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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 30.10.2006
Aktenzeichen: 9 Verg 4/06
Rechtsgebiete: VOL/A, BGB


Vorschriften:

VOL/A § 18 Abs. 1 S. 1
VOL/A § 19 Abs. 3
VOL/A § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e
BGB § 146
BGB § 148
1. Nach allgemeinen zivilrechtlichen Regeln erlischt nach Ablauf der Bindefrist (§ 19 Abs. 3 VOL/A) das Angebot eines Bieters gem. §§ 146, 148 BGB und ist damit für das Ausschreibungsverfahren nicht mehr existent.

2. Die Wertung eines wegen Überschreitung der Bindefrist bereits erloschenen und danach erneut zum Wettbewerb eingereichten - inhaltsgleichen - Angebots ist wegen Überschreitung der Angebotsfrist (§ 18 Abs. 1 S. 1 VOL/A) grundsätzlich ausgeschlossen, es sei denn, dass der verspätete Eingang auf nicht vom Bieter zu vertretenden Umständen beruht, § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A.

3. Nicht der Bietersphäre im vorgenannten Sinne zuzurechnen ist es, wenn die Vergabestelle mit gleicher Wirkung für alle Bieter und im Einvernehmen mit diesen (vgl. § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOL/A) eine bereits abgelaufene Angebotsfrist nachträglich "verlängert", d.h. die erneute Vorlage der bereits erloschenen Angebote mit deren ursprünglichem Inhalt gestattet.

4. Übergeht die Vergabestelle im Rahmen der nachträglichen "Verlängerung" einer bereits abgelaufenen Angebotsfrist einen einzelnen Bieter, so ist diesem aus Gleichbehandlungsaspekten wie den übrigen Bewerbern die erneute Vorlage seines (erloschenen) ursprünglichen Angebots gestattet.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

9 Verg 4/06

Verkündet am: 30.10.2006 In dem Vergabeprüfungsverfahren

betreffend die Ausschreibung "Winterdienst (Los 1) und Störungsbeseitigung (Los 2) auf Bundes- und Landstraßen im Amtsbereich des Straßenbauamtes Südwestthüringen für die Jahre 2006 - 2010", Teillos 11: Landkreis Hildburghausen, Teillos 21: Landkreis Schmalkalden-Meiningen, Teillos 31: Landkreis Sonneberg, Teillos 41: Landkreis Wartburgkreis,

hat der Vergabesenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Bettin, Richter am Oberlandesgericht Timmer und Richter am Oberlandesgericht Giebel

auf die sofortige Beschwerde der Beigeladenen vom 13.09.2006

auf die mündliche Verhandlung vom 23.10.2006

beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss der Vergabekammer des Freistaats Thüringen vom 31.08.2006 (Az. 360-4003.20/06-HBN u.a.) wird abgeändert. Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Nachprüfungsverfahrens, auch soweit sie vor der Vergabekammer entstanden sind, zu tragen und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen in beiden Rechtszügen - einschließlich der für die Zuziehung von Rechtsanwälten angefallenen Kosten - sowie die der Vergabestelle vor der Vergabekammer entstandenen Kosten zu erstatten. Die Vergabestelle trägt ihre im Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten selbst.

3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird für den Zeitraum vor der Verfahrensverbindung für das Verfahren 9 Verg 4/06 (Teillos 11) auf 437.860,-- €, für das Verfahren 9 Verg 5/06 (Teillos 21) auf 496.700,-- €, für das Verfahren 9 Verg 6/06 (Teillos 31) auf 201.331,-- € und für das Verfahren 9 Verg 7/06 (Teillos 41) auf 432.878,-- € sowie für den Zeitraum ab Verfahrensverbindung auf 1.568.770,-- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin bewirbt sich im Offenen Verfahren nach VOL/A neben drei weiteren Bietern um das vorliegende Ausschreibungsvorhaben, das die Durchführung des Winter- und Störungsbeseitigungsdienstes auf den Bundes- und Landstraßen in vier Thüringer Landkreisen für die Jahre 2006 bis 2010 zum Gegenstand hat.

