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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 25.11.2008
Aktenzeichen: 4 ZKO 462/01
Rechtsgebiete: GG, VwGO


Vorschriften:

GG Art 19 Abs. 4 S. 1
VwGO § 58 Abs. 2
VwGO § 74
Wird eine Klage, für die keine Frist in Lauf gesetzt wurde, erst nach Ablauf von mehreren Jahren seit der letzten Verwaltungsentscheidung erhoben, kann die Klageerhebung wegen Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben unzulässig sein. Die Rechtsfigur der Verwirkung stellt dabei nur eine Fallvariante dar, bei der die Klageerhebung als unzulässig zu behandeln ist.
THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT - 4. Senat - Beschluss

4 ZKO 462/01 In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Abgabenrechts,

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 4. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Prof. Dr. Aschke, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Blomenkamp und den Richter am Oberverwaltungsgericht Gravert am 25. November 2008 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar vom 31. Mai 2001 - 5 K 140/96 GE - wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Der Streitwert wird zugleich unter Abänderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf 3.014.494,- DM (entspricht 1.541.286,30 €) festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid über Wassereinleitungsentgelt. Der Rechtsvorgänger der Klägerin, der VEB Kunstseidenwerk "Clara Zetkin", leitete auf der Grundlage einer wasserrechtlichen Genehmigung Abwasser in den Fluss "Weiße Elster" ein. Mit Datum vom 09.08.1989 gab der VEB gegenüber der Wasserwirtschaftsdirektion Saale-Werra, Oberflussmeisterei Gera, auf einem Formblatt eine "Erklärung zum Abwassereinleitungsentgelt" für das Jahr 1990 mit dem Inhalt ab, dass er eine näher bezeichnete Menge von Abwasser der Kategorie IV einleiten werde und hierfür ein Abwassereinleitungsentgelt in Höhe von 9.415.840,-- M (11 Raten zu 780.000,-- M, eine Rate zu 835.840,-- M) zu zahlen sei. Zugleich erklärte er das Einverständnis zum Lastschrifteinzug. Unter dem 15.02.1990 teilte der VEB sodann mit, dass er die Zahlung mit sofortiger Wirkung einstelle. Weiter bat er, den Lastschrifteinzug zu stornieren. Daraufhin erklärte die Staatliche Gewässeraufsicht - Wasserwirtschaftsdirektion Saale-Werra - unter dem 02.03.1990 den Betrag in Höhe von 780.800,- M für Februar 1990 für vollstreckbar und ordnete die Vollstreckung an. Im weiteren Verlauf wurde das Abwassereinleitungsentgelt für das erste Halbjahr 1990 in Höhe von 4.680.000,-- M eingezogen. Mit Schreiben vom 20.07.1990 wandte sich die aus der Umwandlung des VEB hervorgegangene K GmbH an die O GmbH und teilte mit, dass wegen der schlechten Finanzlage vorläufig kein Entgelt bezahlt werden könne. Unter dem 06.09.1990 beantragte die K GmbH bei der Oberflussmeisterei Gera eine Neufestlegung der ursprünglich angegebenen Werte sowie eine Reduzierung des Entgelts und bat um Rückerstattung der Überzahlung. Die Staatliche Gewässeraufsicht - Oberflussmeisterei Gera - teilte daraufhin unter dem 15.10.1990 mit, dass das erste Halbjahr 1990 als abgeschlossen gelte, Rückzahlungen und Verrechnungen seien nicht möglich, jedoch könne für das zweite Halbjahr 1990 die Einstufung der Abwassereinleitung in Kategorie III reduziert werden. Des weiteren wurde durch einen Nachtrag zur Nutzungsgenehmigung einer verringerten Wasserentnahme und Einleitung für November und Dezember 1990 zugestimmt.

