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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 20.12.2004
Aktenzeichen: 6 U 657/04
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 522 Abs. 2
ZPO § 520 Abs. 3 Nr. 4
ZPO § 531 Abs. 2 Nr. 3
1. Bei erstmals in der Berufungsinstanz in das Verfahren eingeführten Tatsachen kann über die Berufung grds. nicht im Beschlussverfahren sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden.

2. Diese Regel gilt indessen nur dann, wenn das neue Vorbringen als solches berücksichtigungsfähig ist. Muss aufgrund prozessualer Ausschluss- oder Präklusionsbestimmungen der neue Sachvortrag unberücksichtigt bleiben, bedarf es darüber keiner mündlichen Verhandlung. Die Frage, ob die einen Ausschluss erfordernden Gründe gegeben sind, ist als Vorfrage im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO zu beantworten.

3. Es bleibt offen, ob die als solche unstreitige, in einem Nebenverfahren, hier dem Verfahren auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung in den Prozess eingeführte Tatsache, dass der Klageforderung mittels eines neu ergriffenen Verteidigungsmittels zu Fall kommen soll, nochmals ausdrücklich und förmlich zum Inhalt der Berufungsbegründung gemacht werden muss.

4. Es bleibt offen, ob über die Zulassungsvoraussetzungen unabhängig von der Erfüllung des formalen Erfordernisses in § 520 Abs. 3 Nr. 4 ZPO gewissermaßen von Amts wegen zu befinden ist, oder ob das Berufungsgericht sich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO erst dann befasst, wenn die Berufungsbegründung den formalen Anforderungen des § 522 Abs. 3 ZPO in vollem Umfang genügt.

5. Für § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO kommt es nicht darauf an, dass ein Verteidigungsmittel (hier: Einrede der nicht (mehr) gegebenen Fälligkeit) erst dann entsteht, wenn die Beklagte die Einrede erhebt oder die begründenden Tatsachen geltend macht (hier: Stundungsverlangen als Grund eines Fälligkeitsaufschubs). Maßgeblich ist ffür § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO der Zeitpunkt, von dem an eine sachgerecht die Prozessentwicklung beobachtende und sich auf auch ihr nachteilige Eventualitäten einstellende Partei sich zum Einsatz des Verteidigungsmittel hätte entschließen müssen.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT

Beschluss

6 U 657/04

In dem Rechtsstreit

hat der 6. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch den Präsidenten des Thüringer Oberlandesgerichts Dr. Bauer, Richter am Oberlandesgericht Prof. Dr. Bayer, Richterin am Oberlandesgericht Bötzl am 20. 12. 2004 beschlossen:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Vorbehaltsurteil des Landgerichts Erfurt vom 28.6.2004 - 8 O 592/04 - wird durch einstimmigen Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert der Berufung beträgt: 721.859,05 Euro

Gründe:

1. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 12.10.2004 ausführlich dargelegt hat, haben die Angriffe der Beklagten gegen die vom Landgericht Erfurt vorgenommene Auslegung des Gesellschaftsvertrages keinen Erfolg. Insoweit wird auf den genannten Beschluss verwiesen.

2. Die Berufung kann auch nicht darin erfolgreich sein, dass die Beklagte nunmehr zunächst im Antrag vom 03.08.2004 auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung und danach in ihrem Schriftsatz vom 8.11.2004 auch in der Hauptsache geltend macht, die Klageforderung sei nicht fällig, weil nach § 16 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags die Gesellschaft (hier: die Beklagte) berechtigt ist, Stundung der Auszahlung eines Abfindungsguthabens zu verlangen, wenn die Auszahlung zum zunächst vereinbarten Fälligkeitszeitpunkt den Bestand des Unternehmens gefährden würde, und weil sie, die Beklagte, gemäß Schreiben vom 24.06.2004 vom Kläger Stundung der Abfindungsraten um jeweils ein Jahr verlangt habe. Damit erhebt die Beklagte die Einrede der Stundung.

a) Dieses neue Verteidigungsmittel hindert den Senat nicht, über die Berufung im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO zu entscheiden. Zwar ist der Beklagten darin zu folgen, dass bei erstmals in der Berufungsinstanz in das Verfahren eingeführten Tatsachen über die Berufung nicht im Beschlussverfahren sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden kann. Diese Regel gilt indessen nur dann, wenn das neue Vorbringen als solches berücksichtigungsfähig ist. Muss aufgrund prozessualer Ausschluss- oder Präklusionsbestimmungen der neue Sachvortrag unberücksichtigt bleiben, bedarf es darüber keiner mündlichen Verhandlung. Die Frage, ob die einen Ausschluss erfordernden Gründe gegeben sind, ist als Vorfrage im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO zu beantworten.