Die Ausschreibung erfolgte formal getrennt nach den "Losen" 1 (Winterdienst) und 2 (Störungsbeseitigungsdienst), wobei beide Leistungen laut Vergabebekanntmachung nur gemeinsam zu vergeben waren. Weiterhin unterschieden die Verdingungsunterlagen zwischen den "Teillosen" 11, 21, 31 und 41, die selbstständig zuschlagsfähige Leistungen, nämlich die jeweilige Erbringung der vorgenannten Dienste in den betroffenen vier Landkreisen, beinhalten.

Schon in der europaweit veröffentlichten Vergabebekanntmachung war unter Punkt IV.3.4 als Schlusstermin für den Eingang der Angebote der 12.04.2006 und unter Punkt IV.3.7 eine Bindefrist der Angebote bis 14.07.2006 festgelegt. Diese Anforderung wurde im Angebotsformular, das die Vergabestelle den teilnehmenden Bietern zusandte, erneut aufgegriffen. Darin war in einem umrandeten Kästchen auf den Ablauf der Zuschlags- und Bindefrist am 14.07.2006 hingewiesen. Zudem hatten die Bieter in Ziff. 1 S. 2 ausdrücklich zu erklären, dass sie sich bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist an ihr Angebot gebunden hielten.

Im Submissionstermin am 12.04.2006 lagen vier Angebote vor, von denen eines schon unmittelbar nach Öffnung wegen formeller Mängel nicht zur ersten Phase der Angebotswertung zugelassen wurde.

Aufgrund der Verzögerung durch das streitgegenständliche Nachprüfungsverfahren forderte die Vergabestelle die verbliebenen drei Bieter am 06.07.2006 - also vor Ablauf der ursprünglich bestimmten Bindefrist am 14.07.2006 - schriftlich zu einer Bindefristverlängerung auf, worin es hieß:

"Die für das Vergabeverfahren ... festgelegte Zuschlags- und Bindefrist 14.07.2006 muss ... bis zum 'Ende des Verfahrens' verlängert werden."

Gleichzeitig übersandte sie den Bietern ein vorgefertigtes Formular, worin diese durch Ankreuzen anzugeben hatten, ob sie der Verlängerung zustimmten.

Während die Beigeladene und die Drittbieterin unter Verwendung des vorbezeichneten Formulars einer Bindefristverlängerung bis zum Ende des Nachprüfungsverfahrens zustimmten, gab die Antragstellerin mit Schreiben vom 07.07.2006 folgende Erklärung ab:

"... möchten wir Ihnen mitteilen, dass wir einer Verlängerung der Zuschlags- und Bindefrist für die o.g. Maßnahme zustimmen.

Aufgrund der auszuführenden Arbeiten und der derzeitigen Einschätzungen über die Dauer des Verfahrens verlängern wir die Zuschlagsfrist zunächst bis zum 31.08.2006."

Am 04.09.2006 - also nach Ablauf der von der Antragstellerin vorläufig bestimmten Frist - bat die Vergabestelle die Antragstellerin telefonisch um eine weitere Verlängerung der Bindefrist. Diese verlängerte daraufhin mit Schreiben vom 06.09.2006 die Zuschlags- und Bindefrist "zunächst" bis 31.10.2006.

Die Vergabestelle schloss im Ergebnis der Angebotsprüfung das Angebot der Antragstellerin insbesondere mit der Begründung fehlender (vollständiger) Zertifizierungsnachweise aus. Die Antragstellerin habe eine nach den Ausschreibungsbedingungen verlangte datentechnische Zertifizierung ihrer Winterdiensttechnik durch ein spezielles Prüfunternehmen (N.-... GmbH) nicht beigebracht und damit ihre Leistungsfähigkeit nicht hinreichend belegt. Dieser Mangel habe auch in einem nachträglichen Bietergespräch nicht ausgeräumt werden können. Zudem führe das Fehlen von Gewerbezentralregisterauszügen ihrer Nachunternehmer zum Ausschluss. Die Vergabestelle beabsichtigte daher, den Zuschlag dem Angebot der Beigeladenen zu erteilen.

Dagegen verwies die Antragstellerin darauf, dass schon die Forderung nach Zertifizierung seitens eines bestimmten Prüfunternehmens eine wettbewerbswidrige Marktzugangsschranke darstelle und daher unwirksam sei. Das Fehlen von Registerauszügen von Nachunternehmen beeinträchtige unter keinem denkbaren Gesichtspunkt den Wettbewerb und sei mithin unbeachtlich.

