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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 23.11.2007
Aktenzeichen: 4 EO 536/07
Rechtsgebiete: VwGO, AO


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
AO § 240
Säumniszuschläge sind keine öffentlichen Abgaben i. S. d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Widerspruch und Klage gegen einen Bescheid, mit dem Säumniszuschläge selbständig festgesetzt werden, haben aufschiebende Wirkung.
THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT - 4. Senat - Beschluss

4 EO 536/07 In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Beiträgen,

hier: Beschwerde nach §§ 80, 80a VwGO

hat der 4. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Prof. Dr. Aschke, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Blomenkamp und den Richter am Oberverwaltungsgericht Gravert am 23. November 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Weimar vom 7. Juni 2007 - Az. 6 E 569/07 We - geändert und festgestellt, dass die Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27.12.2005 (Nr. M 2005/016/00002) in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 11.08.2006 und des Teilabhilfebescheids vom 25.01.2007 aufschiebende Wirkung hat.

Die Kosten des Verfahrens im ersten und zweiten Rechtszug hat der Antragsgegner zu tragen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 232,88 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde hat Erfolg. Dem Eilantrag ist schon deshalb stattzugeben, weil zunächst dem Widerspruch und dann der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27.12.2005 über die Erhebung von Säumniszuschlägen aufschiebende Wirkung zukommt. Der Antrag der Antragstellerin, die sofortige Vollziehung des Bescheids auszusetzen bzw. die aufschiebende Wirkung herzustellen, ist daher gemäß § 88 VwGO als Antrag auszulegen, die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs festzustellen (§ 80 Abs. 5 VwGO in entsprechender Anwendung).

Der Senat vertritt die Auffassung, dass selbständig festgesetzte Säumniszuschläge nicht unter die öffentlichen Abgaben und Kosten i. S. d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO fallen, so dass schon allein dem Widerspruch und einer Klage gegen einen solchen Bescheid aufschiebende Wirkung beizumessen ist (umstritten, vgl. zum Meinungsstand wie hier: VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 01.06.1992, 2 S 2999/90, KKZ 1993, S. 122; BayVGH, Beschl. v. 02.04.1985, 23 CS 85 A.361, NVwZ 1987, S. 63; und v. 21.12.1998, 4 ZS 98.2811, zit. n. Juris; HessVGH, Beschl. v. 07.05.1993, 11 TH 1563/92, NJW 1994, S. 145 [146]; OVG Nds., Beschl. v. 27.01.1988, 9 B 104/87, NVwZ-RR 1989, S. 325 [326]; OVG Rh.-Pfalz, Beschl. v. 15.07.1986, 12 B 79/86, NVwZ 1987, S. 64; SächsOVG, Beschl. v. 22.02.1996, 2 S 242/95, SächsVBl. 1996, S. 138; OVG LSA, Beschl. v. 19.03.2002, 2 M 293/01, und v. 05.07.2006, 4 M 272/06, beide zit. n. Juris; VG Gera, Beschl. v. 05.03.2007, 5 E 100/07; a. A.: OVG Berlin-Bbg., Beschl. v. 25.09.2005, 9 S 10/05, zit. n. Juris; OVG Bremen, Beschl. v. 06.04.1993, 1 B 6/93, KStZ 1993, S. 236 [237]; OVG HH, Beschl. v. 17.10.2005, 1 Bs 210/05, NVwZ-RR 2006, S. 156 [157]; HessVGH, Beschl. v. 27.09.1994, 5 TH 1485/93; NVwZ-RR 1995, S. 158; OVG NW, Beschl. v. 31.08.1983, 3 B 538/83, NVwZ 1984, S. 395). Zwar geht der Senat davon aus, dass unter Abgaben und Kosten i. S. d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO jene Abgaben fallen, die eine Finanzierungsfunktion erfüllen, und zwar auch dann, wenn die Erzielung von Einnahmen einer von mehreren Zwecken ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.1992, 4 C 30/90, NVwZ 1993, S. 1112 [1112, 1114]). Weiter ist in Rechnung zu stellen, dass Säumniszuschläge als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung teilweise auch Finanzierungsfunktion haben (vgl. BFH, Urt. v. 29.08.1991, V R 78/86, BFHE 165, 178 [183]). Andererseits ist jedoch zu beachten, dass die nach § 80 Abs. 1 VwGO vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und eine fundamentale Regel öffentlich-rechtlicher Anfechtungsprozesse ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.03.1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220 <227>; ständige Rspr.). Dies gebietet es, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich restriktiv auszulegen und nicht weitgreifend auf nahezu sämtliche öffentlichen Abgaben zu erstrecken. Denn eine Finanzierungsfunktion ließe sich für jedweden Mittelzufluss nachweisen, der in gewissen Grenzen als Einnahme haushälterisch veranschlagt werden kann und - zumal in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte - dazu beiträgt, eine geordnete Haushaltsführung und Aufgabenerfüllung der öffentlichen Hand sicherzustellen. Nach Auffassung des Senats werden Säumniszuschläge, obwohl sie auch eine finanzielle Gegenleistung darstellen, entscheidend durch die Funktion als Druckmittel geprägt. Die Finanzierungsfunktion tritt völlig in den Hintergrund. Dies zeigt sich u. a. daran, dass Säumniszuschläge bei der Aufhebung einer Abgabenfestsetzung unberührt bleiben (§ 240 Abs. 1 Satz 4 AO 1977). Insbesondere fließen sie nicht etwa der abgabenberechtigten, sondern der verwaltenden Körperschaft zu, um den Verwaltungsmehraufwand abzugelten, der dadurch entsteht, dass der Abgabenpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß zahlt (vgl. BT-Drucks. 7/4495, S. 1, zu § 3 AO). Dies mag in der vorliegenden Konstellation keinen Unterschied bedeuten, weil die berechtigte und verwaltende Körperschaft ein und dieselbe ist, zeigt aber, dass verwirkte Säumniszuschläge nicht Aussetzungs- oder Stundungszinsen in sich aufnehmen, sondern an deren Stelle treten (vgl. BFH, Urt. v. 29.08.1991, a. a. O.).

Offen bleiben kann danach, ob die Verbandsbeschlüsse des Antragsgegners Nr. 15 vom 17.05.2004 und Nr. 18 vom 10.11.2004 über die Aussetzung der Vollziehung von Beitragsbescheiden als Aussetzung gemäß § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu werten wären und ggf. ob die dann entfaltete aufschiebende Wirkung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Beitragsbescheids mit der Folge zurückwirkt, dass vorher verwirkte Säumniszuschläge entfallen (zur Rückwirkung der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung vgl. BVerwG, Urt. v. 02.05.1982, 1 C 182.79, Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 32; anders zur Aussetzung der Vollziehung gem. § 69 FGO vgl. Tipke-Kruse, AO, Stand 8/2007, § 69 FGO, Rdnr. 171 m. w. Nw.; zum Entfallen der Säumniszuschläge vgl. nur OVG Nds., Urt. v. 14.03.1989, 9 A 57/88, NVwZ 1990, S. 270 ff.; SächsOVG, Urt. v. 12.10.2005, 5 B 471/04, KKZ 2007, S. 67 ff.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des für die Kostenberechnung maßgebenden Streitwerts beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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