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Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 06.04.2005
Aktenzeichen: 9 S 2633/03
Rechtsgebiete: SGB VIII
Vorschriften:
SGB VIII § 27 |
Eine - schulergänzende - Legastheniker-Therapie kann daher im Regelfall nicht auf der Grundlage des § 27 SGB-VIII gewährt werden.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil 9 S 2633/03
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Eingliederungshilfe
hat der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Schwan, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Gaber und die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Neu ohne mündliche Verhandlung am 06. April 2005
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2003 - 8 K 1236/01 - geändert. Die Klagen werden auch insoweit abgewiesen, als die Kläger zu 1 und 2 die Verpflichtung des Beklagten begehren, ihnen Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für den von ihrem Sohn T. besuchten Unterricht beim Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik zu gewähren.
Die Kläger zu 1 und 2 tragen als Gesamtschuldner die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens sowie ihre eigenen außergerichtlichen Kosten und die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Beklagten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Kläger begehren vom Beklagten die Erstattung der von ihnen verauslagten Kosten einer beim Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik - LOS - durchgeführten Legastheniker-Therapie für ihren 1989 geborenen Sohn T., dem Kläger zu 3 des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
Den Klägern wurde auf ihren Antrag vom Beklagten ab 01.02.2000 Hilfe zur Erziehung durch den Einsatz einer sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) gewährt. Sie haben sechs Kinder und sind beide berufstätig. Der Kläger zu 1 arbeitete im maßgeblichen Zeitpunkt im Schichtbetrieb und hatte zusätzlich eine Nebenbeschäftigung; die Klägerin zu 2 arbeitete halbtags in der Küche einer Wohngruppe. Die Familienhilfe wurde vom Beklagten mit Verfügung vom 17.10.2000 zum 13.09.2000 mit der Begründung eingestellt, eine Begleitung und Beratung der Familie durch eine Familienhelferin sei nicht mehr erforderlich.
Nach dem Bericht der Familienhelferin vom 10.09.2000 besuchte der Sohn T. der Kläger zum damaligen Zeitpunkt die 5. Klasse der xxxxxxxxxxxxxxxxxxx-Schule, einer Förderschule. Er sprach sehr undeutlich, was insbesondere Dritten sowie den Eltern und Geschwistern Mühe machte, ihn zu verstehen. Aus diesem Grund besuchte er vor seiner Einschulung auch einen Sprachheilkindergarten. Die Klägerin zu 2 hatte im Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits die kognitiven Fähigkeiten ihres Sohnes T. von der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche testen lassen und deshalb gegenüber der Familienhelferin zum Ausdruck gebracht, dass sie "möchte, dass T. den Nachhilfeunterricht bei L.O.S. in xxxxxxxxx besucht". Ausweislich des Tests der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche des Schwarzwald-Baar-Kreises (vgl. Bericht vom 17.05.2000) bewegte sich T. mit seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit insgesamt eher im Bereich der Minderbegabung, obwohl sein räumliches Vorstellungsvermögen und seine abstrakt logische Denkfähigkeit altersentsprechend waren. Deutlich unterdurchschnittliche Leistungen zeigte er in der Rechtschreibung und im Lesen. Die Ursache hierfür sei nach dem Bericht u.a. in Schwächen der auditiven Merk- und Differenzierungsfähigkeit zu vermuten. Der Bericht schließt mit der Feststellung, dass T. im Bereich der Rechtsschreibung und des Lesens einen erhöhten Förderbedarf habe.
Unter Bezugnahme auf diesen Bericht forderte der Beklagte die Kläger mit Kurzmitteilung vom 05.07.2000 auf, eine Schweigepflichtsentbindung vorzulegen und bat in einem Telefongespräch am 28.09.2000 um die Vorlage verschiedener Unterlagen in Zusammenhang mit der "LRS-Förderung". Diese Unterlagen übersandte die Klägerin zu 2 dem Beklagten mit Schreiben vom 09.01.2001 und bat um baldige Entscheidung ihres Antrags auf "Kostenübernahme LOS-VL" da, "diese Angelegenheit seit Juli 2000 offen" sei und sie wegen krankheitsbedingter Arbeitslosigkeit nicht mehr in der Lage sei, die monatlichen Gebühren für das LOS aufzubringen.
