Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 17.11.2005
Aktenzeichen: 1 S 2278/04
Rechtsgebiete: VwGO, StPO


Vorschriften:

VwGO § 86
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5
StPO § 244 Abs. 3 Satz 2
Ein Beweisantrag, in dem die Tatsache, ein bestimmtes Ereignis habe nicht stattgefunden (Negativtatsache), in das Wissen des Zeugen gestellt wird, kann bei einfachen Sachverhalten, in denen die behauptete Negativtatsache der unmittelbaren eigenen Wahrnehmung des Zeugen zugänglich gewesen ist, nicht auf die Behauptung reduziert werden, der Zeuge habe das Ereignis nicht wahrgenommen, und deswegen wegen Unerheblichkeit abgelehnt werden (im Anschluss an BGH, Urteil vom 06.07.1993 - 5 StR 279/93 -, BGHSt 39, 251; Beschluss vom 14.09.2004 - 4 StR 309/04 -, NStZ-RR 2005, 78).
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

1 S 2278/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Landesverfassungsschutzbericht 2001

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs Dr. Weingärtner, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Schmenger und den Richter am Verwaltungsgerichtshof Brandt

am 17. November 2005

beschlossen:

Tenor:

Auf Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2004 - 18 K 1474/04 - zugelassen, soweit die Klage auf Unterlassung der im Klageantrag unter a), c) und e) genannten Tatsachenbehauptungen abgewiesen worden ist.

Im Übrigen wird der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, soweit der Antrag abgelehnt wird; im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Entscheidung über die Berufung vorbehalten.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird, soweit der Antrag abgelehnt wird, auf EUR 5.000,-- festgesetzt.

Gründe:

Der auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 5 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat nur teilweise Erfolg.

Soweit sich der Kläger gegen die im Klageantrag unter a), c) und e) aufgeführten Tatsachenbehauptungen wendet, ist der Antrag zulässig und begründet. Der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) liegt vor. Der Kläger rügt zu Recht, dass das Verwaltungsgericht insoweit Beweisanträge verfahrensfehlerhaft abgelehnt hat; die Ablehnungsgründe finden im Gesetz keine Stütze.

