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Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 07.03.2003
Aktenzeichen: 10 S 323/03
Rechtsgebiete: FeV
Vorschriften:
FeV § 11 Abs. 7 | |
FeV § 46 Abs. 1 | |
FeV § 46 Abs. 3 | |
FeV Anlage 4 |
10 S 323/03
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
wegen
Entziehung der Fahrerlaubnis hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
hat der 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schlüter sowie die Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Rudisile und Dr. Hartung
am 07. März 2003
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20. Dezember 2002 - 3 K 5371/02 - geändert.
Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung des Landratsamtes Esslingen vom 04. Dezember 2002 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.000,- EUR festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergibt sich, dass abweichend von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Verfügung des Landratsamtes Esslingen vom 04.12.2002, mit der dem Antragsteller die Fahrerlaubnis Klasse B entzogen worden ist, dem Interesse des Antragstellers vorgeht, vom Vollzug dieser Verfügung vor einer endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben. Das besondere öffentliche Interesse an der - mit ausreichender schriftlicher Begründung (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO) angeordneten - sofortigen Vollziehung der Entziehungsverfügung wird durch die bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehende hohe Wahrscheinlichkeit begründet, dass dem Antragsteller die zum Führen eines Kraftfahrzeugs erforderliche körperliche und geistige Eignung fehlt und somit ernstlich zu befürchten ist, er werde bereits vor einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährden.
Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage der Auffassung, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Verfügung des Landratsamtes Esslingen vom 04.12.2002 keinen rechtlichen Bedenken begegnet. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis diese zu entziehen, wenn sich dieser als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen dürfte das Landratsamtes Esslingen zu Recht angenommen haben. Nach Nr. 9.2.2 i.V.m. Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung ist ein Kraftfahrer, der gelegentlich Cannabis einnimmt, im Regelfall als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn keine Trennung zwischen Konsum und Fahren erfolgt oder wenn zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen oder eine Störung der Persönlichkeit oder ein Kontrollverlust vorliegt. Gemessen hieran kann die Einschätzung des Landratsamtes Esslingen, der Antragsteller sei im Sinne von § 46 Abs. 1 FeV ungeeignet, nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen Prüfung nicht beanstandet werden.
Der Antragsteller dürfte zunächst zumindest als gelegentlicher Konsument von Cannabis im Sinne von Nr. 9.2.2. der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung einzustufen sein. Nach der auf Anregung des Verwaltungsgerichts vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers vom 19.12.2002, an deren Richtigkeit der Senat insoweit keine Zweifel hat, hat der Antragsteller in der Nacht vom 13. auf den 14.06.2002 einen Joint geraucht, d.h. Cannabis konsumiert. Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren ist der Senat der Ansicht, dass zur Klärung der Häufigkeit und des Zeitpunkts des Konsums von Cannabis durch den Antragsteller auch das vom Landratsamt erst am 20.01.2003 und damit nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts in Auftrag gegebene und am 27.01.2003 erstattete Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Tübingen heranzuziehen ist. Das Gesetz sieht nunmehr in § 146 VwGO bei einem Beschluss im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht mehr lediglich den Antrag auf Zulassung der Beschwerde, sondern unmittelbar die - auf die Prüfung der dargelegten Gründe beschränkte - Beschwerde vor. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts erfordert im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer dargelegten Gründe eine eigenständige Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit dem Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der Verfügung vorläufig verschont zu bleiben. In diese vom Beschwerdegericht vorzunehmende Abwägung sind aber sämtliche zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse zur Sachlage einzubeziehen und damit auch solche, die dem Verwaltungsgericht noch nicht bekannt waren. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss maßgeblich auf die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers vom 19.12.2002 abgestellt. Auch wenn in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht davon ausgegangen wird, ein Antragsteller könne in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO, vergleichbar der für die einstweilige Anordnung geltenden Rechtslage (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 und § 294 Abs. 1 ZPO), zur Bekräftigung seiner Sachverhaltsdarstellung eine eidesstattliche Versicherung abgeben (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 18.12.1999 - 11 S 3283/89 - VBlBW 1990, 179; in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80, Rn. 279), so schließt deren Vorlage, wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 294 Abs. 1 ZPO ergibt, die Heranziehung anderer Beweismittel durch das Gericht, hier die Verwertung eines von der Behörde in Auftrag gegebenen Gutachtens, zur Klärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht aus. Der Antragsteller hat die Richtigkeit des Gutachtens vom 27.01.2003, das ihm im Beschwerdeverfahren zugänglich gemacht worden ist, nicht in Frage gestellt. Nach dem nachvollziehbaren Gutachten vom 27.01.2003, dem der Senat größeres Gewicht beimisst als der durch die persönliche Interessenslage des Antragstellers geprägten eidesstattlichen Versicherung, muss dieser angesichts einer festgestellten Tetrahydrocannabinol-Plasmakonzentration von 4 ng/ml am Morgen des 16.06.2002 im Zeitraum von nur vier Stunden vor der um 9.00 Uhr erfolgten Blutentnahme, d.h. im Zeitraum von 5.00 Uhr bis zur Polizeikontrolle um 8.10 Uhr Cannabis konsumiert haben. Aus dem Gutachten ergibt sich zugleich, dass der Antragsteller nicht im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung zwischen dem Konsum von Cannabis und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennt. Denn nach dem Gutachten stand der Antragsteller am Morgen des 16.06.2002 unter akuter Cannabisbeeinflussung, die für eine Dauer von drei bis vier Stunden nach dem Konsum des Betäubungsmittels anhält. In diesem Zustand hat er ein Kraftfahrzeug im Verkehr geführt, bis um 8.10 Uhr im Rahmen einer Polizeikontrolle auf der Autobahn A 8 beim Antragsteller Auffälligkeiten festgestellt wurden, die auf einen Cannabiskonsum hindeuteten.
