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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 27.03.2006
Aktenzeichen: 9 W 112/06
Rechtsgebiete: FGG


Vorschriften:

FGG § 24 Abs. 3
FGG § 29a
Für die Zulassung einer außerordentlichen Beschwerde im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschlüsse vom 30.4.2003, Az. 1 PBvU 1/02 = NJW 2003, 1924ff., und 7.10.2003, Az. 1 BvR 10/99 = NJW 2003, 3687ff.) nach Inkrafttreten des § 29a FGG auch außerhalb des dort geregelten Bereichs der Gehörsverletzung kein Raum mehr.
THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

9 W 112/06

In der Vormundschaftssache

hat der 9. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Bettin, Richterin am Oberlandesgericht Zoller und Richter am Oberlandesgericht Giebel auf die außerordentliche Beschwerde vom 07.03.2006 gegen den Beschluss des Landgerichts Gera vom 22.02.2006 am 27.03.2006 beschlossen:

Tenor:

Die außerordentliche Beschwerde wird als unzulässig verworfen.

Gründe:

1. Beim Landgericht ist derzeit eine Beschwerde des Beteiligten zu 2. gegen einen vormundschaftsgerichtlichen Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 03.02.2006 (Bl. 75 d.A.) anhängig, mit der die vom Amtsgericht angeordnete Bestellung der Beteiligten zu 1. als Vormünder des Mündels angefochten wird. Auf Antrag des Beteiligten zu 2. vom 07.02.2006 (Bl. 86 d.A.) hat das Landgericht mit Beschluss vom 22.02.2006 (Bl. 192 d.A.) im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 24 Abs. 3 FGG den Beschluss des Amtsgerichts außer Vollzug gesetzt, die Fortgeltung der Bestellung des Jugendamts zum Amtsvormund festgestellt und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Mündel dem Beteiligten zu 2. übertragen. Hiergegen wenden sich die Beteiligten zu 1. mit der vorliegenden beim Oberlandesgericht eingelegten außerordentlichen Beschwerde wegen "greifbarer Rechtswidrigkeit" (Bl. 295 d.A.). Parallel dazu haben sie mit Schriftsatz vom 07.03.2006 beim Landgericht Anhörungsrüge gem. § 29a FGG erhoben (Bl. 252 d.A.), über die nach Aktenlage derzeit noch nicht entschieden ist.

2. Die außerordentliche Beschwerde ist unzulässig.

a) Nach einhelliger Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung ist eine selbstständige Anfechtbarkeit einer auf der Grundlage des § 24 Abs. 3 FGG vom Beschwerdegericht erlassenen einstweiligen Anordnung nicht gegeben (vgl. BGH NJW-RR 1997, 1149; NJW 1993, 2040; Keidel/Kuntze/Winkler, FGG. 15. Aufl., § 24, Rn. 24 mit weit. Rspr.-Nachw.).

b) Auch für einen vom Gesetz nicht vorgesehenen Rechtsbehelf in Gestalt einer außerordentlichen Beschwerde, wie er früher in der Rechtsprechung (vgl. BGHZ 109, 41, 43; 130, 97, 99; ThürOLG FGPRax 2000, 251; BayObLG FGPrax 1999, 160) für Fälle einer greifbaren Gesetzwidrigkeit für zulässig gehalten wurde, ist nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 30.4.2003 (NJW 2003, 1924ff.) und 7.10.2003 (NJW 2003, 3687ff.) sowie dem Inkrafttreten des § 29a FGG am 1.1.2005 kein Raum mehr. Diese Auffassung, die auch für den Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit bereits seit 1.1.2002 von der überwiegenden Anzahl der Oberlandesgerichte mit Blick auf die parallel durch das ZPO-Reformgesetz durch Einführung des § 321a ZPO neu geschaffene Rechtslage vertreten wurde (vgl. BayObLG MDR 2003, 410; KG FGPrax 2005, 66, OLG Frankfurt FGPRax 2004, 75; OLG Köln OLGR 2003, 228; offengelassen in BayObLG FGPrax 2002, 218), kommt nach jetziger Rechtslage erst recht zum Tragen (vgl. OLG Zweibrücken MDR 2005, 1245).

aa) Mit der Vorschrift des § 29a FGG stellt das Gesetz für den Bereich einer Gehörsverletzung - neben der nach §§ 27ff. FGG bestehenden Möglichkeit einer weiteren (sofortigen) Beschwerde - den speziellen Rechtsbehelf einer Selbstkorrektur des entscheidenden Gerichts zur Verfügung. Außerhalb dieses gesetzlichen Rechtsschutzsystems kommt ein außerordentliches Rechtsmittel auch dann nicht zur Anwendung, wenn nicht Gehörsverletzungen, sondern sonstige - etwa auf den Vorwurf einer "greifbaren Rechtswidrigkeit" gestützte - Verfahrensverstöße beanstandet werden.

