH, BRAK-Mitt. 2000,287 m.w.N.).

3. Kosten: § 97 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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