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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 11.02.2005
Aktenzeichen: 11 S 1170/04
Rechtsgebiete: VwGO, AuslG


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4
VwGO § 80 Abs. 5
AuslG § 42 Abs. 2 Satz 2 ( = AufenthG § 58 Abs. 2 Satz 2)
AuslG § 43 Abs. 1 Nr.4 ( = AufenthG § 52 Abs. 1 Nr. 4)
AuslG § 72 Abs. 1 ( = AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1
AuslG § 72 Abs. 2 Satz 1 ( = AufenthG § 84 Abs. 2 Satz 1)
Das öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs einer Aufenthaltserlaubnis nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG ( = § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) muss über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Widerrufsentscheidung - ebenso wie die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer Aufenthaltsgenehmigung nach 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG - ungeachtet der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs wirksam bleibt (§ 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG = § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und schon dadurch ihren zuwanderungsbegrenzenden Zweck (Verhinderung weiterer rechtserheblicher Integration) weitgehend erfüllt (im Anschluss an VGH Bad.- Württ., Beschluss vom 13.3.1997 - 13 S 1132/96 -, VBlBW 1997, 390)
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 1170/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Widerruf von Aufenthaltserlaubnissen, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden - Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Vondung und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Albrecht

am 11. Februar 2005

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 31. März 2004 - 2 K 451/04 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren und - unter Änderung von Amts wegen - für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht wird auf jeweils 16.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die fristgerecht erhobene und begründete sowie inhaltlich den Darlegungserfordernissen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den - ihrerseits zulässigen - Anträgen der Antragsteller (serbisch-montenegrinische Staatsangehörige - Mutter und 3 Kinder - albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo) zu Recht stattgegeben und die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche bzw. - jetzt - ihrer Klagen (2 K 1041/04) gegen den Widerruf ihrer unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG und die Abschiebungsandrohungen im Bescheid des Landratsamts Bodenseekreis vom 16.1.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Tübingen vom 22.4.2004 wiederhergestellt bzw. angeordnet.

1. Auch nach Auffassung des Senats gebührt dem Interesse der Antragsteller an der den gesetzlichen Regelfall bildenden aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Widerruf ihrer asylbedingt nach § 68 AsylVfG a.F. erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse daran, dass sie infolge der sofortigen Vollziehung das Bundesgebiet sofort verlassen müssen.