Durch Entscheidung der Staatlichen Gewässeraufsicht - Oberflussmeisterei Gera - ebenfalls vom 15.10.1990 wurde der "Bescheid" über die Zahlung von Abwasserentgelt für das Jahr 1990 geändert: Für den Zeitraum vom 01.01.1990 bis 30.06.1990 erfolgte keine Änderung; für den Zeitraum vom 01.07.1990 bis 31.12.1990 wurde eine Neuberechnung vorgenommen. Gemäß Nr. 3 der Entscheidung verblieb es für das 1. Halbjahr 1990 bei den geleisteten Zahlungen in Höhe von monatlich 780.000,-- M; für Juli bis Dezember 1990 sollten insgesamt 3.014.494,-- DM gezahlt werden. Die hiergegen eingelegte Beschwerde ("Einspruch") vom 15.11.1990 wurde durch Bescheid der Wasserwirtschaftsdirektion Saale-Werra vom 19.12.1990 zurückgewiesen. Zugleich wurde darin der Bescheid vom 15.10.1990 über die Zahlung von Abwassereinleitungsentgelt in Höhe von 3.014.494,-- DM bestätigt. In Nr. 5. des Bescheids wurde auf die Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung nach § 3 Abs. 3 des Gesetzes über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen (GBl DDR I 1990, S. 595 - GNV) hingewiesen. Mit Schreiben vom 28.01.1991 teilte die K GmbH der Wasserwirtschaftsdirektion mit, dass sie die Beschwerdeentscheidung erhalten habe, auf Grund der gegenwärtigen Liquiditätslage jedoch nicht in der Lage sei, den in der Beschwerdeentscheidung genannten Betrag fristgerecht zu überweisen. Hierauf teilte die Wasserwirtschaftsdirektion unter dem 07.02.1991 mit, dass eine Ermächtigung zur Stundung nicht bestehe; ferner bat sie um Mitteilung, zu welchem Zeitpunkt mit Liquidität zu rechnen sei, damit eine Zahlungsvereinbarung abgeschlossen werden könne. Ein (in den Akten nicht enthaltener) Antrag auf Erlass des Wassereinleitungsentgelts vom 31.07.1991 wurde durch Bescheid des Thüringer Umweltministeriums vom 21.08.1991 abgelehnt. Durch Mahnung vom 25.10.1995 wurde die K GmbH zur Zahlung des Betrags in Höhe von 3.014.494,-- DM aufgefordert.

Am 07.02.1996 hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin gegen den Bescheid über die Zahlung von Abwassereinleitungsentgelt für das Jahr 1990 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 15.10.1990 und der Beschwerdeentscheidung vom 19.12.1990 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass der angefochtene Bescheid nicht bestandskräftig geworden sei. Denn die Beschwerdeentscheidung sei nicht bestandskräftig geworden, weil die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden sei. Die Klagefrist beginne mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids. Eine Zustellung sei jedoch nicht erfolgt. Auch eine Heilung durch den tatsächlichen Zugang scheide aus (§ 9 Abs. 2 VwZG a. F.). Die Klagefrist sei auch deshalb nicht in Lauf gesetzt worden, weil die Rechtsmittelbelehrung auf § 3 Abs. 3 GNV hingewiesen habe, obwohl dieses Gesetz mit dem Beitrittszeitpunkt außer Kraft getreten sei. Die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung führe nicht nur zur Verlängerung der Klagefrist gemäß § 58 Abs. 2 VwGO. Vielmehr sei der Fall, in dem der Adressat auf ein nicht gegebenes Rechtsmittel hingewiesen werde, einer Belehrung gleichzusetzen, dass kein Rechtsmittel gegeben sei. Denn der Antrag auf gerichtliche Nachprüfung sei ein aliud gegenüber der Klage nach der Verwaltungsgerichtsordnung. Es liege auch keine Verwirkung vor, weil hierfür allein der Zeitablauf nicht ausreiche. Die Klägerin habe durch ihren unter dem 15.11.1990 erhobenen Einspruch zu erkennen gegeben, dass sie sich gegen den Bescheid zur Wehr setze. Sie habe auch 1991 deutlich gemacht, dass sie nicht zahlen könne. Der Beklagte habe die Klägerin nicht gemahnt und nicht gegen sie vollstreckt. Des Weiteren sei die historische Sondersituation der Wiedervereinigung zu berücksichtigen. Die Klägerin sei juristischer Laie, daher sei ihr nicht klar gewesen, welche Gesetze weiterhin Bestand gehabt hätten. Die Klage sei auch begründet. Die Liste der Abwassereinleitungsentgelte sei als interne Regelung auf die Klägerin nicht anwendbar und könne mangels Veröffentlichung keine Geltung beanspruchen. Die Vorschriften über das Abwassereinleitungsentgelt seien durch das Finanzgrundsätzegesetz außer Kraft gesetzt worden. Die Liste der Abwassereinleitungsentgelte sei auch weder durch das Umweltrahmengesetz in eine allgemein gültige Rechtsform transformiert noch durch den Einigungsvertrag geltendes Recht geworden. Die Bestimmungen über das Abwassereinleitungsentgelt seien mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar (wird ausgeführt).