Soweit in der Beschwerdebegründung in Übereinstimmung mit diversen Kommentarfundstellen (vgl. Keidel/Kuntze/Winkler/Meyer-Holz, FGG, Nachtrag zur 15. Aufl., § 29a, Rn. 26; Bumiller/Winkler, FGG, 8. Aufl., § 29a, Rn. 2) weiterhin für die Statthaftigkeit einer außerordentlichen Beschwerde im Bereich außerhalb der in § 29a FGG geregelten Gehörsrüge plädiert wird, hält dieser Ansatz verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht stand. Zwar ist der Beschwerdebegründung und den vorgenannten Autoren zuzugeben, dass der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung des § 29a FGG die richterrechtliche Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe außerhalb des Bereichs der in § 29a FGG geregelten Gehörsverletzungen nicht ausgeschlossen hat (vgl. BT-Drucks. 15/3706 S. 15f., S. 19). Das Bundesverfassungsgericht, das sich in seinen Beschlüssen vom 30.4.2003 (NJW 2003, 1924ff.) und 7.10.2003 (NJW 2003, 3687ff.) eingehend mit der Problematik auseinandergesetzt hat, hält jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen zurecht allein den Gesetzgeber zur abschließenden Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems für autorisiert. Es hat insbesondere der früheren Gerichtspraxis, wonach in außergewöhnlich gelagerten Fällen zur Schließung von Lücken im gesetzlichen Rechtsschutzsystem eine richterrechtlich - praeter legem - entwickelte außerordentliche Beschwerde für zulässig gehalten wurde, eine ausdrückliche Absage erteilt. Dabei hat es betont, dass solche am Gesetz vorbei geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe den Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht genügen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1924, 1928; BVerfG NJW 2003, 3687, 3688). Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein (vgl. BVerfG a.a.O.).

Das Bundesverfassungsgericht hat daher den Gesetzgeber verpflichtet, Lücken im Rechtsschutzsystem im Falle von Gehörsverletzungen zu schließen, wobei es ihm die Möglichkeit offen gelassen hat, zwischen einer Selbstkorrektur durch das Ausgangsgericht (iudex a quo) oder der Anrufung eines übergeordneten Rechtsmittelsgerichts (Iudex ad quem) zu wählen (vgl. BVerfG a.a.O.). Zur gesetzlichen Neuregelung hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber insoweit eine Frist bis 31.12.2004 eingeräumt, innerhalb derer die frühere von den Gerichten geübte Praxis noch hinzunehmen sei (vgl. BVerfG a.a.O.). Der Gesetzgeber hat auf diese Vorgabe mit dem Anhörungsrügengesetz vom 28.10.2004 reagiert, das am 1.1.2005 in Kraft getreten ist und u.a. eben die Bestimmung des § 29a FGG enthält.

bb) Vor diesem Hintergrund ist für den Senat nicht erkennbar, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage Gerichte weiterhin - zumal in der Form eines devolutiven, die übergeordnete Instanz anrufenden (echten) Rechtsmittels - zur Entscheidung über selbst geschaffene Rechtsbehelfe berufen sein könnten. Das dem Gesetz unbekannte Kriterium einer "greifbaren Rechtswidrigkeit" entspricht auch außerhalb der vom Bundesverfassungsgericht explizit erörterten Thematik der Gehörsrüge weder den Anforderungen der verfassungsrechtlich für unverzichtbar erklärten Rechtsmittelklarheit noch der schriftlichen Kodifizierung des Rechtsschutzsystems. Mithin vermag auch der o.g. Hinweis in der amtlichen Gesetzesbegründung, wonach § 29a FGG die Rechtspraxis außerhalb des Bereichs der Gehörsverletzungen unberührt lassen soll, nicht die Existenz eines solchen außerordentlichen Rechtsbehelfs zu begründen. Mag diese Äußerung für die Auslegung der Reichweite des § 29a FGG dahingehend von Bedeutung sein, dass eine erweiternde Anwendung der Bestimmung auf Fälle sonstiger Verfahrensverletzungen ggf. als nicht mehr vom gesetzgeberischen Willen gedeckt anzusehen wäre und insoweit tatsächlich eine Lücke bestünde, so ist der Gesetzgeber gleichwohl nicht befugt, die Schließung solcher Lücken den Gerichten zu überlassen. Die abschließende Festlegung des Rechtsmittelsystems nach Art und Umfang ist nach geltendem Verfassungsrecht allein ihm vorbehalten.

Für eine außerordentliche Beschwerde ist danach kein Raum; sie war daher als unzulässig zu verwerfen.

3. Das Beschwerdeverfahren ist gem. § 131 Abs. 3 KostO gebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.



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