1.1 Das erforderliche und in den Regelfällen des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Widerrufsentscheidung ist gegenwärtig nicht gegeben. Dieses Interesse muss bei belastenden Verwaltungsakten, die durch Beendigung eines Aufenthaltsrechts gravierend in Schicksal und Lebensplanung von Ausländern eingreifen, über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. 7.1973 - 1 BvR 23/73 - und - 1 BvR 155/73 -, BVerfGE 35, 382 und Kammerbeschluss vom 25.1.1995 - 2 BvR 1179/95 -, InfAuslR 1995, 397 - zur Ausweisung -) und konkret festgestellt werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 13.3.1997 - 13 S 1132/96 -, VBlBW 1997, 390 = InfAuslR 1997, 358). Zu dieser Kategorie aufenthaltsbeendender Verwaltungsakte gehört auch der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 43 Abs. 1 AuslG. Diese Regelung ist in ihren belastenden Wirkungen mit einer nachträglichen zeitlichen Beschränkung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG bzw. mit der nachträglichen Fristverkürzung eines Aufenthaltstitels nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vergleichbar, so dass auf die zur Qualität des Sofortvollzugsinteresses bei Entscheidungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG ergangene Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshof zurückgegriffen werden kann. Auch strukturell haben beide Regelungen Wesentliches gemeinsam. Auch beim Widerruf ergibt sich die Dringlichkeit einer Vollziehung nicht schon daraus, dass diese Maßnahme ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung von vornherein ihren Zweck verfehlt. Denn sie ist, wie die nachträgliche Befristung, kein Instrument zur Gefahrenabwehr, sondern bringt das den aufenthaltsrechtlichen Regelungen des Ausländer- wie des Aufenthaltsgesetzes zugrunde liegende allgemeine öffentliche Interesse an der Begrenzung der Zuwanderung von Ausländern zur Geltung, die die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht (mehr) erfüllen. Dieser Zweck wird indessen weitgehend auch trotz der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs erfüllt. Denn die Wirksamkeit des den rechtmäßigen Aufenthalt beendenden Widerrufs wird durch Widerspruch und Klage nicht berührt, unbeachtet deren aufschiebender Wirkung (vgl. § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG; ebenso § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse der Antragsteller sind daher seit der Zustellung der Widerrufsverfügung vom 16.1.2004 auch ohne Anordnung der sofortigen Vollziehung wirksam beendet (§ 43 Abs. 1 und 2 LVwVfG i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 AuslG ; ebenso nach neuem Recht: § 51 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) und die Antragsteller sind seither nach § 42 Abs. 1 AuslG (= § 50 Abs. 1 AufenthG) zur Ausreise verpflichtet. Eine aufenthaltsrechtlich unerwünschte rechtliche Verfestigung des weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet könnte daher - ebenso wie bei der nachträglichen Befristung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG - ungeachtet der aufschiebenden Wirkung nicht eintreten (vgl. zu all dem VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 13.3.1997 a.a.O; zur Abhängigkeit rechtlich schutzwürdiger Integration von rechtmäßigem Aufenthalt vgl. auch Beschluss vom 25.9.2003 - 11 S 1795/03 -, AuAS 2004, 27 = InfAuslR 2004, 70). Dass die Ausreisepflicht bei Anfechtung der Widerrufsentscheidung wegen § 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG (= § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Regelfall nicht vollziehbar und die Verlassenspflicht damit nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar ist, hat der Gesetzgeber hingenommen; dies zeigt ein Vergleich mit der Regelung bei Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung eines Antrags auf eine Aufenthaltsgenehmigung/einen Aufenthaltstitel, wo Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 72 Abs. 1 AuslG [ebenso § 84 Abs. 1 Nr.1 AufenthG] i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO; zu diesem Gesichtspunkt ausführlich auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 13.3.1997 a.a.O.).

