Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 11.06.2009
Aktenzeichen: 4 U 121/09
Rechtsgebiete: SGB III, SGB I


Vorschriften:

SGB III § 133 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 n.F.
SGB I § 14
SGB I § 15
Die besonderen Beratungspflichten der Bundesagentur für Arbeit, die das Bundessozialgericht 2004 im Zusammenmhang mit der Bewilligung von Arbeitslosengeld entwickelt hat, greifen nur im Rahmen eines Lohnsteuerklassenwechsels und nicht bei einer bloßen Steuerklassenänderung (hier auf Grund des Todes der Ehefrau des Arbeitslosengeldempfängers).
THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

4 U 121/09

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Müller, Richterin am Oberlandesgericht Friebertshäuser und Richterin am Amtsgericht Hütte

am 11.06.2009

beschlossen:

Tenor:

Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 19.01.2009, Az.: 3 O 971/08 (313), durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.

Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 03.07.2009.

Gründe:

Die Berufung des Klägers hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und erfordert keine Entscheidung des Senats im Urteilsverfahren zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 ZPO).

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen (streitiger) Verletzung von Beratungspflichten auf Schadensersatz in Anspruch. Nach dem Tod seiner Ehefrau am 15.04.2007 hat der Kläger seine Lohnsteuerklasse erst zum 01.01.2008 von der Klasse IV auf die Klasse III geändert und deswegen erst seit Januar 2008 ein höheres Arbeitslosengeld erhalten. Für die Zeit von Mai bis Dezember 2007 verlangt er von der Beklagten die Differenz (2.289,60 ?) zwischen dem nach der Steuerklasse IV und der Steuerklasse III berechneten Arbeitslosengeld mit der Begründung, die Beklagte habe seit dem 26.04.2007 (Anlage K1) vom Tod seiner Ehefrau gewusst und ihn darüber belehren müssen, dass er bei einem Wechsel der Lohnsteuerklasse ein höheres Arbeitslosengeld erhalte.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Ein (allein denkbarer) Amtshaftungsanspruch scheitere daran, dass eine Beratungspflicht der Beklagten nur bei einem Lohnsteuerklassenwechsel von Ehegatten (§§ 137 Abs. 3, 4 SGB III, 14, 15 Abs. 1 SGB I), nicht aber - in der hier vorliegenden - Konstellation der Lohnsteuerklassenänderung nach dem Tod eines Ehegatten bestünde.

Hiergegen richtet sich die zulässige Berufung des Klägers, mit der das erstinstanzliche Schadensersatzbegehren weiterverfolgt wird.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen; die Berufung hat daher keine Aussicht auf Erfolg.

Gegen die tragende Urteilserwägung, die Beklagte sei zu einer Beratung über eine Lohnsteuerklassenänderung nicht verpflichtet gewesen, gibt es nichts zu erinnern; sie ist frei von Rechtsfehlern (§ 513 ZPO).

Beratungspflichten treffen die Beklagte nur im Rahmen eines Lohnsteuerklassenwechsels von Ehegatten, nicht aber bei einer - hier streitgegenständlichen - bloßen Steuerklassenänderung. Diesen Grundsatz hat das Bundessozialgericht 2004 entwickelt und seitdem in ständiger Rechtsprechung vertreten (Urteil v. 01.04.2004 - Az.: B 7 AL 52/03 R, abgedruckt ua in BSGE 92, 267; Urteil v. 06.04.2006 - Az.: B 7a AL 82/05 R -; Urteil v. 10.05.2007- Az.: B 7a AL 12/06 R -, zitiert nach juris). Die unterschiedliche rechtliche Bewertung ist aus folgenden Gründen dogmatisch zwingend:

§ 137 Abs. 4 SGB III (seit dem 01.01.2005 nun § 133 Abs. 3 SGB III) gibt der Beklagten eine (fiktive) steuerrechtliche Zweckmäßigkeitsprüfung nur dann auf, wenn aufgrund des Wechsels der Lohnsteuerklasse ein Anspruch auf ein höheres Arbeitslosengeld entsteht. In diesem Fall prüft die Beklagte, ob die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen (§ 137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB III aF bzw. § 133 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III nF). Führt der Wechsel der Lohnsteuerklasse aber zu einem Anspruch auf ein niedrigeres Arbeitslosengeld, findet der Wechsel mithin zu Ungunsten der Ehegatten statt, braucht die Beklagte keine fiktive steuerrechtliche Zweckmäßigkeitsprüfung mehr vorzunehmen; sie kann ohne jede materielle Prüfung in der Sache von der arbeitsförderungsrechtlich ungünstigeren Kombination zu Lasten der Eheleute ausgehen (§ 137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III aF bzw. § 133 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III nF).