Zum Beweis der Tatsache, dass auf Versammlungen des Klägers von Rednern bestimmte Äußerungen nicht getätigt und von der Menge bestimmte Parolen nicht skandiert worden sind, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung - auch unter Bezugnahme auf einen vorherigen Schriftsatz - beantragt, mehrere Zeugen zu vernehmen, die an diesen Versammlungen teilgenommen hatten. Das Verwaltungsgericht hat diese Anträge abgelehnt mit der Begründung, dass sie nicht entscheidungserheblich seien (§ 244 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. StPO in entsprechender Anwendung). Auch wenn als wahr unterstellt werde, dass die Zeugen die Äußerungen bzw. die Sprechchöre nicht selbst gehört hätten, seien diese Hilfstatsachen nicht geeignet darzutun, dass die Äußerungen nicht doch gefallen und die Sprechchöre nicht doch skandiert worden seien. Es sei eine Vielzahl von Gründen denkbar, aus denen Besucher einer Veranstaltung einzelne Äußerungen von Rednern bzw. Reaktionen des Publikums nicht wahrnehmen. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Ihnen liegt die Annahme zu Grunde, dass der Kläger sich - ungeachtet der abweichenden Formulierung der Beweisanträge - auf die Behauptung beschränke, die Zeugen hätten ein bestimmtes Ereignis nicht wahrgenommen. Mit einer solchen bloßen "Wahrnehmungsbehauptung" verfehlt das Verwaltungsgericht indessen das Beweisanliegen des Klägers (vgl. hierzu Niemöller, StV 2003, 687 <695> m.N.). Das Verständnis des Verwaltungsgerichts steht zwar im Ausgangspunkt in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach die Beweisbehauptung beim Zeugenbeweis ausschließlich Wahrnehmungen des Zeugen zum Gegenstand haben kann. Bei dem hier vorliegenden Beweis einer so genannten Negativtatsache kann demnach i.d.R. nur die Behauptung, der Zeuge habe einen bestimmten Vorgang nicht wahrgenommen, unter Beweis gestellt werden; die Behauptung, der Vorgang habe nicht stattgefunden, ist demgegenüber als darüber hinausgehende Schlussfolgerung (Beweisziel) zu betrachten, die das Gericht - in gleicher Weise wie bei Vorliegen einer Indiztatsache (siehe hierzu BVerwG, Beschluss vom 20.05.1998 - 7 B 440/97 - , Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 153 m.N.) - nicht zu ziehen brauche; die Wahrnehmungsbehauptung wird damit zur bloßen Beweisanregung (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.1993 - 5 StR 279/93 -, BGHSt 39, 251). Auch in der Rechtsprechung ist indessen anerkannt, dass in Ausnahmefällen der Zeuge das Fehlen eines Umstandes oder das Ausbleiben eines Ereignisses unmittelbar wahrnehmen kann. Dies gilt insbesondere bei "einfachen" Sachverhalten, d.h. überschaubaren Abläufen, wenn der Zeuge Wahrnehmungen über ein unmittelbar tatbestandserhebliches Geschehen machen soll (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.1993 - 5 StR 279/93 -, BGHSt 39, 251 <253>; Beschluss vom 09.03.1999 - 1 StR 693/98 - NStZ 1999, 362; Beschluss vom 14.09.2004 - 4 StR 309/04 -, NStZ-RR 2005, 78; Niemöller, StV 2003, 687 <688> m.w.N.). Von einem solchen - und der gebotenen Konnexität zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung - ist hier auszugehen, wenn der Kläger behauptet, die Zeugen hätten jeweils den gesamten Vorgang, also die Rede als Ganzes sowie auffällige bzw. prägende Geschehnisse während der Versammlung wahrgenommen.

Geht man hiervon aus, war es dem Verwaltungsgericht verwehrt, diese Beweisanträge im Wege der Wahrunterstellung unter Hinweis darauf abzulehnen, dass sie letztlich nicht entscheidungserhebliche Behauptungen beträfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 47.85 -, BVerwGE 77, 150 <156 f.>).

Unberührt bleibt demgegenüber der Ablehnungsgrund der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels (§ 244 Abs. 3 Satz 2 4. Alt. StPO in entsprechender Anwendung). Allein mit der Feststellung, dass eine Vielzahl von Gründen denkbar sei, aus denen Besucher einer Veranstaltung einzelne Äußerungen von Rednern bzw. Reaktionen des Publikums nicht wahrnehmen, hat das Verwaltungsgericht die Ablehnung aber nicht jedenfalls hilfsweise mit nachvollziehbaren Erwägungen auf diesen Grund gestützt. Denn völlig ungeeignet in diesem Sinne ist ein Zeuge als Beweismittel nur dann, wenn das Gericht ohne Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis feststellen kann, dass sich mit ihm das in dem Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht erzielen lässt. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die absolute Untauglichkeit muss sich aus dem Beweismittel im Zusammenhang mit der Beweisbehauptung selbst ergeben. Dabei darf ein geminderter, geringer oder zweifelhafter Beweiswert nicht mit völliger Ungeeignetheit gleichgesetzt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 09.04.2002 - 4 StR 547/01 -, NStZ-RR 2002, 242; Niemöller, StV 2003, 687 <694 f.>). Darlegungen, die unter Würdigung der jeweiligen Wahrnehmungssituation der Zeugen den Schluss zuließen, sie seien völlig ungeeignet, finden sich in den Urteilgründen nicht.

Soweit die Klage hinsichtlich der im Klageantrag unter b) und d) aufgeführten Tatsachenbehauptungen abgewiesen worden ist, hat der Zulassungsantrag hingegen keinen Erfolg.

