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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 03.11.2003
Aktenzeichen: AR (S) 170/03
Rechtsgebiete: BRAGO


Vorschriften:

BRAGO § 83 Abs. 1
BRAGO § 84 Abs. 1
BRAGO § 97 Abs. 1
BRAGO § 97 Abs. 3
BRAGO § 99
1. Werden zu einem Verfahren, in dem ein Pflichtverteidiger tätig ist, weitere Verfahren hinzuverbunden, ist - falls diese nicht ausdrücklich erfolgt - grundsätzlich von einer schlüssigen Verteidigerbestellung auch für diese Verfahren auszugehen. Für die weiteren Verfahren erhält der Verteidiger für eine Tätigkeit als Wahlverteidiger im Vorverfahren die Gebühren nach §§ 97 Abs. 1, 84 Abs. 1 BRAGO.

2. Eine gesonderte Gebühr gem. §§ 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 BRAGO fällt auch dann an, wenn ein Verfahren erst in der Hauptverhandlung hinzuverbunden wird (hier ein Verfahren nach Einspruch gegen Strafbefehl) und insoweit eine schlüssige Verteidigerbeiordnung erfolgt.

3. Entstehen mehrere Gebühren, so ist dies im Rahmen der Abwägung nach § 99 BRAGO zu berücksichtigen.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

AR (S) 170/03

In dem Strafverfahren

wegen Beihilfe zur Förderung der Prostitution

hat auf den Antrag des Rechtsanwalts J. St., Pegau, ihm als gerichtlich bestelltem Verteidiger des Angeklagten eine Pauschvergütung zu bewilligen (§ 99 BRAGO), der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts durch

Richter am Oberlandesgericht Dr. Schwerdtfeger als Vorsitzenden, Richter am Oberlandesgericht Schulze und Richterin am Amtsgericht stVDir Pesta

am 03. November 2003

beschlossen:

Tenor:

Dem Antragsteller wird für das Verfahren erster Instanz eine Pauschvergütung in Höhe von 680,- € (netto) bewilligt.

Gründe:

Rechtsanwalt St. wurde dem Angeklagten durch Beschluss des Amtsgerichts Altenburg vom 06.05.2003 und damit nach der am 23.01.2003 erfolgten Anklageerhebung im führenden Verfahren 840 Js 11033/02 zum Pflichtverteidiger bestellt. Im führenden Verfahren war er nicht vor Erhebung der Anklage tätig, da er erst am 28.01.2003 als Wahlverteidiger bevollmächtigt wurde. Außerdem vertrat der Antragsteller den Angeklagten im Verfahren 140 Js 6290/03, in dem am 12.05.2003 Anklage erhoben und das am 04.06.2003 zum führenden Verfahren hinzu verbunden wurde, zunächst als Wahlverteidiger. In dieser Sache wurde er am 28.01.2003 bevollmächtigt. Entsprechendes gilt für das Verfahren 260 Js 8458/03, in dem vom Amtsgericht Altenburg am 07.05.2003 ein Strafbefehl erlassen worden war, gegen den der Angeklagte fristgerecht Einspruch einlegte. In dieser Sache wurde der Antragsteller durch den Angeklagten am 29.01.2003 als Verteidiger bevollmächtigt. Die Verbindung zum führenden Verfahren erfolgte in der Hauptverhandlung vom 02.07.2003, an welcher der Antragsteller teilnahm.

Eine ausdrückliche Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgte bezüglich der hinzu verbundenen Verfahren nicht. In beiden Sachen lagen, bei isolierter Betrachtung, die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nicht vor.

Mit seinem Antrag vom 03.07.2003 begehrt der Verteidiger die Festsetzung einer Pauschvergütung nach § 99 BRAGO, deren Höhe er ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt hat.

Der Bezirksrevisor bei dem Thüringer Oberlandesgericht hat vorgeschlagen, eine Pauschvergütung in Höhe von 540,- € zu bewilligen. Damit hat sich der Antragsteller mit Schriftsatz vom 08.10.2003 einverstanden erklärt.