Diese gesetzliche Regelung hat das Bundessozialgericht mit Recht als "verfassungsrechtlich bedenklich" bezeichnet (BSG aaO). § 137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III bzw. - nun - § 133 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III stellt nämlich eine Verschlechterung des Rechtszustandes im Vergleich zu dem - bis 31.12.1997 - geltenden § 113 Abs. 2 AFG dar. Die Bundesanstalt (jetzt Bundesagentur) für Arbeit war bei einem Steuerklassenwechsel unter der Geltung des § 113 Abs. 2 AFG immer verpflichtet, die materielle Richtigkeit der Steuerklassenwahl von Eheleuten im Einzelnen zu überprüfen und das Arbeitslosengeld nach dieser Prüfung zu berechnen. Dies führte im Ergebnis dazu, dass die gewechselten Lohnsteuerklassen (nur) dann auch arbeitsförderungsrechtlich zugrunde gelegt wurden, wenn die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen "den geringsten gemeinsamen Lohnsteuerabzug" zur Folge hatten (BSGE 88, 299).

Da der Anspruch auf Arbeitslosengeld - wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat (BVerfGE 72, 9; 76, 220; 92, 365) - unter den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG fällt, berührt die Neuregelung des § 137 Abs. 4 SGB III bzw. des § 133 Abs. 3 SGB III wegen ihres Verschlechterungs- und Leistungseinschränkungscharakters den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts; daneben aber auch den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die unterschiedliche Behandlung von Lohnsteuerklassenwechseln, die zu einem höheren und solchen, die zu einem niedrigeren Arbeitslosengeld führen, ist schwerlich zu rechtfertigen. Der Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität - unter dem das Bundesverfassungsgericht typisierende und pauschalierende Regelungen zur Höhe des Arbeitslosengeldes unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erachtet hat (BVerfGE 63, 255) - verfängt als Rechtfertigung bereits deshalb nicht, weil eine (verwaltungsaufwändige) Zweckmäßigkeitsprüfung des Lohnsteuerwechsels nicht entfällt. Sie ist auch weiterhin vorzunehmen, wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen des Lohnsteuerklassenwechsels höher ausfallen würde.

Wegen der mithin völlig berechtigten "verfassungsrechtlichen Bedenken" hat das Bundessozialgericht der Beklagten aufgegeben, "verheiratete Arbeitslose generell auf die Rechtsfolgen des § 137 Abs. 4 Satz 1 SGB III (nun § 133 Abs. 3 Satz 1 SGB III) hinzuweisen und vor einem Lohnsteuerklassenwechsel ohne vorherige Beratung durch die Agenturen für Arbeit zu warnen" (Urteil v. 01.04.2004 - Az.: B 7 AL 52/03 R -, BSGE 92, 267). Zugleich hat es betont:

" Es ist lediglich und ausschließlich der besonderen Situation im rahmen des Lohnsteuerklassenwechsels Verheirateter Rechnung zu tragen. Nur die verfassungsrechtlichen Zweifel gegenüber § 137 Abs. 4 SGB III begründen eine gesonderte und hervorgehobene Beratungspflicht der Beklagten. Denn erst durch die Beratung, die dem Versicherten als Laien deutlich macht, in welche leistungsrechtlichen Gefahren er sich im Arbeitsförderungsrecht bei einem steuerrechtlich sinnvollen Steuerklassenwechsel mit seinem Ehepartner begingt, wird der Arbeitslose in die Lage versetzt, eine rationale Wahl (unter Abschätzung aller Rechtsfolgen) zu treffen" (BSG aaO).

Eine solche "besondere Situation" im - verfassungsrechtlichen - Spannungsfeld und Wertungswiderspruch zwischen - einfachgesetzlicher - Alt- und Neuregelung liegt im Entscheidungsfall aber nicht vor.

Wenn ein Arbeitsloser - wie hier der Kläger - nach dem Tod des Ehegatten an Stelle der bis dahin für ihn als Verheirateten geltenden Steuerklasse die nunmehr für ihn als Ledigen steuerrechtlich in Betracht kommende Steuerklasse in seine Lohnsteuerkarte eintragen lässt, liegt weder im semantischen Sinne, noch im Rechtssinne (§ 137 Abs. 4 SGB III bzw. § 133 Abs. 3 SGB III) ein Steuerklassenwechsel von Ehegatten vor; vielmehr handelt es sich nur um eine (bloße) Steuerklassenänderung. Diese zieht aber - wie das Bundessozialgericht in dem vom Landgericht zitierten Urteil vom 06.04.2006 (Az.: B 7a AL 82/05 R) für den vergleichbaren Fall der nach Heirat erstmals für den Verheiratetenstatus eingetragenen Steuerklasse klargestellt hat - keine Beratungspflichten der Beklagten nach sich.

Hat es nach alledem dabei zu bleiben, dass die Beklagte keine Beratungspflichten verletzt hat und daher auch nicht aus § 839 BGB iVm Art. 34 GG auf Schadensersatz haftet, legt der Senat dem Kläger nahe, die unbegründete Berufung innerhalb der Stellungnahmefrist zurückzunehmen. Auf die mit einer Rücknahme einhergehende Kostenersparnis (GKG-KV 1222/§ 34 GKG) wird hingewiesen.

Ende der Entscheidung

Zurück