b) Es kann dahinstehen, ob die Beklagte mit dem Stundungseinwand schon deswegen nicht gehört werden kann, weil sie ihn nicht zum Gegenstand ihrer Berufungsbegründung gemacht hat. § 520 Abs. 3 Nr. 4 ZPO verlangt, dass in der Berufungsbegründung neue Verteidigungsmittel sowie diejenigen Tatsachen vorzutragen sind, aufgrund derer sie nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen sind. Was die Stundungseinrede angeht, hat die Beklagte sie zwar nicht zum Inhalt ihrer Berufungsbegründung vom 20.07.2004 gemacht. Die Beklagte hat jedoch innerhalb der bis zum 01.09.2004 laufenden Berufungsbegründungsfrist in der Begründung ihres Antrags auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung zweifelsfrei erkennen lassen, dass sie sich auf die Stundungsmöglichkeit nach § 16 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags berufen wird. Damit war für die Berufungsinstanz davon auszugehen, dass die Beklagte der Klageforderung mit der Einrede der nicht vorhandenen Fälligkeit begegnet. Ob die als solche unstreitige, in einem Nebenverfahren, hier dem Verfahren auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung in den Prozess eingeführte Tatsache, dass der Klageforderung mittels eines neu ergriffenen Verteidigungsmittels zu Fall kommen soll, nochmals ausdrücklich und förmlich zum Inhalt der Berufungsbegründung gemacht werden muss, braucht nicht entscheiden zu werden. Die Beklagte hat nämlich nichts dazu vorgetragen, dass die neue Tatsache des geltend gemachten Verteidigungsmittels bzw. der nicht mehr gegebenen Fälligkeit gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen sei. Offen bleiben kann hier, ob über die Zulassungsvoraussetzungen unabhängig von der Erfüllung des formalen Erfordernisses in § 520 Abs. 3 Nr. 4 ZPO gewissermaßen von Amts wegen zu befinden ist, oder ob das Berufungsgericht sich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO erst dann befasst, wenn die Berufungsbegründung den formalen Anforderungen des § 522 Abs. 3 ZPO in vollem Umfang genügt. Jedenfalls kann das neue Verteidigungsmittel deswegen nicht zugelassen werden, weil es im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden ist, obwohl dies nach Sachlage nahe gelegen hätte, so dass die Nichtinanspruchnahme der sich aus § 16 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags ohne weiteres ergebenden Hilfemöglichkeit angesichts der nach dem Vorbringen in der Berufungsinstanz während des gesamten Jahrs 2004 bestehenden Liquiditätsengpässe als nachlässig im Sinn des § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zu qualifizieren ist.

c) Insoweit kommt es nicht darauf an, dass die Einrede der nicht (mehr) gegebenen Fälligkeit erst dann entsteht, wenn die Beklagte die Stundung des Abfindungsforderung verlangt und dass dieses Verlangen ersichtlich erstmals im Schreiben vom 24.06.2004, mithin nach Schluss der mündlichen Verhandlung des Landgerichts, an den Kläger gerichtet worden ist. Maßgeblich ist für § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO der Zeitpunkt, von dem an eine sachgerecht die Prozessentwicklung beobachtende und sich auf auch ihr nachteilige Eventualitäten einstellende Partei sich zum Einsatz des Verteidigungsmittel hätte entschließen müssen (vgl. Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 24. Auflage, § 351 Rn. 31). Dieser Zeitpunkt war jedenfalls bereits vor der mündlichen Verhandlung des Landgerichts am 07.06.2004 ereicht. Die Beklagte konnte damals erkennen, dass ein Prozessverlust zumindest im Urkundenverfahren nicht unwahrscheinlich war und dass sich aus ihm erheblich nachteilige Folgen für ihre Zahlungsfähigkeit nicht zuletzt deswegen ergeben könnten, weil sie wegen § 708 Nr. 4 ZPO eine ohne Sicherheitsleistung eröffnete Zwangsvollstreckung befürchten musste.

Die Beklagte hat sowohl in ihrem Schreiben vom 24.06.2004 an den Kläger sowie in Schriftsatz vom 08.11.2004 wie in den Ausführungen zur Notwendigkeit der Zwangsvollstreckungseinstellung insbesondere in S. 5 ff. des Schriftsatzes vom 6.10.2004 (Bl. 377 ff. d.A.) betont, dass sie, die Beklagte, faktisch nicht liquide sei und sich dafür u.a. auf den Liquiditätsplan für das Jahr 2004 bezogen, der die Liquiditätsreserven für jeden Monat gesondert ausweist, mithin während der gesamten, am 02.04.2004 beginnenden Rechtshängigkeitszeit der Klage erkennbar machte, dass die Beklagte in eine von § 16 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags erfasste Situation kommen könnte, wenn man ihrer Version vom Fälligwerden der Abfindungsraten nicht folgt. Jedenfalls hatte die Beklagte in Kenntnis des ihr vom Landgericht mit Schreiben vom 11.05.2004 übermittelten Hinweises Grund zur Annahme, die ihre Rechtsansicht tragende Auffassung werde von dem im Urkundenverfahren über die Klage erkennenden Gericht nicht geteilt. Da, wie die Beklagte in ihrem Schreiben vom 24.06.2004 ausgeführt hat, ihre Liquiditätsschwierigkeiten Gegenstand eines "kürzlich bei dem Termin vor dem Landgericht Erfurt" geführten Gespräch gewesen sind, ist nichts ersichtlich, was erklären könnte, warum angesichts dieser Situation und der drohenden Verurteilung die Beklagte nicht auf das Hilfsmittel nach § 16 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags zurückgegriffen hat. An sich legitime Prozesstaktik vermag das Zögern der Beklagten nach den Umständen des besonderen Einzelfalls nicht einsichtig zu machen.

3. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte gemäß § 97 ZPO zu tragen.

4. Die Streitwertfestsetzung ist nach dem gestellten Berufungsantrag erfolgt (vgl. §§ 3, 14 Abs. 1, Abs. 2, 25 Abs. 2 ZPO).



Ende der Entscheidung

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