Die Bewilligung einer Pauschvergütung ist wegen des besonderen Umfangs und der besonderen Schwierigkeit der Sache in der festgesetzten Höhe gerechtfertigt.

Auszugehen ist von den gesetzlichen Gebühren des Antragstellers nach §§ 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 3, 84 Abs. 1 BRAGO, jeweils unter Berücksichtigung eines Abzuges von 10 % nach dem Einigungsvertrag.

Dem Pflichtverteidiger steht zunächst zweimal die Vorverfahrensgebühr nach § 84 Abs. 1 BRAGO i. V. m. § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO zu. Dieser Anspruch besteht, obwohl der Verteidiger im führenden Verfahren 840 Js 11033/02 vor Erhebung der Anklage nicht tätig war.

Werden zu einem Strafverfahren weitere Verfahren hinzu verbunden, so gilt die Pflichtverteidigerbestellung des führenden Verfahrens auch für die weiteren Verfahren, ohne dass es eines ausdrücklichen Beiordnungsbeschlusses bedarf.

Soweit der Senat im Verfahren 1 AR (S) 16/03 (Beschluss vom 10.06.2003) in Bezug auf das Entstehen einer Vorverfahrensgebühr nach §§ 97 Abs. 1 , 84 Abs. 1 BRAGO noch eine andere Rechtsauffassung vertreten hat, wird daran nicht festgehalten. Die Grundsätze, die der Senat in diesem Verfahren hinsichtlich der Berücksichtigungsfähigkeit bei der Beurteilung von Umfang und Schwere des Verfahrens im Rahmen des §§ 99, 83 Abs.1 BRAGO angewandt hat, sind vielmehr ohne Einschränkung bei der Frage der schlüssigen Pflichtverteidigerbeiordnung als solcher anzuwenden.

§ 97 BRAGO enthält insoweit keine ausdrückliche Regelung . In der Rechtsprechung der Obergerichte ist - soweit ersichtlich - diese Konstellation, nämlich die Hinzuverbindung von weiteren Verfahren, in denen isoliert keinesfalls eine Pflichtverteidigerbestellung erfolgen würde, nicht ausdrücklich problematisiert worden. Die vom Senat im o.g. Beschluss in Bezug genommene Kommentarstelle bei Gebauer/Schneider bezieht sich auf eine Entscheidung des LG Mainz in KostRsp. BRAGO § 97 Nr. 45. Danach wird durch die Verbindung zweier Verfahren der in einem Verfahren beigeordnete Pflichtverteidiger nicht, auch nicht stillschweigend, in dem anderen Verfahren beigeordnet. Dem kann nicht gefolgt werden.

Vorliegend ist zwar weder anlässlich der Verbindungsbeschlüsse vom 04.06 und 02.07.2003 bzw. danach eine Beiordnung des Antragstellers erfolgt noch wurde eine Ergänzung des ursprünglichen Beiordnungsbeschlusses vorgenommen. Eine Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auch auf diese Verfahren wäre nach deren Verbindung zu dem Hauptverfahren jedoch erforderlich gewesen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 140, Rn. 5 und § 5 Rn. 1). Die Verbindung erfolgte nämlich wegen des persönlichen Zusammenhangs nach §§ 2 ff. StPO und nicht nach § 237 StPO nur zur gemeinsamen Verhandlung. Die Verteidigung ist aber i.S.v. § 140 Abs. 1 StPO insgesamt notwendig, wenn sie es wegen einer der Sachen ist.