Mit Bescheid vom 12.03.2001 lehnte der Beklagte den Antrag auf Übernahme der Kosten für die außerschulische Förderung von T. "im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII" ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, eine drohende seelische Behinderung sei bei T. nicht feststellbar, weshalb eine Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII nicht gewährt werden könne. Zwar habe T. in der Schule, insbesondere beim Lesen und Schreiben, erhebliche Defizite, die im normalen Schulunterricht nicht ausreichend vermindert werden könnten. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz biete jedoch keine Möglichkeit, außerschulische Fördermaßnahmen, wie z.B. Nachhilfeunterricht oder Förderung durch den Besuch der Lehrinstituts für Orthografie und Schreibtechnik, zu unterstützen, wenn nicht gleichzeitig zumindest eine drohende seelische Behinderung vorliege.
Der von den Klägern hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 26.06.2001 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Eine seelische Behinderung gemäß § 35a SGB VIII liege nicht vor. Bereits die Behauptung, dass T. Legastheniker sei, sei nicht ausreichend nachgewiesen. Vielmehr müsse aufgrund der Gutachten und Stellungnahmen von einer Lernbehinderung und Minderbegabung ausgegangen werden, die naturgemäß Probleme beim Erwerb von Sprache und Schrift mit sich bringe und zu Erscheinungsformen einer Lese- und Rechtschreibschwäche führen könne. Selbst wenn man von einer Lese- und Rechtschreibschwäche ausginge, läge jedoch keine drohende seelische Behinderung im Sinne von § 35a SGB VIII vor. Ergänzend zu einem von der Schule zu deckenden Förderbedarf käme allenfalls ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, d.h. möglicherweise eine Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SBG VIII, in Betracht.
Am Montag, dem 30.07.2001 haben die Kläger beim Verwaltungsgericht Freiburg Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten zur Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII für den Zeitraum September 2000 bis zum 28.06.2001 (dem Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheides) zu verpflichten und dessen entgegenstehende Bescheide aufzuheben. Auf den Hinweis des Verwaltungsgerichts in der mündlichen Verhandlung am 26.11.2002, dass der geltend gemachte Anspruch auf Eingliederungshilfe nicht den Klägern, sondern dem Kind T. zustehe, wurde T. als Kläger zu 3 in das verwaltungsgerichtliche Verfahren "einbezogen". Der Beklagte ist der subjektiven Klagehäufung nicht entgegengetreten und hat die Abweisung der Klagen aus den in den angefochtenen Bescheiden dargelegten Gründen beantragt.
Mit Urteil vom 25.02.2003 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, den Klägern Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für den vom Kläger zu 3 (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) besuchten Unterricht beim Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik in xxxxxxxxx-xxxxxxxxxxxx im Zeitraum September 2000 bis einschließlich 28.06.2001 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bestehe nicht. Die Kläger zu 1 und 2 seien insoweit nicht anspruchsberechtigt und dem Kläger zu 3 des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens stehe ein solcher Anspruch ebenfalls nicht zu, da es insoweit an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a SGB VIII fehle. Denn der Sohn T. der Kläger sei weder seelisch behindert noch gebe es Anhaltspunkte dafür, dass ihm im entscheidungserheblichen Zeitraum eine seelische Behinderung gedroht habe. Den Klägern zu 1 und 2 stehe jedoch ein Anspruch auf Kostenübernahme nach § 27 SGB VIII zu. Über diesen Antrag habe der Beklagte zwar bislang nicht entschieden, die Klage sei aber insoweit als Untätigkeitsklage zulässig und auch begründet. Voraussetzung für den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII sei nämlich nicht, dass die familiäre Erziehung defizitär sei. Vielmehr müsse nach der Rechtsprechung des 7. Senats des Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 29.05.1995 - 7 S 259/94 -) darauf abgestellt werden, ob generell eine Defizitsituation vorliege, d.h., ob das, was für die Sozialisation, Ausbildung und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen erforderlich ist, tatsächlich vorhanden sei. Die Hilfe zur Erziehung umfasse gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Zwar sei es in erster Linie Aufgabe der Schule, Schüler mit besonderer Lese- und Rechtschreibschwäche angemessen zu fördern. Der Nachrang der öffentlichen Jugendhilfe (§ 10 Abs. 1 SGB VIII) greife jedoch vorliegend deshalb nicht ein, weil die Förderung des Sohnes T. der Kläger in der xxxxxxxxxxxxxxxxxxx-Schule nicht ausreichend gewesen sei und der Beklagte die Kläger im Verwaltungsverfahren nicht darauf verwiesen habe, vermeintliche Ansprüche auf weitere Förderung gegenüber der Schule (gerichtlich) geltend zu machen. Die Kläger zu 1 und 2 hätten den Anspruch - entgegen der Auffassung des Beklagten - auch rechtzeitig geltend gemacht, obwohl ein förmlicher Antrag nach Lage der Akten erst mit Schreiben vom 09.01.2001 gestellt worden sei.