Dem gegen den Ausschluss des Angebots gerichteten Nachprüfungsantrag der Antragstellerin hat die Vergabekammer mit Beschluss vom 30.08.2006 stattgegeben und die Vergabestelle verpflichtet, die Prüfung und Wertung der Angebote zu wiederholen. Sie meint, dass die vorgenannten Kriterien in den Verdingungsunterlagen nicht hinreichend deutlich definiert worden seien, um einen Angebotsausschluss hierauf stützen zu können.

Gegen diese Entscheidung richtet sich das Rechtsmittel der Beigeladenen, die beantragt,

den Beschluss der Vergabekammer vom 30.08.2006 aufzuheben und den Nachprüfungsantrag als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

Sie stützt die Beschwerde im Wesentlichen darauf, dass die Antragstellerin schon durch die zeitlich begrenzte Bindefristverlängerung deutlich gemacht habe, dass sie in Wahrheit kein hinreichendes rechtliches Interesse am Auftrag habe (§ 107 Abs. 2 GWB). In materieller Hinsicht sei der Nachprüfungsantrag unbegründet, da das Angebot der Antragstellerin nicht ausschreibungskonform sei. Hierzu verweist die Beigeladene neben den vorinstanzlich beanstandeten Angebotsmängeln auf die Überschreitung der Bindefrist bzw. Angebotsfrist.

Die Antragstellerin beantragt,

die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

Sie wehrt sich gegen die Annahme eines fehlenden rechtlichen Interesses. Sie habe im o.g. Schreiben vom 07.07.2006 die Verlängerung zwar "zunächst" bis 31.08.2006 begrenzt, damit aber keineswegs eine spätere Verlängerung ausschließen wollen. Ihr Angebot sei auch nach Ablauf der Bindefrist am 31.08.2006 noch zuschlagsfähig, wie es der Rechtsprechung mehrerer Vergabesenate entspreche.

Die Vergabestelle hat keinen Antrag gestellt, meint aber im Ergebnis, dass aus den von der Beigeladenen aufgeführten Gründen der sofortigen Beschwerde stattzugeben sei.

Hinsichtlich der Begründung im Einzelnen wird auf die Schriftsätze der Beigeladenen vom 13.09.2006 und 18.10.2006, der Antragstellerin vom 06.10.2006 und 23.10.2006 sowie der Vergabestelle vom 09.10.2006 Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Beigeladenen ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist unbegründet. Dabei kann offen bleiben, ob das Angebot der Antragstellerin bereits im Zeitpunkt der angefochtenen Vergabekammerentscheidung - wie von der Beigeladenen geltend gemacht - an einem zum Ausschluss aus dem Wettbewerb führenden Mangel litt. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt fehlt es an einem wertungsfähigen Angebot der Antragstellerin.

1. Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht nicht bereits der von der Beigeladenen erhobene Einwand fehlenden rechtlichen Auftragsinteresses im Sinne des § 107 Abs. 2 S. 1 GWB entgegen. Die Antragstellerin hat zwar am 07.07.2006 die Bindefrist ihres Angebots "zunächst" nicht über den 31.08.2006 hinaus verlängert. Doch kann ein solches Erklärungsverhalten nicht ohne weiteres dahin gedeutet werden, nach Fristablauf von der weiteren Teilnahme am Ausschreibungsverfahren Abstand nehmen zu wollen. Vielmehr erschöpfte sich die Erklärung in dem bloßen Vorbehalt, zu gegebener Zeit neu über eine Fortdauer der Angebotsbindung entscheiden zu wollen. Auch durch die zeitweilige Unterbrechung der Angebotsbindung in den Tagen nach Ablauf der Bindefrist bis zu deren nachträglicher Verlängerung ergibt sich insoweit nichts anderes, da das bloße Aufschieben einer Entscheidung nicht mit dem Wegfall eines rechtlichen Interesses im Sinne des § 107 Abs. 2 S. 1 GWB gleich gesetzt werden kann.

2. Auf das ursprüngliche Angebot der Antragstellerin, das im Submissionstermin vom 12.04.2006 vorgelegen hat, kann der Zuschlag nicht (mehr) erteilt werden, da dieses im Rechtssinne nicht mehr existent ist.