Der Beklagte hat u. a. erwidert, dass die Klage verfristet sei. Nach dem Wassergesetz der DDR i. V. m. der Anordnung über Abwassereinleitungsentgelt (AO-AEE) hätte die Beschwerdeentscheidung keiner Zustellung bedurft, sondern sei nur formlos zuzusenden gewesen. Das Thüringer Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz sei zum damaligen Zeitpunkt noch nicht erlassen worden. Zudem seien die Regelungen des Wassergesetzes spezieller als das Verwaltungszustellungsgesetz des Bundes. Da die auf § 3 GNV hinweisende Rechtsmittelbelehrung unrichtig gewesen sei, sei die Jahresfrist gemäß § 58 Abs. 2 VwGO spätestens am 28.01.1991 in Lauf gesetzt worden, dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin die Beschwerdeentscheidung mit Sicherheit gekannt habe. Ungeachtet dessen sei die Klage verwirkt. Der Einwand der Klägerin, dass allein ihr Einspruch vom 15.11.1990 einer Verwirkung entgegenstehe, greife nicht, weil der Einspruch durch Beschwerdeentscheidung zurückgewiesen worden sei. Im nachfolgenden Schriftverkehr habe die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass sie den Betrag aus wirtschaftlichen Gründen nicht begleichen könne, also den Bescheid inhaltlich akzeptiere.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 31.05.2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt habe. Zwar sei die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt worden, weil die Beschwerdeentscheidung nicht zugestellt worden sei. Gleichwohl sei die Beschwerdeentscheidung mit Willen des Beklagten der Rechtsvorgängerin der Klägerin zugegangen und wirksam geworden. Doch sei das Klagerecht verwirkt, weil die Verzögerung bei der Klageerhebung den Grundsätzen von Treu und Glauben zuwiderlaufe. Die Rechtsvorgängerin der Klägerin habe von der Beschwerdeentscheidung spätestens am 28.01.1991 - dem Datum ihrer Mitteilung, die geforderte Summe nicht zahlen zu können - Kenntnis genommen. Bis zur Klageerhebung seien über fünf Jahre vergangen. Auch wenn die Rechtsmittelbelehrung auf das falsche Gesetz hingewiesen habe, sei der Rechtsvorgängerin der Klägerin die grundsätzlich gegebene Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung bekannt gewesen. Der Beklagte habe nach über fünf Jahren nicht mehr mit einer Klageerhebung rechnen müssen. Statt ein Gericht anzurufen, habe die Rechtsvorgängerin der Klägerin nur darauf hingewiesen, dass sie nicht in der Lage sei zu zahlen. Der Beklagte habe sich deshalb darauf einstellen können, dass ihm die Geldforderung zugute kommen würde, wenn die Klägerin über entsprechende Liquidität verfüge. Die Klägerin bzw. ihre Rechtsvorgängerin hätte im Übrigen auch Klage gegen die Entscheidung des Thüringer Umweltministeriums erheben können, mit der der Antrag auf Erlass abgelehnt wurde. Nachdem die Klägerin durch den Erlassantrag dokumentiert habe, dass sie die Forderung dem Grunde nach anerkenne, und auch den Erlass der Forderung nicht weiter verfolgt habe, habe der Beklagte nicht mehr mit einer Klage gegen die Forderung dem Grunde nach rechnen müssen. Angesichts des Zeitraums von über fünf Jahren sei es auch im Interesse des Rechtsfriedens als gerechtfertigt anzusehen, die Berufung auf das Klagerecht als abgeschnitten anzusehen.