Mit Zulassung durch den Senat hat der Beklagte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, soweit er hierdurch verpflichtet wurde, den Klägern zu 1 und 2 Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für den vom Sohn T. besuchten Unterricht beim Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik in xxxxxxxxx-xxxxxxxxxxxxx zu gewähren. Die Berufung wurde fristgerecht im Wesentlichen wie folgt begründet: Das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von einer zulässigen Untätigkeitsklage ausgegangen. Denn die Kläger hätten lediglich einen Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII gestellt, über den der Beklagte auch entschieden habe. Unabhängig hiervon, habe das Verwaltungsgericht auch unzutreffend einen Anspruch der Kläger zu 1 und 2 auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII angenommen. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts (und des 7. Senats) liege eine Defizitsituation im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII nämlich nur dann vor, wenn ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern anzunehmen sei. Lesen und Schreiben beizubringen sei dagegen eine Sozialisationsleistung der Schule und nicht der Eltern. Dass es im Rahmen des § 27 SGB VIII nur auf die Mangellage im elterlichen Erziehungsbereich ankomme und nicht auf eine Mangellage im weiten Feld der Sozialisation insgesamt, folge auch aus der Tatsache, dass die zur Beseitigung der Mangellagen vom Gesetz zur Verfügung gestellten Hilfearten nach §§ 28 bis 35 SGB VIII nur auf solche Mangellagen abstellen würden. Diese seien nämlich nur familienunterstützend, -ergänzend und -ersetzend. Schulergänzend oder -ersetzend sei hingegen keine dieser Hilfearten. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 27 Abs. 3 SGB VIII. Diese Norm nenne zwar pädagogische und damit verbundene therapeutische Leistungen als Hilfeformen, was jedoch voraussetze, dass diese Hilfeformen in einer Hilfeart erbracht würden, was vorliegend nicht der Fall sei. Zudem sei das Verwaltungsgericht auch unzutreffend von der Notwendigkeit der Maßnahme ausgegangen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25.02.2003 - 8 K 1236/01 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Kläger zu 1 und 2 beantragen,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend und tragen ergänzend vor: Die vom Beklagten vertretene Auffassung, wonach § 27 Abs. 1 SGB VIII nur dann zur Anwendung komme, wenn ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern vorliege, sei rechtsirrig. Vielmehr sei - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - auf das Vorliegen einer generellen Defizitsituation abzustellen. Diese habe vorgelegen, da die Kläger nicht in der Lage gewesen seien, ihren Sohn T. zur Linderung seiner Lese- und Rechtschreibschwäche genügend zu unterstützen. Erforderliche Hilfe sei auch von der Schule tatsächlich nicht zu erlangen gewesen.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Dem Senat liegen die Akten des Beklagten und des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten im Berufungsverfahren Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Im Einvernehmen mit den Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, den Klägern zu 1 und 2 Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für den vom Kläger zu 3 (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) besuchten Unterricht beim Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik in xxxxxxxx-xxxxxxxxxxxx im Zeitraum September 2000 bis einschließlich 28.06.2001 zu gewähren.
Zwar geht auch der Senat davon aus, dass die Kläger spätestens mit dem schriftlichen Antrag vom 09.01.2001 beim Beklagten (auch) die Gewährung von Hilfe zur Erziehung beantragt haben. Denn dieser Antrag enthielt weder eine ausdrückliche Beschränkung noch durfte er vom Beklagten ausschließlich als Antrag auf Gewährung einer Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII ausgelegt werden. Vielmehr oblag es dem Beklagten, die Kläger über den sachdienlichen Weg zur Gewährung einer Lese- und Rechtschreibförderung zu beraten (§ 16 Abs. 3 SGB I) und den mit "Kostenübernahme LOS VL" bezeichneten Antrag sachdienlich (auch) als Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII auszulegen, da ein solcher Anspruch - unter Berücksichtigung der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung des 7. Senats zu § 27 SBG VIII a.F. - auch in Betracht kam. Da der Beklagte über diesen Antrag bislang nicht entschieden hat, ist die aufgrund sachdienlicher Klageänderung erhobene Untätigkeitsklage der Kläger zumindest beim derzeitigen Sachstand zulässig. Diese Klage ist jedoch unbegründet, denn den Klägern steht für diese Aufwendungen kein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung zu.