Der vom Verwaltungsgericht herangezogene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20.06.2002 (1 BvR 2062/96; im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 - 3 C 13.01 - NJW 2002, 78) befasst sich in erster Linie mit dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der Anforderung eines Gutachtens bei einmaligem oder gelegentlichem Konsum von Cannabis ohne Bezug zum Straßenverkehr. Eine solche Fallkonstellation ist aber hier gerade nicht gegeben. Denn der Antragsteller hat unter akuter Beeinflussung von Cannabis ein Kraftfahrzeug geführt. Aber auch das Bundesverfassungsgericht geht in dem genannten Beschluss (S. 19 des Abdrucks unter Berufung auf zahlreiche Gutachten; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994, BVerfGE 90, 145, 181) davon aus, dass die Fahrtüchtigkeit einer Person im akuten Cannabisrausch und während der Dauer einer mehrstündigen Abklingphase aufgehoben ist. Ferner nimmt das Bundesverfassungsgericht an, dass charakterlich-sittliche Mängel einen verfassungsrechtlich tragfähigen Anlass zur Entziehung der Fahrerlaubnis darstellen. Solche Mängel seien gegeben, wenn der Betroffene bereit sei, das Interesse der Allgemeinheit an sicherer und verkehrgerechter Fahrweise den jeweiligen eigenen Interessen unterzuordnen und hieraus resultierende Gefährdungen oder Beeinträchtigungen des Verkehrs in Kauf zu nehmen. Ausdruck eines Mangels dieser Art sei es, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber ungeachtet einer im Einzelfall anzunehmenden oder jedenfalls nicht auszuschließenden drogenkonsumbedingten Fahruntüchtigkeit nicht bereit sei, vom Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr abzusehen (unzureichende Trennungsbereitschaft; vgl. Beschluss vom 20.06.2002, S. 22 des Abdrucks).
Ausgehend von der bereits durch die unzureichende Trennungsbereitschaft belegten Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis unmittelbar entzogen und diesen nicht zunächst aufgefordert hat, ein Gutachten beizubringen. Denn § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 7 FeV bestimmt ausdrücklich, dass die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens unterbleibt, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest steht. Durch diese Bestimmung hat der Verordnungsgeber zu erkennen gegeben, dass eine Begutachtung nur bei Eignungszweifeln in Betracht kommt, nicht jedoch, wenn die mangelnde Eignung bereits fest steht und ohne Hinzuziehung eines Gutachters über sie entschieden werden kann (vgl. Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr und zur Änderung straßenrechtlicher Vorschriften, BR-Drucks. 443/98, S. 257).
Es besteht schließlich auch kein Anlass zur Abweichung von der Regel, dass in den Fällen gelegentlichen Konsums von Cannabis die Fahreignung nicht besteht, wenn der Betreffende nicht zwischen dem Konsum des Betäubungsmittels und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennt. Ausnahmen von dieser Regel sind grundsätzlich nur dann anzuerkennen, wenn in der Person des Betäubungsmittelkonsumenten Besonderheiten bestehen, die darauf schließen lassen, dass sein Vermögen, zwischen dem Konsum von Betäubungsmitteln und der Teilnahme am Straßenverkehr zuverlässig zu trennen, nicht erheblich herabgesetzt ist. In Betracht kommen hier Kompensationen der Wirkungen des Betäubungsmittelkonsums durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen (vgl. Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung). Im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren obliegt es grundsätzlich dem Fahrerlaubnisinhaber, das Bestehen solcher atypischen Umstände in seiner Person substantiiert darzulegen (vgl. Beschl. des Senats v. 24.05.2002 - 10 S 835/02 - VBlBW 2003, 23 = NZV 2002, 475). Solche Umstände sind aber vom Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht substantiiert dargelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 25 Abs. 2, § 14 Abs. 1 sowie § 20 Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 GKG.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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