1.2. Aus dem dargelegten Regelungsgefüge folgt, dass es vorliegend eines über die (selbst offensichtliche) Rechtmäßigkeit des Widerrufs hinausgehenden sonstigen Sofortvollzugsinteresses bedarf, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraussetzt (noch strenger - Erfordernis "unabweisbaren" Handlungsbedarfs -, vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.6.1991 - 11 S 1229/91 -, InfAuslR 1992, 6 ff., zum besonderen Sofortvollzugsinteresse bei der nachträglichen Befristung der Aufenthaltserlaubnis vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.1.1996 - 2 BvR 2718/95 -, AuAS 1996, 62). Ein derartiges Interesse an der sofortigen Ausreise der Antragsteller vermag der Senat gegenwärtig nicht zu erkennen. Die Antragsteller sind nicht straffällig geworden, sondern leben sozial angepasst und unauffällig. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Zeitraum bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung besteht daher ersichtlich nicht. Mit dieser Entscheidung ist - dem Gebot möglichster Beschleunigung gehorchend (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.1.1996 a.a.O.) - noch in diesem Jahr zu rechnen, nachdem der Berichterstatter beim Verwaltungsgericht telefonisch eine mündliche Verhandlung noch im ersten Halbjahr in Aussicht gestellt hat. Innerhalb dieses zeitlich engen Rahmens dürfte aller Voraussicht nach auch mit einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage des Ehemanns und Vaters der Antragsteller auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis (bzw. - in deren Fortsetzung - auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz) zu rechnen sein. Der Senat beabsichtigt zudem, die in dieser Sache zugelassene Berufung (11 S 924/04) alsbald zu terminieren und hierbei die Möglichkeiten für eine vergleichsweise Regelung des weiteren Aufenthaltsstatus der Familie der Antragsteller auszuloten. Ein besonderes Bedürfnis, dass die Antragsteller bis zur zeitlich absehbaren Entscheidung in diesen für ihr weiteres Schicksal bedeutsamen Verfahren das Bundesgebiet verlassen müssen, ist derzeit nicht ersichtlich. Dieses Bedürfnis lässt sich auch nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen herleiten. Denn die Antragstellerin zu 1 ist als Reinigungskraft berufstätig und wird wohl ab April zusätzlich wieder saisonal im Hotelgewerbe arbeiten. Ferner erscheint es aufgrund seiner bisherigen beruflichen Biografie durchaus möglich, dass auch der Ehemann und Vater der Antragsteller wieder eine Beschäftigung findet und daher der Lebensunterhalt der Familie (zuzüglich Kindergeld) weitgehend aus Eigenmitteln gesichert werden kann. Auch generalpräventive Erwägungen (Gewährleistung einer durchgehenden Behördenpraxis im Sinne schneller Aufenthaltsbeendigung nach Widerruf asylbezogener Aufenthaltstitel zur Verhinderung unerwünschter Einwanderung) rechtfertigen die sofortige Vollziehung der Widerrufsentscheidung nicht, nachdem - zum einen - die Zuwanderung hierfür geeigneter Ausländer nach der ab dem 1.1.2005 geltenden Rechtslage im öffentlichen Interesse partiell erleichtert werden soll und - zum anderen - der Antragsgegner nach Aktenlage wohl auch selbst nicht beabsichtigt, die Antragsteller in nächster Zeit abzuschieben.

1.3 Auf die Erfolgsaussicht der Klage gegen die Widerrufsverfügung kommt es nach all dem im Beschwerdeverfahren nicht entscheidend an. Der Senat kann daher offen lassen, ob die vom Verwaltungsgericht beanstandeten Ermessensfehler durch den Widerspruchsbescheid vollständig behoben worden sind, ob der Antragsgegner durchweg von zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Prämissen ausgegangen ist und ob sich der Widerruf letztlich als verhältnismäßig erweist. Diese Prüfung wird im Hauptsacheverfahren im Einzelnen vorzunehmen sein. Derzeit lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass die Widerrufsentscheidung offensichtlich rechtmäßig ist.

2. Haben die Rechtsmittel der Antragsteller gegenüber der Widerrufsentscheidung aufschiebende Wirkung, so ist auch gegenüber der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung anzuordnen. Zwar erfordert die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht, dass der Ausländer (neben der Ausreisepflicht nach § 42 Abs.1 AuslG/ § 50 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) vollziehbar ausreisepflichtig ist (vgl. Urteil des Senats vom 29.4.2003 - 11 S 1188/02 -, VBlBW 2003, 445 = InfAuslR 2003, 342). Jedoch wird die Ausreisefrist unterbrochen, wenn die Vollziehbarkeit der Ausreispflicht oder der Androhung entfällt (§ 50 Abs. 4 Satz 1 AuslG = § 50 Abs. 3 AufenthG). Darüber hinaus führt die Nichtvollziehbarkeit der Grundverfügung dazu, dass die Abschiebungsandrohung schlechthin, insbesondere auch die Festsetzung des Zielstaats, vorläufig keine "innere" (materielle) Wirksamkeit entfalten kann. (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 9.3.2004 - 11 S 1518/03 - m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 25 Abs. 2, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 GKG a.F, 5 ZPO entsprechend in Verbindung mit § 72 Nr. 1, 2. Halbsatz GKG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes v. 5.5.2004 (BGBl I, S. 718ff.). Dabei war je Antragsteller der volle Auffangstreitwert von 4.000,-- EUR anzusetzen, da es um den Verlust eines Aufenthaltsrechts geht. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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