Ob Ansprüche - insbesondere des Klägers zu 3 des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bestehen, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens. Denn insoweit hat das Verwaltungsgericht die Klagen rechtskräftig abgewiesen, nachdem dieser Ausspruch von den Klägern nicht mit (Anschluss-) Berufungen angegriffen worden ist.
Rechtsgrundlage für den im Berufungsverfahren noch streitigen Anspruch ist § 27 SGB VIII in der bislang unveränderten Fassung des Gesetzes vom 08.12.1998 (BGBl. I S. 3546). Danach hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch ist damit zunächst, dass eine erzieherische Mangelsituation vorliegt. Auf welchen Gründen dieser Mangel beruht, spielt hierbei keine Rolle. Das Verwaltungsgericht ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass eine solche Mangelsituation dann vorliege, wenn das, was für die Sozialisation, Ausbildung und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen erforderlich ist, tatsächlich nicht vorhanden sei und das Sozialisationsumfeld des Minderjährigen diese Mangel- und Defizitsituation nicht aus eigenen Kräften beseitigen oder vermindern könne. Es komme in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die familiäre Erziehung defizitär sei, sondern darauf, ob generell eine Defizitsituation in Ausbildung und Erziehung vorliege. Zur Begründung dieser Auffassung stützt sich das Verwaltungsgericht auf die Entscheidungen des 7. Senats vom 29.05.1995 - 7 S 259/94 - (zu § 27 SGB VIII in der Fassung vom 16.06.1990 [BGBl. I S. 1163] - SGB VIII a. F. -). Nach dieser, der Entscheidung des 7. Senats zugrunde liegenden Fassung des § 27 SGB VIII umfasste die Hilfe zur Erziehung auch die Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach Maßgabe des § 40 des Bundessozialhilfegesetzes und der Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (vgl. § 27 Abs. 4 SGB VIII a.F.). Dies ist seit 01.04.1993 nicht mehr der Fall, da seit diesem Zeitpunkt der Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in einem eigenen Tatbestand, nämlich in § 35a SGB VIII geregelt ist. Zumindest für die Zeit nach dieser Rechtsänderung lässt sich die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsauffassung nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr ist bei der Prüfung der Frage, ob eine erzieherische Mangelsituation gegeben ist, ausschließlich darauf abzustellen, ob ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern vorliegt (vgl. Senat, Beschluss vom 03.04.2002 - 9 S 459/02 - und vom 18.02.2004 - 9 S 2662/03 -; Kunkel, ZfJ 1997, 315 [316]; Kunkel, Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar - LPK - SGB VIII - § 27 RdNr. 2; Jans/Happe/Sauerbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Erl. § 27 Rdn. 11).
Dies folgt bereits aus der Begründung des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der Einfügung eines neuen Leistungstatbestandes der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII). Ziel des Ersten Gesetzes zur Änderung des 8. Buches des Sozialgesetzbuches war es nämlich insbesondere, das am 01. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilferecht entsprechend den zwischenzeitlichen Erfahrungen der Praxis an verschiedenen Stellen zu ändern, zu ergänzen oder in seinem Inhalt klarzustellen (vgl. Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend, BT-Drucks. 12/3711, 38). Die ursprünglich von der Bundesregierung vorgesehene Lösung, seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nur dann der Jugendhilfe zuzuordnen, wenn sie gleichzeitig der Hilfe zur Erziehung bedürfen (BT-Drucks. 12/2866 - Anlage 2 Nr. 1), wurde vom Bundesrat sowie den Fachverbänden, die sich dazu dem Ausschuss gegenüber schriftlich geäußert haben, entschieden abgelehnt (vgl. BT-Drucks. 12/3711, 39). Um die in der Zwischenzeit aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis der Hilfe zur Erziehung zur Eingliederungshilfe seelisch Behinderter auszuräumen, haben die Experten vorgeschlagen, die Regelungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, die im damals geltenden Recht in einer Vorschrift zusammen mit der Hilfe zur Erziehung geregelt war (§ 27 Abs. 4 SGB VIII), von der Hilfe zur Erziehung abzukoppeln und einem eigenen Tatbestand zuzuweisen. Damit sollte "insbesondere der vielfach vertretenen Ansicht entsprochen" werden, "einer seelischen Behinderung liege nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde" (vgl. BT-Drucks. 12/3711, 40). Dem Gesetzgeber war daher bei Erlass des Ersten Gesetzes zur Änderung des SGB VIII bewusst, dass es in Literatur und Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen zu der Frage gab, ob ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung einen objektiven Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern oder eine generelle Defizitsituation in Ausbildung und Erziehung des Minderjährigen erfordert. Gleichwohl hat der Gesetzgeber bewusst davon abgesehen, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII durch eine erweiterte Definition der erzieherischen Mangelsituation klarzustellen, sondern hat vielmehr § 27 Abs. 4 SGB VIII vom Tatbestand der Hilfe zur Erziehung abgekoppelt und in § 35a SGB VIII geregelt.