Gegen dieses am 14.06.2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 11.07.2001, eingegangen per Telefax am gleichen Tage, Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt und zugleich begründet. Darin macht die Klägerin geltend, an der Richtigkeit des Urteils bestünden ernstliche Zweifel. Grundlage für die Annahme der Klageverwirkung seien in der Regel besondere Rechtsbeziehungen unter den Beteiligten, die von den Geboten gegenseitiger Rücksichtnahme bestimmt seien. Daran fehle es in dem zweipoligen Verhältnis zwischen der Behörde und dem Adressaten des Verwaltungsakts. Die Behörde habe durch die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung selbst den Anlass für die Verzögerung gegeben und müsse deshalb damit rechnen, dass der Verwaltungsakt zeitlich uneingeschränkt zur gerichtlichen Kontrolle gestellt werde. Der verfahrensrechtliche Schutz durch die Verwirkung komme erst in dreipoligen Rechtsverhältnissen in Betracht, wenn sich das Verzögern der Klage mit Blick auf einen Beteiligten, der durch den Verwaltungsakt begünstigt ist und auf dessen Bestandskraft vertrauen dürfe, als unredlich darstelle. Diese Grundsätze habe das Bundesverwaltungsgericht zum nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis entwickelt, sie seien aber auf andere dreipolige Rechtsverhältnisse ausgedehnt worden. Ein solches dreipoliges Rechtsverhältnis liege hier jedoch nicht vor. Im zweipoligen Rechtsverhältnis komme das Institut der Verwirkung nur in Betracht, wenn der Behörde kein Vorwurf bezüglich der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung gemacht werden könne. Die Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben setze voraus, dass sich derjenige, der daraus Rechte herleiten wolle, selbst rechtmäßig verhalten habe. Das sei aber nicht der Fall, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung auf ein ungültiges Gesetz hinweise. In der vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei der Planfeststellungsbeschluss ordnungsgemäß bekannt gemacht worden. Des Weiteren hätten die Betroffenen in dem zugrundeliegenden Fall die Belastung (Lärmeinwirkung) jahrelang tatenlos hingenommen. Diese Belastung trete hier erst ein, wenn die Behörde zu vollstrecken beabsichtige. Aus den dargelegten Gründen weise die Rechtssache auch besondere Schwierigkeiten auf. Ferner weiche das Urteil von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.08.2000 (4 A 11/99) und 25.01.1974 (IV C 2.72) ab, weshalb der Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorliege. Die Frage, wie weitgehend der Verwirkungseinwand begründet sein könne, sei für die vorliegende Fallgestaltung noch ungeklärt und von grundsätzlicher Bedeutung.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung sind unter keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe erfüllt.

Der Vortrag der Beklagten lässt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung erkennen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt hat, weil sie erst nach Ablauf von über fünf Jahren nach dem Zugang der Beschwerdeentscheidung Klage erhoben hat, ist nicht zu beanstanden.

Das Verwaltungsgericht hat die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Voraussetzungen der prozessualen Verwirkung wiedergegeben und rechtsfehlerfrei angewandt. Nach dieser ständigen Rechtsprechung ist der Grundsatz von Treu und Glauben auch im öffentlichen Recht anwendbar. Die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des venire contra factum proprium (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) bedeutet, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist zu bejahen, wenn ein Berechtigter unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen jedermann vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen hätte; dies ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt würde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.1974 - 3 C 115.71 -, BVerwGE 44, 339 <343 f.>; Beschluss vom 22.05.1990, 8 B 156/89, zitiert nach Juris; Beschluss vom 26.05.1999, 6 B 75/98, Juris; Urteil vom 10.08.2000, 4 A 11/99, NVwZ 2001, 206).