Ein zur Ausschreibung eingereichtes Angebot stellt einen Antrag im zivilrechtlichen Sinne dar, für den die §§ 145ff. BGB gelten. Die Antragstellerin hat zwar zunächst innerhalb der Angebotsfrist bis 12.04.2006 ein Angebot vorgelegt. Nach § 146 BGB erlischt jedoch ein Antrag, wenn er nicht dem Antragenden gegenüber nach den §§ 147 bis 149 BGB rechtzeitig angenommen wird. Da die Antragstellerin die Bindefrist ihres Angebots (§ 19 Abs. 3 VOL/A) ursprünglich bis 14.07.2006 und hernach bis 31.08.2006 begrenzt hatte, konnte die Annahme (Zuschlag) gem. § 148 BGB nur innerhalb dieser Frist erfolgen. Da das nicht der Fall war, erlosch das Angebot mit Ablauf des 31.08.2006. Zwar hat die Antragstellerin am 06.09.2006 die Bindefrist bis 31.10.2006 erneut "verlängert". Dadurch konnte sie aber die bereits eingetretene Erlöschenswirkung nicht mehr rückgängig machen.

Auch aus Sicht der Vergabestelle kommt eine rückwirkende Annahmeerklärung nicht mehr Betracht. Die verspätete Annahme eines Antrags regelt § 150 Abs. 1 BGB. Hiernach gilt die Annahme als neuer Antrag, den der ursprünglich Antragende durch eine gesonderte Erklärung anzunehmen hat. Dem entspricht der - für das vorliegende VOL/A-Verfahren nicht unmittelbar einschlägige - § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A, wonach der Bieter im Falle eines verspäteten Zuschlags aufzufordern ist, "sich unverzüglich über die Annahme zu erklären". Auch dieser Formulierung liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass die Bindung an das ursprüngliche Angebot nicht fortbesteht, da es sonst einer erneuten Annahmeerklärung - und zwar nunmehr auf das Angebot der Vergabestelle - seitens des Bieters nicht bedürfte. Danach kann ein Zuschlag - im Sinne einer einfachen Annahmeerklärung gem. § 146 BGB - auf das mittlerweile erloschene Angebot vom 12.04.2006 nicht mehr erteilt werden. Jedenfalls in seinem ursprünglichen Bestand nimmt dieses somit nicht mehr an der Ausschreibung teil.

3. Das derzeit im Wettbewerb befindliche Angebot der Antragstellerin vom 06.09.2006 ist wegen Überschreitung der Angebotsfrist zwingend gem. § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A auszuschließen.

a) Die von der Antragstellerin erst nachträglich nach Ablauf der Bindefrist am 06.09.2006 vorgenommene Fristverlängerung kann im Wege rechtsgeschäftlicher Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ohne weiteres als Abgabe eines neuen Angebots angesehen werden, welches seinem Inhalt nach mit dem zuvor erloschenen identisch ist. Trotz dieser inhaltlichen Übereinstimmung darf es gleichwohl aufgrund der zwingenden Vorschrift des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A nicht gewertet werden, da die Angebotsfrist (§ 18 Abs. 1 S. 1 VOL/A) überschritten ist (so jeweils ohne nähere Begründung OLG Frankfurt VergabeR 2003, 725, 729; BayObLG VergabeR 2002, 534, 538; OLG Dresden Beschl. vom 08.11.2002, Az. WVerg 19/02 Umdruck S. 9) und in dieser Hinsicht weder der Vergabestelle noch den Vergabeprüfungsinstanzen ein Ermessensspielraum eingeräumt wäre. Die Rechtsfolge kommt auch vorliegend zum Tragen.

b) Der Senat verkennt nicht, dass es Konstellationen gibt, wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach - in unterschiedlichem Kontext - Gegenstand der Rechtsprechung der Vergabesenate waren, in denen der strikte Ausschluss eines nach Erlöschen der Bindefrist (erneut) eingereichten inhaltsgleichen Angebots dem geltenden Vergaberecht widerspricht. Eine solche Ausnahme ist bereits im Normwortlaut des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A insofern angelegt, als verspätete Angebote dann nicht dem Ausschluss unterliegen, wenn der verspätete Eingang durch nicht vom Bieter zu vertretende Umstände verursacht worden ist. Die Frage, wann solche Umstände anzunehmen sind, wird nach Auffassung des Senats maßgeblich von der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bestimmt. Von zentraler Bedeutung ist es daher aus Sicht des Senats, § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A sowohl in seiner angebotsausschließenden als auch in seiner angebotserhaltenden Funktion mit gleicher Wirkung für und gegen alle Bieter anzuwenden.