Auch die Tatsache, dass der Anspruch nach § 27 SGB VIII nicht dem Kind bzw. dem Jugendlichen zusteht, sondern dem Personensorgeberechtigten, spricht gegen die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsauffassung. Denn im Hinblick auf die grundgesetzlich den Eltern obliegende Erziehungsverantwortung war es bereits oberstes Ziel des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts, Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen und damit indirekt die Erziehungssituation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern (vgl. BT-Drucks. 11/5948, 1). Der unbestimmte Rechtsbegriff "Wohl des Kindes" darf daher nicht isoliert gesehen werden, sondern nur im Zusammenhang mit der Formulierung, dass "eine entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist". Denn mit dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass es sich bei der Hilfe zur Erziehung in erster Linie um eine die elterliche Erziehung ergänzende und unterstützende Hilfe handelt (vgl. Schellhorn, SGB VIII/KJHG, 2. Aufl. 2000, § 27 RdNr. 19) und nicht um eine die Sozialisationsleistung der Schule ergänzende oder ersetzende Leistung. Dies ergibt sich auch aus den vom Gesetzgeber zur Beseitigung der erzieherischen Mangelsituation zur Verfügung gestellten Hilfearten nach §§ 28 bis 35 SGB VIII (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Denn alle diese zur Verfügung gestellten Hilfearten sind ausschließlich familienunterstützend, -ergänzend oder -ersetzend. Schulergänzend oder -ersetzend ist hingegen keine dieser Hilfearten (vgl. Kunkel, ZfJ 1997, 315 [316]).
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts lässt sich auch aus § 27 Abs. 3 SGB VIII nicht entnehmen, dass schulergänzende oder -ersetzende Leistungen im Rahmen des § 27 SGB VIII als Hilfeart zu erbringen sind. Nach § 27 Abs. 3 SGB VIII umfasst die Hilfe zur Erziehung insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Sie soll bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Abs. 2 einschließen. Mit diesen Regelungen, die erst in den Anschlussberatungen auf Anregung des Bundesrates im Gesetzentwurf eingefügt wurden (BT-Drucks. 11/5948, 130), sollten keine neuen Hilfearten im Sinne von § 27 Abs. 2 SGB VIII geschaffen werden. Vielmehr ging der Gesetzgeber davon aus, dass auf die in § 26 Abs. 3 SGB VIII genannten pädagogischen und therapeutischen Hilfeleistungen "als Bestandteile der verschiedenen Hilfearten" nicht verzichtet werden könne. Damit handelt es sich jedoch um keine "artgerechte" Hilfe im Sinne von § 28 Abs. 2 SGB VIII, d.h. um eine in ihren Strukturelementen diesen Arten vergleichbare Hilfe, sondern um Hilfeformen, in denen eine Hilfeart erbracht wird (vgl. Kunkel, ZfJ 1997, 315 [316]).
Da die Lese- und Rechtschreibschwäche des Sohnes T. der Kläger, sofern eine solche überhaupt vorlag, allenfalls durch eine fachgerechte Anleitung behoben werden konnte und elterliche Versuche, eine Verbesserung zu erreichen eher eine kontraproduktive Wirkung gehabt hätten, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist und auch durch die Stellungnahme des Schulleiters der xxxxxxxxxxxxxxxxxxx-Schule vom 05.10.2000 bestätigt wird, liegt ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistung der Eltern, d.h. der Kläger, nicht vor. Damit scheidet § 27 SGB VIII als Anspruchsgrundlage für die von den Klägern begehrte Legastheniker-Therapie aus. Auf die Frage, ob die Kläger die von September 2000 bis Februar 2001 durchgeführte Legastheniker-Therapie rechtzeitig vor Beginn der Maßnahme beantragt haben und ob diese Therapie erforderlich und geeignet war, kommt es mithin nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen.
Ende der Entscheidung
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