Im Übrigen vermag die o.g. Entscheidung des LG Mainz weder in gebührenrechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht zu überzeugen und führt zu wesentlichen Widersprüchen. In einem Fall, in dem der Beschuldigte in dem hinzu verbundenen Verfahren den Verteidiger als Wahlverteidiger gewählt hat, wäre dieser nämlich dann gleichzeitig Wahl- und Pflichtverteidiger in einem einheitlichen Verfahren, dass auch gebührenrechtlich als eine Einheit anzusehen ist. Andererseits würde die Tätigkeit als Pflicht- und Wahlverteidiger für die Zubilligung zweier selbständiger Gebühren sprechen. Wenn hingegen der Beschuldigte den Rechtanwalt in dem hinzu verbundenen Verfahren nicht als Wahlverteidiger bevollmächtigt hat und dies auch nicht nachholen würde, müsste sich die Tätigkeit des Pflichtverteidigers konsequenterweise nur auf das führende Verfahren beschränken, während der Beschuldigte sich hinsichtlich des weiteren Verfahrens selbst verteidigen müsste. Eine solche Verfahrensweise widerspräche den praktischen Anforderungen des Strafprozesses.

Diese Widersprüche lassen sich nur mit der sachgerechten Annahme einer schlüssigen Pflichtverteidigerbestellung in derartigen Fällen lösen.

Damit gilt konsequenterweise auch in den hinzu verbundenen Verfahren die Regelung des § 97 Abs. 3 BRAGO. Dem Antragsteller stehen mithin sowohl im Verfahren 140 Js 6290/03 als auch im Verfahren 260 Js 8458/03 Gebühren nach §§ 97 Abs. 1 , 84 Abs. 1 BRAGO zu.

Allerdings ist hier die Vorverfahrensgebühr, entgegen dem Vorschlag des Bezirksrevisors, nicht zu erhöhen, da die anwaltliche Tätigkeit in den hinzu verbundenen Verfahren 140 Js 6290/03 und 260 Js 8458/03 weder als besonders schwierig noch als besonders umfangreich einzuschätzen ist.

Weiterhin sind die gesetzlichen Gebühren nach §§ 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO zweifach entstanden. Eine gesonderte Gebühr für das Hauptverfahren ist dem Antragsteller nämlich auch für das Verfahren 260 Js 8458/03 zuzubilligen. In diesem Verfahren erfolgte die Verteidigerbestellung schlüssig in der Hauptverhandlung vom 02.07.2003. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung wurde die Sache zwar nicht ausdrücklich aufgerufen, sondern nach Feststellung der Personalien des Angeklagten und Verlesung der Anklagen der zwei bereits verbundenen Verfahren wurde mitgeteilt, dass dem Gericht weiterhin das Verfahren 260 Js 8458/03 vorliegt. Nach Beratung wurde die Sache dann mit dem führenden Verfahren verbunden, Angeklagter und Verteidiger verzichteten auf die Einhaltung der gesetzlichen Ladungsfrist und erklärten die Bereitschaft, auch in dieser Sache zu verhandeln. Bei dieser Sachlage ist auch für das hinzu verbundene Verfahren eine Gebühr nach § 83 Abs. 1 BRAGO entstanden. Der Senat folgt insoweit der ausführlich begründeten Entscheidung des OLG Naumburg vom 20.03.2000, 1 ARS (KostR) 18/00 bei Juris (a. A. OLG Saarbrücken, NStZ-RR 1999, 288).

Die Gebühren des § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO sind im Rahmen des § 99 BRAGO wesentlich anzuheben.