aa) Zunächst ist zum näheren Verständnis darauf hinzuweisen, dass es außerhalb des Geltungsbereichs der VOL/A und VOB/A durchaus Vergabeverfahren gibt, die, wie etwa das VOF-Verhandlungsverfahren, keine Angebotsfrist kennen (vgl. Müller-Wrede, VOF, 2. Aufl., § 14 Rn. 38). Knüpft in einem solchen Verfahren der Bieter seine Bewerbung an die Einhaltung einer bestimmten Bindefrist, so ist die Vergabestelle trotz des Fristablaufs und zivilrechtlichen Erlöschens der Bewerbung (§ 146 BGB) nicht gehindert, erneut an den Bieter heranzutreten und um eine Erneuerung seiner Bewerbung nachzusuchen. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann die Vergabestelle aus haushaltsrechtlichen Gründen sogar zu einem solchen Vorgehen gehalten sein (vgl. hierzu BGH ZfBR 2004, 290, 291). Doch beruht diese Konsequenz auf den Besonderheiten des VOF-Verhandlungsverfahrens, dessen Regeln insoweit nicht verallgemeinerungsfähig und auf andere Vergabeverfahren nicht übertragbar sind.

bb) Im Anwendungsbereich der VOL/A lässt § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A sinngemäß nur dann die Überschreitung der Angebotsfrist zu, wenn die Ursache hierfür nicht dem Verantwortungsbereich des Bieters zuzurechnen ist. Hierfür kommen neben den klassischen Übermittlungsstörungen (z.B. Verzögerung oder Verlust der Angebotsunterlagen auf dem Versandweg u.ä.) auch solche Fälle in Betracht, die im Kontext der angesprochenen Problematik der Überschreitung der Binde- bzw. Angebotsfrist zu sehen sind.

Berücksichtigt man nämlich, dass es jedenfalls (auch) Sache der Vergabestelle ist, für die Einhaltung der Zuschlagsfrist Sorge zu tragen, wird man eine Obliegenheit annehmen müssen, nach der sie rechtzeitig vor Ablauf einer in den Ausschreibungsbedingungen festgelegten Bindefrist auf alle Bieter mit dem Ziel einer Fristverlängerung zuzugehen hat, wenn sich abzeichnet, dass diese aus bestimmten Gründen (z.B. wegen der Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens) nicht eingehalten werden kann. Zwar liegt es daneben (auch) im Verantwortungsbereich des einzelnen Bieters, die ununterbrochene Bindung an sein Angebot sicherzustellen und ein Erlöschen im Sinne des § 146 BGB zu verhindern. Doch spricht zumindest unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten viel dafür, eine Ausschreibung nicht schon vorschnell an dem - möglicherweise durch ein laufendes Nachprüfungsverfahren in den Hintergrund geratenen und daher von allen Verfahrensbeteiligten unter Einschluss der Vergabestelle übersehenen - Umstand scheitern zu lassen, dass die Angebote sämtlicher Bieter wegen Überschreitens der Bindefrist erloschen sind. Es wäre mit dem Ziel des effektiven Wettbewerbsschutzes kaum vereinbar, in einem solchen Falle die Ausschreibung aufzuheben und der Vergabestelle zu gestatten, freihändig den Zuschlag zu erteilen. Da weder eine Bevorzugung noch eine Benachteiligung eines einzelnen Bieters zu besorgen ist, liegt es vielmehr unter den genannten Vorzeichen auf der Hand, die Vergabestelle noch nachträglich zu verpflichten, die Bindefrist mit gleicher Wirkung für alle Bieter neu zu bestimmen und diesen die Chance zu geben, sämtliche - obschon gem. § 146 BGB formal erloschenen - Angebote mit identischem Inhalt erneut einzureichen, und der Ausschreibung auf diese Weise ihren Fortgang zu geben (so im Ergebnis wohl auch OLG Naumburg Beschl. vom 13.10.2006, Az. 1 Verg 6/06, 1 Verg 7/06).