Was die behauptete "Bereinigung" des Internet-Auftritts des Klägers (Klagantrag b)) angeht, entspricht das Antragsvorbringen des Klägers schon deswegen nicht den Darlegungserfordernissen des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO; weil es jegliche Auseinandersetzung mit den insoweit maßgeblichen Entscheidungsgründen vermissen lässt.

Bezüglich der behaupteten Äußerungen des früheren Vorsitzenden des Klägers (Klagantrag d)) wird ein Verfahrensmangel nicht aufgezeigt. Insoweit kann der Senat dem fristgerecht vorgelegten Begründungsschriftsatz - auch vor dem Hintergrund der nachfolgenden präzisierenden Schriftsätze - nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, ob der Kläger sich etwa auch dagegen wendet, dass einem - gegebenenfalls unter Verweis auf den Schriftsatz vom 24.06.2004 gestellten - Beweisantrag auf Vernehmung des Präsidenten des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz nicht entsprochen worden ist. Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die sich hierzu nicht verhalten, sprechen allerdings dafür, dass das Verwaltungsgericht die Bezugnahme auf den genannten Schriftsatz jedenfalls nicht in diesem - umfassenden - Sinne verstanden und somit einen diesbezüglichen Beweisantrag auch nicht verbeschieden hat. Im Übrigen hätte der Kläger - wenn denn ein Verstoß gegen § 86 Abs. 2 VwGO vorläge - sein Rügerecht wohl mangels diesbezüglicher Rüge in der mündlichen Verhandlung verloren (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.07.1998 - 9 C 45.97 -, BVerwGE 107, 128 <132>). Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht könnte schließlich in dieser Hinsicht auch dann nicht geltend gemacht werden, wenn der Kläger einen solchen Beweisantrag nicht gestellt haben sollte; denn die Verfahrensrüge dient nicht dazu, eigene Versäumnisse im erstinstanzlichen Verfahren auszugleichen (vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschluss vom 10.10.2001 - 9 BN 2/01 -, NVwZ-RR 2002, 140; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.04.1997 - 8 S 1040/97 -, VBlBW 1997, 299). Dem Verwaltungsgericht musste sich eine Beweisaufnahme auch nicht aufdrängen.

Das Vorbringen des Klägers begründet schließlich in Bezug auf diesen Klagantrag auch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i.S. von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; denn darin wird weder ein die angefochtene Entscheidung insoweit tragender Rechtssatz noch eine für die Entscheidung erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt (vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, VBlBW 2000, 392; nunmehr bestätigt durch Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 - BVerfGE 110, 77 <83>).

Mit der Würdigung der Aussage des als Zeugen gehörten ehemaligen Vorsitzenden des Klägers setzt sich die Antragsschrift nicht näher auseinander und legt insbesondere einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 VwGO nicht dar. Wie die weiteren Ausführungen in den späteren Schriftsätzen zu bewerten wären, bedarf keiner Klärung, da sie über eine zu beachtende bloße Verdeutlichung des in seinen wesentlichen Zügen bereits fristgerecht vorgetragenen Vorbringens weit hinausgehen. Schließlich zeigt der Kläger nicht auf, inwieweit die Vernehmung des Bediensteten des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz als solche angesichts der zu Recht nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO verweigerten Aktenvorlage einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 1 VwGO) darstellen könnte.

Die Kostenentscheidung folgt, soweit der Zulassungsantrag erfolglos geblieben ist, aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Soweit die Berufung zugelassen ist, wird das Zulassungsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt. Die Kostenentscheidung bleibt insoweit der Entscheidung über die Berufung vorbehalten.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Bezüglich der Zulassung der Berufung gilt folgendes:

Belehrung über das zugelassene Rechtsmittel

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Schubertstraße 11, 68165 Mannheim oder Postfach 10 32 64, 68032 Mannheim, einzureichen. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag sowie die im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.

Für den Berufungskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Berufung. Der Berufungskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.

Ende der Entscheidung

Zurück