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats dient eine Hälfte der Gebühr nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO der Entschädigung des Pflichtverteidigers für die Vorbereitung der Hauptverhandlung und die andere Hälfte der Entschädigung für die Teilnahme an derselben. Bei dem führenden Verfahren handelte es sich hinsichtlich des Aktenumfanges um eine außerordentlich umfangreiche Sache. Bis zur Anklageerhebung umfasste die Akte bereits mehr als 7500 Seiten. Die Anklage vom 06.12.2002 erfolgte gegen den Angeklagten und den Mitangeklagten G. wegen Zuwiderhandlung gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 des Ausländergesetzes sowie wegen Beihilfe zur Förderung der Prostitution, zum Menschenhandel und zur Zuhälterei. Dem Angeklagten wurde angelastet, gemeinsam mit dem Mitangeklagten G. den gesondert Verfolgten Zeugen B. beim Betreiben eines ungenehmigten Bordells unterstützt zu haben und selbst im Tatzeitraum am Dirnenlohn von 34 aus dem osteuropäischen Raum eingeschleusten jungen Frauen, die im Zusammenwirken mit einer Schleuserorganisation nach Deutschland verbracht worden waren, beteiligt gewesen zu sein. Ausweislich der Anklageschrift waren die Angeklagten zu den erhobenen Schuldvorwürfen nicht geständig. Nach Einschätzung des Senats hat es sich bei dem führenden Verfahren aber nicht nur um ein für ein Verfahren vor dem Schöffengericht äußerst umfangreiches Strafverfahren gehandelt, sondern auch um ein besonders schwieriges Verfahren. Bei den vorgenannten Strafvorschriften handelt es sich nämlich gerade nicht um solche, die zum alltäglichen Arbeitsgebiet eines Strafverteidigers bzw. eines Strafgerichts gehören. Derartige Verfahren, noch dazu in diesem Umfang, sind für einen Strafverteidiger eher außergewöhnlich. Die genannten Strafvorschriften sind zudem nicht als einfach, sondern durchaus als kompliziert anzusehen. Unter Berücksichtigung von Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung ist die erste Hälfte der Gebühr nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO deshalb vorliegend auf das 2,5-fache zu erhöhen.

Zwar wäre - isoliert betrachtet - eine weitergehende Gebührenerhöhung hinsichtlich des auf die Vorbereitung der Hauptverhandlung entfallenden Gebührenanteils angezeigt gewesen. Vorliegend war aber auch zu berücksichtigen, dass im Verfahren 260 Js 8458/03 eine weitere gesetzliche Gebühr für das Vorverfahren entstanden ist, was in der Gesamtschau berücksichtigt werden muss (so auch OLG Naumburg a. a. O.; OLG Hamm, StV 2003, 178).

Dies gilt auch für die Bemessung der zweiten Hälfte der Gebühren des § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO.

Der zeitliche Umfang der Hauptverhandlung vom 02.07.2003 - diese dauerte mehr als 5 Stunden, wobei aus dem Protokoll nicht ersichtlich ist, dass Pausenzeiten in Abzug zu bringen sind - und die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überdurchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit in der Verhandlung würde an sich eine Verdopplung der zweiten Gebührenhälfte des § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO für das führende Verfahren rechtfertigen. Insgesamt ist aber durch den zweifachen Gebührenanspruch des Rechtsanwalts dessen Tätigkeit ausreichend abgegolten.

Insgesamt ergibt sich damit folgender Gebührenanspruch:

1. 1-fache Gebühr gem. §§ 97 Abs. 1, 84 Abs. 1 BRAGO für die Vertretung im Vorverfahren in der Sache 140 Js 6290/03 90 €

2. 1-fache Gebühr gem. §§ 97 Abs. 1, 84 Abs. 1 BRAGO für die Vertretung im Vorverfahren in der Sache 260 Js 8458/03 90 €

3. 2,5-fache Hälftegebühr gem. §§ 102, 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO für den Vorbereitungsaufwand in der Sache 840 Js 11033/02 225 €

4. 1-fache Hälftegebühr gem. §§ 102, 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO für den Vorbereitungsaufwand in der Sache 260 Js 8458/03 90 €

5. 1-fache Hälftegebühr gem. §§ 102, 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO für die Teilnahme an der Hauptverhandlung vom 02.07.2003 in der Sache 840 Js 11033/02 90 €

6. 1-fache Hälftegebühr gem. §§ 102, 97 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO für die Teilnahme an der Hauptverhandlung vom 02.07.2003 in der Sache 260 Js 8458/03 90 €

Summe: 675 €

aufgerundet 680 €

Gesichtspunkte, die eine weitere Erhöhung rechtfertigen, sind nicht gegeben.

Etwaige Vorschüsse und Teilzahlungen auf die dem Antragsteller zustehenden Gebühren sind bei der Festsetzung der Gebühren durch den Kostenbeamten des erstinstanzlichen Gerichts zu berücksichtigen. Diesem obliegt auch die Festsetzung der auf die bewilligte Pauschvergütung entfallenden gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Ende der Entscheidung

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