Rechtstechnisch lässt sich eine solche Konsequenz zwanglos damit begründen, dass die gegenüber der ursprünglichen Angebotsfrist verspätete Angebotsabgabe durch Umstände im Sinne des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A verursacht sind, die nicht in der Sphäre des einzelnen Bieters, sondern vielmehr in der Sphäre aller Bieter liegen und mehr noch im Verantwortungsbereich der Vergabestelle anzusiedeln sind. Denn in erster Linie obliegt es ihr als der für die Rahmenbedingungen der Ausschreibung zuständigen Stelle, eine Bindefrist vorzugeben und diese bei drohender Überschreitung erforderlichenfalls mit Wirkung für alle zu verlängern. Deshalb ist unter den genannten Voraussetzungen eine Aufhebung der Ausschreibung nicht angezeigt und stattdessen eine nachträgliche Bindefristverlängerung veranlasst, mit der Folge, dass die daraus resultierende Überschreitung der Angebotsfrist durch eine Neueinreichung der inhaltsidentischen früheren Angebote nicht unter § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A fällt.

cc) Erst recht den Bieter entlastende Umstände im Sinne des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A sind anzuerkennen, wenn die Vergabestelle angesichts einer sich abzeichnenden Überschreitung der Bindefrist einen einzelnen Bieter bewusst übergeht und nur an die übrigen Bieter herantritt, um sie zur Verlängerung der Bindefrist zu bewegen (vgl. zu einer solchen Konstellation OLG Düsseldorf VergabeR 2002, 267, 269f.). Schon mit Blick auf das Gleichbehandlungsgebot, aber auch um jeglichen manipulativen Tendenzen seitens der Vergabestelle einen Riegel vorzuschieben, ist es in einem solchen Fall geboten, dem übergangenen Bieter auch noch nach Ablauf der Binde- bzw. Angebotsfrist die Chance zu eröffnen, erneut ein inhaltsgleiches Angebot vorzulegen und dieses nicht der Ausschlusswirkung des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A zu unterwerfen. Obwohl auch hier gilt, dass der einzelne Bieter grundsätzlich Mitverantwortung für die ununterbrochene Fortdauer der Angebotsbindung bzw. die Einhaltung der Angebotsfrist trägt, sind die Ursachen einer Fristüberschreitung ihrem Schwerpunkt nach nicht bei ihm, sondern in dem ihn gezielt benachteiligenden Verhalten der Vergabestelle zu suchen. Jede andere Lösung würde elementaren Grundsätzen des Vergaberechts zuwiderlaufen (§ 97 Abs. 2 GWB).

c) Wendet man diese Grundsätze auf den Streitfall an, bleibt es bei dem in § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A angeordneten Ausschluss des Angebots der Antragstellerin vom 06.09.2006. Eine Ausnahmekonstellation im Sinne der vorbezeichneten Art liegt nicht vor. Denn die Ursache der Angebotsfristüberschreitung nach Ablauf der Bindefrist liegt allein im Verantwortungs- und Risikobereich der Antragstellerin. Anhaltspunkte für einen Obliegenheitsverstoß seitens der Vergabestelle gegenüber der Gesamtheit der Bieter oder eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zulasten eines einzelnen Teilnehmers sind nicht ersichtlich. Die Vergabestelle hat vielmehr rechtzeitig vor der sich abzeichnenden Überschreitung der Bindefrist alle im Wettbewerb verbliebenen Bieter einschließlich der Antragstellerin zur Fristverlängerung aufgefordert. Während die übrigen Bieter dem Folge leisteten, hat allein diese eine individuell bestimmte Frist (31.08.2006) gesetzt, für deren Einhaltung und ggf. Verlängerung sie selbst Sorge zu tragen hatte. Es war nicht Sache der Vergabestelle, die Antragstellerin hieran zu erinnern und um eine erneute Fristverlängerung anzugehen. Entlastende Umstände im Sinne des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A vermag der Senat daher nicht zu erkennen.

d) Der Senat teilt auch nicht die in der mündlichen Verhandlung und im Schriftsatz vom 23.10.2006 vertretene Auffassung der Antragstellerin, wonach es mit Blick auf die Regelung des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOL/A und die Parallelbestimmung des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A vergaberechtlich generell zulässig sei, noch nachträglich auf ein durch Ablauf der Bindefrist erloschenes Angebot einen Zuschlag zu erteilen, sofern es nur inhaltlich unverändert bleibe. Abgesehen davon, dass schon dem Wortlaut der Normen eine solche Regel nicht entnommen werden kann, vermag diese Lesart nicht zu überzeugen.