Das Verwaltungsgericht hat hier zu Recht "besondere", über den bloßen Zeitablauf hinausgehende Umstände darin erblickt, dass die Rechtsvorgängerin der Klägerin mit Schreiben vom 28.01.1991 mitteilte, die Beschwerdeentscheidung erhalten zu haben, aber den Betrag auf Grund gegenwärtiger Liquiditätsschwierigkeiten nicht fristgerecht überweisen könne, und dass sie ferner nach Ablauf weiterer Monate einen Erlassantrag beim Beklagten stellte. Damit hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin positiv den Eindruck erweckt, dass sie die im Beschwerdeverfahren ergangene Entscheidung als gegeben hinnimmt. Der Beklagte hat sich daraufhin ersichtlich nur noch auf die Frage der Zahlungsmodalitäten eingerichtet. Dass diese vertrauensbegründenden Merkmale im engeren Sinne vorliegen, stellt die Klägerin als solches auch nicht in Abrede.

Das Vorbringen, mit dem die Klägerin die erstinstanzliche Entscheidung angreift, setzt grundlegender an. Sie gibt sich erhebliche Mühe darzulegen, dass die Voraussetzungen für eine Verwirkung danach zu differenzieren seien, ob es sich um ein dreipoliges oder ein zweipoliges Rechtsverhältnis handelt (vgl. Meissner in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand März 2008, Rdnr. 49 f.). Sie macht geltend, dass die Annahme der Klageverwirkung besondere Rechtsbeziehungen unter den Beteiligten voraussetze und dass es daran in dem zweipoligen Verhältnis in der Regel fehle. Nach ihrem Standpunkt kommt eine Verwirkung in einem zweipoligen Rechtsverhältnis nur in Betracht, wenn sich die Behörde selbst ordnungsgemäß verhalten hat. Dieser Einwand erweist sich allerdings nicht als stichhaltig. Aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt sich weder eine solche strikte Gliederung in zwei- oder dreigliedrige Rechtsverhältnisse noch die für den erstgenannten Fall zusätzlich geforderte Voraussetzung des fehlerfreien Eigenverhaltens ableiten. Die genannten Umstände, d. h. ob zwei oder mehr Parteien an einem streitigen Rechtsverhältnis beteiligt sind und ob sich derjenige, der durch eine Verwirkung begünstigt würde, selbst fehlerfrei verhalten hat, sind für die Wertung nicht belanglos. Jedoch ist eine Differenzierung in tatbestandsähnliche Fallgruppen, wie sie die Klägerin vornimmt, weder geboten, noch hilft sie bei der Beantwortung der Frage weiter, ob ein Verhalten im Einzelfall als unzulässige Rechtsausübung zu bewerten ist. Der Rechtsgedanke, welcher der Rechtsfigur der Verwirkung zugrunde liegt, ist nicht auf dreigliedrige Rechtsverhältnisse beschränkt. Denn ein Verhalten kann sich unabhängig davon als treuwidrig darstellen, ob es in einem zwei- oder mehrgliedrigen Rechtsverhältnis zu Tage tritt.

Die Klägerin kann als Beleg für ihre Auffassung nicht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.01.1974 heranziehen (IV C 2.72, BVerwGE 44, 295 [298 ff.]). In dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht zwar die Frage behandelt, ob die verspätete Erhebung einer Klage des Nachbarn gegen eine Baugenehmigung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt. Der Verstoß wurde aber aus dem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis hergeleitet und nicht aus der Rechtsfigur der Verwirkung als Unterfall des Grundsatzes von Treu und Glauben. Demgegenüber ist das Bundesverwaltungsgericht in anderen Entscheidungen durchaus davon ausgegangen, dass die Verwirkung verfahrensmäßiger Rechte unter den genannten Voraussetzungen auch in zweigliedrigen Rechtsverhältnissen zur Anwendung gelangt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.05.1990, 8 B 156/89, zitiert nach Juris; Beschluss vom 04.06.1991, 6 ER 400/91, Juris; Beschluss vom 26.05.1999, 6 B 75/98, Juris; Urteil vom 10.08.2000, 4 A 11/99, NVwZ 2001, 206). In gleicher Weise hat das Bundesverfassungsgericht allgemein ausgeführt, dass nach herrschender Lehre eine Verwirkung prozessualer Befugnisse vorliegen könne, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstoße; im Strafrecht - das ebenfalls ein zweipoliges Verfahren im Sinne des Vortrags der Klägerin ist - gelte nichts anderes (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats, 26.01.1972, 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305 [308 f.]; vgl. ferner zum finanzgerichtlichen Verfahren BFH, Beschluss vom 02.09.2003, V B 129/02, zitiert nach Juris; sowie zum sozialgerichtlichen Verfahren BSG, Urteil vom 31.03.1981, 2 RU 101/79, Juris). Dabei hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gefordert, dass der Rechtsweg zu den Gerichten nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durch die Annahme einer Verwirkung nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden dürfe. Davon könne dann nicht die Rede sein, wenn der Zeitraum, auf den dabei abgestellt wird, nicht zu kurz bemessen sei und wenn dabei vorausgesetzt werde, dass die rechtzeitige Anrufung des Gerichts dem Betroffenen möglich, zumutbar und von ihm zu erwarten war.