Die von der Antragstellerin vorgenommene Interpretation insbesondere des Rechtsgedankens des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A, wonach ein verspäteter Zuschlag jedenfalls nicht unzulässig sei und daher auch ein außerhalb der Binde- bzw. Angebotsfrist abgegebenes Angebot noch vergaberechtlich als wertungsfähig angesehen werden müsse, führt zu einem Systembruch im Verhältnis zu § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A. Der dort zwingend angeordnete Ausschluss eines verspäteten Angebots würde gänzlich ins Leere gehen, wenn es die Vergabestelle gleichwohl in entsprechender Anwendung des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A in der Hand hätte, auf ein solches Angebot noch den Zuschlag zu erteilen und Aufträge außerhalb des der Ausschreibung zugrunde gelegten Zeitprogramms zu vergeben. Die Bedeutung des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A liegt daher aus Sicht des Senats darin, dass die Vorschrift - wie § 150 Abs. 1 BGB - die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Vertrags klarstellt, der auf einem verspäteten bzw. nicht mehr existenten Angebot beruht, wobei der Vertrag dadurch zustande kommt, dass die Vergabestelle dem Bieter ein - ggf. inhaltlich identisches - Angebot unterbreitet, das nunmehr der Bieter annehmen muss. Die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Vertrags und der Eintritt entsprechenden vergaberechtlichen Bestandsschutzes (§ 114 Abs. 2 S. 1 GWB) schließt jedoch nicht aus, dass gleichwohl vergaberechtliche Bestimmungen verletzt sein können und einem Bieter dadurch Schadensersatzansprüche entstehen (vgl. § 114 Abs. 2 S. 2 GWB). Die von der Antragstellerin vorgenommene Auslegung des § 28 Nr. 2 Abs. 2 VOB/A trennt nicht zwischen diesen beiden Ebenen und führt daher, wie erwähnt, zu systematischen Widersprüchen im Hinblick auf den Anwendungsbereich des § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. e VOL/A.

Abgesehen von diesen Ungereimtheiten ist der Ansatz der Antragstellerin mit dem Gleichbehandlungsgebot nicht vereinbar, wie gerade der vorliegende Fall zeigt. Während die übrigen Bieter sich der Bindefristverlängerung uneingeschränkt unterzogen haben, hat sich die Antragstellerin zumindest abstrakt einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Da die Fristverlängerung seitens der Vergabestelle zwingend vorgegeben war ("muss verlängert werden"), stand es nicht im Ermessen der Bieter, hiervon abzuweichen und für das eigene Angebot - auch nur zeitweilig - die Bindung aufzuheben. Dabei handelte es sich um keine bedeutungslose Formalie. Denn die Antragstellerin hat sich im Vergleich zu ihren Konkurrenten jedenfalls insoweit einen zusätzlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum verschafft, als sie nach Erlöschen der Angebotsbindung mit ihrem Wissensvorsprung gegenüber dem Zeitpunkt der Angebotsabgabe (12.04.2006) bzw. gegenüber dem Zeitpunkt der erstmaligen Bindefristverlängerung (06.07.2006) anders als die übrigen Bieter neu darüber entscheiden konnte, ob sie die Teilnahme am Wettbewerb aufrechterhalten wollte. Dies ist unter Gleichbehandlungsaspekten nicht zu tolerieren.

Das Angebot der Antragstellerin vom 06.09.2006 unterliegt somit dem Ausschluss.

4. Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht im Sinne des § 124 Abs. 2 S. 1 GWB in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung der Vergabesenate.

a) Soweit das OLG Rostock in seinem Beschluss vom 08.03.2006 (Az. 17 Verg 16/05) entschieden hat, dass auch nach Ablauf einer vorgegebenen Bindefrist diese noch nachträglich verlängert werden könne, hat es diese Auffassung in den Entscheidungsgründen ausdrücklich darauf gestützt, dass der Bieter "für eine ununterbrochene Bindung an sein Angebot Sorge getragen" habe. Dem lag zugrunde, dass die Bindefrist eines Angebots am 28.02.2006 abgelaufen und im Laufe des 01.03.2006 seitens des Bieters verlängert worden war. Da im vorliegenden Fall hingegen mehrere Tage zwischen dem Ablauf der Bindefrist und der nachträglichen Verlängerung lagen, hat die Antragstellerin auch auf dem Boden der Rechtsauffassung des OLG Rostock jedenfalls nicht mehr für eine ununterbrochene Angebotsbindung gesorgt. Eine Divergenz scheidet danach aus.

b) Hinsichtlich der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren des § 118 Abs. 1 S. 3 GWB ergangenen Entscheidung des OLG Naumburg vom 01.09.2004 (Az. 1 Verg 11/04) ist eine Vorlage nach § 124 Abs. 2 S. 1 GWB schon deshalb nicht veranlasst, weil es sich um keine Hauptsacheentscheidung handelte, § 124 Abs. 2 S. 3 GWB analog (vgl. OLG Celle Beschl. vom 01.07.2004, Az. 13 Verg 8/04; Kulartz/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, § 124 Rn. 14).

c) Soweit das OLG Naumburg mit zwei Beschlüssen vom 13.10.2006 (Az. 1 Verg 6/06 und 1 Verg 7/06) die Aufhebung einer Ausschreibung für unzulässig erklärt hat, nachdem im dortigen Fall zulasten aller im Wettbewerb verbliebenen Bietern die Bindefrist abgelaufen und deren Angebote erloschen waren, und das Gericht stattdessen eine Fortsetzung des Ausschreibungsverfahrens mit neu in Gang zu setzenden Fristen für zulässig gehalten hat, so teilt der Senat diese Auffassung ausdrücklich, wie oben dargelegt wurde (Punkt 3 b bb). Gleiches gilt hinsichtlich der o.g. Entscheidung des OLG Düsseldorf (VergabeR 2002, 267, 270). Denn wie bereits ausgeführt (Punkt 3 b cc), stimmt der Senat mit dem OLG Düsseldorf im Ergebnis darin überein, dass ein Bieter, der von der Vergabestelle im Rahmen einer Bindefristverlängerung bewusst (so die ausdrücklichen Feststellungen des OLG Düsseldorf) übergangen wird, noch nach Fristablauf eine Verlängerung der Bindefrist erklären darf.

Die Voraussetzungen einer Divergenzvorlage sind daher nicht erfüllt.

5. Unzutreffend ist schließlich der Einwand der Antragstellerin im Schriftsatz vom 24.10.2006, wonach Gegenstand des Beschwerdeverfahrens allein der Sach- und Streitstand im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Vergabekammerentscheidung sei und daher vorliegend der erst später erfolgte Ablauf der Bindefrist außer Betracht zu bleiben habe. Da der Vergabesenat keine bloße Rechtsprüfungsinstanz, sondern volle Tatsacheninstanz ist (§§ 120 Abs. 2, 70 Abs. 1 GWB), erstreckt sich seine Entscheidungszuständigkeit auch auf solche Umstände, die erst nach Abschluss des Verfahrens vor der Vergabekammer eingetreten sind.

Nach allem war der sofortigen Beschwerde stattzugeben und der Nachprüfungsantrag mangels eines wertungstauglichen Angebots der Antragstellerin als unbegründet (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschl. vom 20.06.2005, Az. 9 Verg 3/05 = VergabeR 2005, 503ff.) zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 97 Abs. 1 ZPO. Die Vergabestelle hatte erstinstanzlich zurecht Zurückweisung des Nachprüfungsantrags beantragt, weshalb ihr insoweit die vor der Vergabekammer entstandenen Kosten zu erstatten sind. Dagegen war die Vergabestelle hinsichtlich der Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht heranzuziehen noch waren ihr Kosten zu erstatten, da sie keinen Antrag gestellt hat. Den Beschwerdewert hat der Senat unter Berücksichtigung des Bruttoauftragswertes der Angebot der Antragstellerin (Teillos 11: 8.757.186,98 €; Teillos 21: 9.934.009,09 €; Teillos 31: 4.026.632,82 €; Teillos 41: 8.657.562,10 €), gestaffelt für die Zeit vor und nach der Verfahrensverbindung, auf der Grundlage des § 50 Abs. 2 GKG festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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