In diesen Zusammenhang ist hier der von der Klägerin angeführte Gesichtspunkt einzuordnen, ob sich die andere Partei selbst ordnungsgemäß verhalten hat. Die Klägerin führt zu Recht an, dass bei der Beurteilung, ob ein Verhalten treuwidrig erscheint, das Verhalten des Kontrahenten nicht unberücksichtigt bleiben kann. Allerdings wird das Verhalten des Anderen für die Frage der Verwirkung in aller Regel nur insoweit erheblich sein, als es sich kausal und in relevanter Weise ausgewirkt hat, namentlich dann, wenn der Berechtigte, dessen Rechtsausübung als treuwidrig umstritten ist, erst durch die andere Partei zu diesem Verhalten veranlasst wurde. In diesem Sinn ist das Bundesverwaltungsgericht der Frage nachgegangen, ob eine Klage deshalb verspätet erhoben wurde, weil die Kläger des dortigen Verfahrens auf Grund einer Information der Planfeststellungsbehörde möglicherweise geglaubt hatten, dass der Verkehrslärm nach dem Ausbau einer Straße durch Lärmschutzmaßnahmen verhindert würde (vgl. Urteil vom 10.08.2000, a. a. O.).

So liegt es hier nicht. Dem Beklagten sind im Verwaltungsverfahren zwei Fehler unterlaufen. Zum einen war der Beschwerdebescheid vom 19.12.1990 mit einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung versehen, weil darin auf die Möglichkeit der Nachprüfung durch das zuständige Gericht gemäß § 3 Abs. 3 GNV und nicht auf die zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft getretenen Regelungen über die Klageerhebung nach § 74 VwGO hingewiesen wurde. Darüber hinaus wurde der Beschwerdebescheid nur formlos bekanntgegeben, aber nicht förmlich zugestellt, wie dies durch §§ 73 Abs. 3 Satz 1 (entsprechend), 74 Abs. 1 Satz 1, 56 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 2, 3 VwZG noch bundesrechtlich vorgeschrieben war (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.1972, V C 54.70, BVerwGE 39, 257 [259]). Die unterbliebene förmliche Zustellung des Beschwerdebescheids hat allerdings, wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat, überhaupt erst dazu geführt, dass keinerlei Klagefrist in Lauf gesetzt wurde. Dieser Mangel führt aber nicht dazu, dass es dem Beklagten verwehrt wäre, sich auf Treu und Glauben zu berufen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 10.08.2000, a. a. O.). Denn der erhebliche Zeitablauf bis zur Klageerhebung kann nicht ursächlich damit zusammenhängen, dass der Bescheid nicht förmlich zugestellt, sondern nur formlos bekanntgegeben wurde. Die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung rechtfertigt keine andere Beurteilung. Nach Auffassung des Senats ist die Belehrung über die Nachprüfungsmöglichkeit nach § 3 Abs. 3 GNV als schlicht unrichtig zu bewerten, so dass sie ebenfalls lediglich die Jahresfrist in Lauf gesetzt hätte (§ 58 Abs. 2, 1. HS VwGO). Denn die Belehrung über die Nachprüfungsmöglichkeit beim zuständigen Gericht hat nicht den Inhalt, dass ein nicht statthaftes Rechtsmittel gegeben und das in Wahrheit einzige gegebene Rechtsmittel nicht eröffnet sei (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.06.1985, 8 C 116.85, BVerwGE 71, 359 [361]). Hätte die Rechtsvorgängerin der Klägerin damals einen Antrag an das zuständige Gericht auf Nachprüfung der Verwaltungsentscheidung gemäß § 3 Abs. 3 GNV gestellt, wäre er vom zuständigen Kreisgericht - Kammer für Verwaltungssachen - als Klage gemäß § 74 VwGO ausgelegt worden. Doch selbst wenn man an diese Rechtsbehelfsbelehrung die gleichen Rechtsfolgen knüpfte wie bei einer Belehrung, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei, wäre hierdurch nur bewirkt worden, dass keine Klagefrist lief (§ 58 Abs. 2, 1. HS VwGO). Dies war wegen der fehlerhaften Zustellung ohnehin der Fall. Eine wesentlich weitergehende Wirkung hat die Fehlerhaftigkeit nicht. Denn dem Inhalt nach wurde auf eine gerichtliche Anfechtungsmöglichkeit hingewiesen, die keinen minderwertigen Rechtsschutz erwarten ließ und - bei richtiger Auslegung - zum statthaften Rechmittel geführt hätte. Die Rechtsvorgängerin der Klägerin durfte somit nicht davon ausgehen, dass die Beschwerdeentscheidung unanfechtbar sei. Vor diesem Hintergrund ist nicht vorstellbar, dass sich der Fehler in der Rechtsmittelbelehrung noch maßgeblich auf die sehr späte Klageerhebung nach Ablauf von mehreren Jahren ausgewirkt haben könnte.

Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Rechtsfigur der Verwirkung, wie oben dargelegt wurde, nur eine Fallvariante darstellt, bei der die Rechtsausübung nach dem Gebot von Treu und Glauben als unzulässig zu behandeln ist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht mehrfach klargestellt (Urteil vom 25.01.1974, a. a. O., S. 299; Beschluss vom 22.05.1990, a. a. O.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur subjektiv-rechtliche Belange gebieten, die Möglichkeit der Klageerhebung einer zeitlichen Begrenzung zu unterwerfen. Auch die Rechtssicherheit, die nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne eintreten muss, ist ein Belang von Verfassungsrang, dem die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht widerspricht. So hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass nicht nur ein schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei auf das Untätigbleiben des Berechtigten, sondern auch ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens es rechtfertigen können, die Anrufung eines Gerichts nach langer Zeit als unzulässig anzusehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.1972, a. a. O., S. 309). Das mag jedoch auf sich beruhen, da das Verwaltungsgericht jedenfalls die Voraussetzungen der Verwirkung in nicht zu beanstandender Weise bejaht hat.

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Rechtssache keine Schwierigkeiten aufweist, die der Klärung in einem Berufungsverfahren bedürften (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).

Auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist nicht gegeben. Abgesehen davon, dass die für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage "wie weitgehend der Verwirkungseinwand begründet sein kann" allein mit dieser Wendung nicht in der gebotenen Weise dargelegt ist, sind die Voraussetzungen für die Annahme der Verwirkung in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend geklärt (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 26.05.1999, 6 B 75/98, a. a. O.; Beschluss vom 22.05.1990, 8 B 156/89, a. a. O.).

Schließlich folgt aus den vorstehenden Ausführungen, dass der Zulassungsgrund der Divergenz nicht vorliegt (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat sich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich angeschlossen und sie fehlerfrei angewandt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 25 Abs. 2 Satz 1, 14, 13 Abs. 2 GKG in der bis zum 31.12.2001 gültigen und hier noch anzuwendenden Fassung. Nach der zuletzt genannten Vorschrift ist für den Streitwert die Höhe der streitigen Forderung maßgebend. Wie sich aus der Klagebegründung und der Streitwertangabe der Klägerin ergibt, ist dies hier der Betrag, der durch den angefochtenen Bescheid vom 15.10.1990 für das zweite Halbjahr 1990 neu festgesetzt wurde, mithin 3.014.494,- DM (entspricht 1.541.286,30 €). Der Betrag für das erste Halbjahr 1990, der nicht geändert wurde, bleibt bei der Bemessung des Streitwerts außer Ansatz. Die Befugnis zur Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruht auf § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG a. F. (entspricht § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG n. F.).

Hinweis:

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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